XVI. Der Abschied vom neuen Festlande.

[157] Jetzt erübrigte es nur noch, den verabredeten Plan zur Ausführung zu bringen.

Genau betrachtet, gewährte dieser Plan viele Aussichten auf Erfolg. Da die Zufälligkeiten ihres Wanderlebens die Familie Cascabel durch Rußland und noch dazu gerade durch das Gouvernement Perm führten, so konnte Graf Sergius Narkine wirklich nichts besseres thun, als sich ihnen anzuschließen.

Wer sollte ahnen, daß der politisch Verurteilte, der aus Jakutsk Entflohene, sich unter den Genossen einer Gauklerbande befinde? Wenn keine Indiskretion begangen wurde, so war der Erfolg sicher; und wenn er einmal in Perm war und den Fürsten Wassili Narkine wiedergesehen hatte, so würde Herr Sergius seinen Interessen entsprechend handeln. Wenn er über Asien hinaus kam, ohne irgend eine Spur zu hinterlassen, deren die Polizei sich bedienen konnte, so würde er einen den Umständen entsprechenden Entschluß fassen.

Sollte er wider alle Wahrscheinlichkeit auf seiner Reise durch Sibirien erkannt werden, so konnte das allerdings schreckliche Folgen für ihn und auch für die Familie nach sich ziehen. Indessen wollte weder Herr Cascabel noch seine Frau dieser Gefahr Rech nung tragen. und wenn sie ihre Kinder darüber befragt hätten, so würden diese ihr Vorgehen gebilligt haben. Aber das Geheimnis des Grafen Narkine sollte streng bewahrt werden; es war einfach Herr Sergius, der auch fernerhin ihr Reisegefährte sein wollte.

Später würde Graf Narkine die Ergebenheit dieser ehrlichen Franzosen gewiß anerkennen, wenngleich Herr Cascabel keinen anderen Lohn wollte als das Vergnügen, ihn verpflichtet und dabei die moskowitische Polizei genasführt zu haben.

Unglücklicherweise war, was keiner von ihnen ahnte, ihr Plan von Anbeginn ernstlich gefährdet. Sobald sie die andere Küste der Meerenge erreichten,[157] würden sie unfehlbar den größten Gefahren ausgesetzt sein und von den russischen Beamten Sibiriens arretiert werden.

In der That, schon an dem Tage, nachdem jener Plan gefaßt worden war, besprachen sich zwei Männer miteinander, welche am äußersten Ende des Hafens, wo niemand ihr Gespräch belauschen konnte, spazieren gingen.

Es waren jene beiden bereits erwähnten Polizeibeamten, welche die Anwesenheit des Herrn Sergius unter den Insassen der Belle-Roulotte überrascht und neugierig gemacht hatte.

Seit mehreren Jahren in Sitka lebend und mit der Überwachung. der Provinz in politischer Hinsicht betraut, bestand ihre Mission bekanntlich darin, die Bewegungen der Geflüchteten an der kolumbischen Grenze zu beobachten, dem Gouverneur von Alaska darüber zu berichten und die Arretierung derer, welche sich auf russisches Gebiet wagten, zu bewerkstelligen. Das Bedenklichste dabei war, daß sie zwar den Grafen Narkine nicht persönlich kannten, sich aber im Besitze seiner Personalbeschreibung befanden, welche ihnen nach seiner Entweichung aus der Citadelle von Jakutsk zugestellt worden war. Als die Familie Cascabel in Port-Clarence anlangte, waren sie sehr erstaunt über die Erscheinung dieses Russen gewesen, der weder die Haltung noch die Manieren eines Jahrmarktskünstlers hatte. Was hatte er bei dieser Gauklerbande zu suchen, die von Sakramento kommend, eine so seltsame Reiseroute verfolgte, um nach Europa zurückzukehren?

Ihr Verdacht wurde rege und sie erkundigten sich, sie beobachteten – geschickt genug, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; – sie verglichen Herrn Sergius mit der Personalbeschreibung des Grafen Narkine, und ihre Ahnung wurde zur Gewißheit.

»Ja! es ist wirklich Graf Narkine!« sagte einer von ihnen., Offenbar trieb er sich an der Grenze von Alaska herum, der Vollziehung der Annexion harrend, als er jener Marktschreierfamilie begegnete, die ihm zu Hilfe kam und mit der er sich jetzt anschickt, nach Sibirien hinüber zu gehen!«

Die Annahme war richtig, und wenn Herr Sergius auch anfangs nicht die Absicht gehabt hatte, sich über Port-Clarence hinaus zu wagen, so verspürten die beiden Beamten doch kein Erstaunen, als sie erfuhren, daß er sich zu der Reise nach Sibirien entschlossen habe.

»Das ist eine gute Chance für uns!« meinte der Beamte. »Der Graf hätte hier, nämlich auf amerikanischem Gebiete, bleiben können, und wir hätten nicht das Recht gehabt ihn zu arretieren...«

»Während er, sowie er den Fuß auf die jenseitige Küste der Meerenge setzt,« fuhr der erstere fort »auf russischem Boden steht und uns nicht mehr entgehen kann; denn wir werden auf seinen Empfang vorbereitet sein!...«[158]

»Es ist eine Arretierung, die uns Ehre und Vorteil bringen wird!« versetzte der zweite Beamte. »Welch ein Meisterstreich bei unserer Heimkehr!...« Aber wie fangen wir die Sache an

»Nichts einfacher als das! Die Familie Cascabel wird baldmöglichst aufbrechen; und da sie den kürzesten Weg einschlagen wird, so ist es kein Zweifel, daß sie sich nach dem Hafen von Numana begiebt. Nun, wir werden[159] dort vor oder zugleich mit dem Grafen Narkine eintreffen und brauchen dann nur mehr Hand an ihn zu legen.«

»Wohl, aber ich möchtelieber vor ihm in Numana sein, um die Küstenpolizei zu verständigen, damit sie uns nötigenfalls bewaffneten Beistand leiste!«


Zwei Männer unterhielten sich am Ende des Hafens. (Seite 158)
Zwei Männer unterhielten sich am Ende des Hafens. (Seite 158)

»Das werden wir thun, wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse dazwischen kommen,« versetzte der erste Beamte. »Jene Gaukler werden warten müssen, bis das Eis stark genug ist, um ihren Wagen zu tragen; somit wird es uns leicht sein, ihnen einen Vorsprung abzugewinnen. Bleiben wir also in Port-Clarence und fahren wir fort, den Grafen Narkine zu beobachten, ohne seinen Verdacht zu erregen. Wenn er den aus Alaska heimkehrenden russischen Beamten auch nicht trauen mag, so kann er doch nicht vermuten, daß wir ihn erkannt haben. Er wird die Reise antreten; wir arretieren ihn in Numana und brauchen ihn dann nur mehr unter sicherer Bedeckung nach Petropawlowsk oder Jakutsk zu bringen...«

Und wenn jene Marktschreier ihn verteidigen wollten...« bemerkte der zweite Beamte.

»Es würde sie teuer zu stehen kommen, die Heimkehr eines politischen Flüchtlings nach Rußland begünstigt zu haben!«

Dieser sehr einfach entworfene Plan mußte gelingen, da Graf Narkine nicht wußte, daß man ihn erkannt habe, und da die Familie Cascabel nicht wußte, daß sie ein Gegenstand spezieller Überwachung geworden. So lief denn diese so glücklich begonnene Reise Gefahr, ein schlechtes Ende für Herrn Sergius und seine Gefährten zu nehmen.

Und während dieser Anschlag ersonnen wurde, waren alle von dem Gedanken erfüllt, daß sie sich nicht trennen, daß sie zusammen nach Rußland ziehen sollten. Welche Freude besonders Jean und Kayette darüber empfanden!

Selbstverständlich behielten die beiden Polizeibeamten das Geheimnis, das sie auszubeuten gedachten, für sich. In Port-Clarence ahnte niemand, daß sich eine so bedeutende Persönlichkeit, wie Graf Sergius Narkine unter den Insassen der Belle-Roulotte befinde.

Es war noch immer schwer, den Tag der Abreise festzusetzen. Man beobachtete mit außerordentlicher Ungeduld die Schwankungen der wahrhaft anormalen Temperatur, und Herr Cascabel erklärte, daß er sich noch nie so lebhaft nach einem unbarmherzigen Froste gesehnt habe.

Zudem war es von Wichtigkeit, die andere Seite der Meerenge vor Anbruch des tiefen Winters zu erreichen. Da er nicht vor den ersten Wochen des November seine volle Strenge entfalten würde, blieb der Belle-Roulotte voraussichtlich Zeit, die südlichen Gegenden Sibiriens zu erreichen. Dort würde man in irgend einem Flecken die günstige Jahreszeit abwarten, um den Weg nach dem Uralgebirge einzuschlagen.[160]

Auf diese Weise würden Vermout und Gladiator ohne allzu große Anstrengung die Fahrt durch die Steppe bewältigen können. Die Familie Cascabel würde rechtzeitig eintreffen, um sich im Juli des kommenden Jahres an der Messe von Perm zu beteiligen.

Und noch immer trieben die Eisschollen unter der Einwirkung der warmen Strömung aus dem Stillen Ocean gegen Norden! Noch immer glitt eine Flottille von Eisbergen zwischen den Ufern der Meerenge dahin, statt ein unbewegliches und festes Eisfeld zu bilden!

Indessen konstatierte man am dreizehnten Oktober, daß das Eis langsamer trieb. Sehr wahrscheinlich hatte der Stoß sich weiter nordwärts gestaut und hielt die nachdrängenden Schollen auf. In der That erschien am äußersten Horizont eine ununterbrochene Linie von weißen Spitzen, welche auf das vollständige Zufrieren des Polarmeeres schließen ließ. Der fahle Wiederschein der Eisfläche erfüllte den Luftraum, und die völlige Festigung stand nahe bevor.

Unterdessen fragten Herr Sergius und Jean die Fischer von Port-Clarence um Rat. Schon mehrmals hatten beide geglaubt, daß man den Übergang versuchen könne; aber die Seeleute, die »ihre Meerenge gründlich kannten«, rieten zur Geduld.

»Übereilen Sie sich nicht,« sagten sie. »Lassen Sie die Kälte ihre Arbeit thun!... Sie ist noch nicht stark genug gewesen, um ein Eisfeld herzustellen!... Und selbst wenn das Meer auf dieser Seite der Meerenge zufröre, so würde doch nichts beweisen, daß es auch drüben so sei, besonders in der Umgebung der Insel Diomedes!«

Und der Rat war weise.

»Der Winter ist dieses Jahr nicht voreilig!« bemerkte Herr Sergius eines Tages gegen einen alten Fischer.

»Ja, er verspätet sich,« antwortet dieser. »Um so mehr Grund, sich nicht hinauszuwagen, bevor Sie der Möglichkeit des Überganges gewiß sind. Überdies ist Ihr Wagen schwerer als ein Fußgänger und bedarf einer festeren Straße. Warten Sie, bis ein tüchtiger Schneefall die Eisschollen gleichmäßig deckt; dann können Sie wie auf einer Landstraße darüber hinfahren. Auf diese Weise werden Sie die verlorene Zeit bald einbringen und sich nicht der Gefahr aussetzen, inmitten der Meerenge stecken zu bleiben.«

Diesen, von praktischen Leuten kommenden Vernunftgründen mußte man sich gewiß fügen, Herr Sergius bemühte sich denn auch, Herrn Cascabel zu beruhigen, der von der ganzen Truppe am meisten Ungeduld verriet. Das Wichtigste blieb doch immerhin, die Reise und die Reisenden nicht durch allzu große Eile zu gefährden.

»Hören Sie,« sagte er ihm, »ein wenig Geduld! Ihre Belle-Roulotte[161] ist kein Boot; wenn sie in einen Eisbruch hineingeriete, so würde sie mit Mann und Maus zu Grunde gehen. Die Familie Cascabel hat es nicht nötig, ihren Ruf durch einen Untergang in den Wassern der Beringstraße zu vergrößern!«

»Und würde er dadurch vergrößert werden?« antwortete der ruhmreiche Cäsar lächelnd.

Zum Überflusse erhob auch Cornelia Einspruch gegen irgend welche Unbesonnenheit.

»Ei! wir haben Ihretwegen Eile, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel.

»Wohl, aber ich habe keine Ihrethalben!« antwortete Graf Narkine.

Trotz der allgemeinen Ungeduld fanden Jean und Kayette die Tage nicht zu lang. Jean fuhr fort, Kayette zu unterrichten. Sie verstand und sprach französisch bereits mit Leichtigkeit. Es fiel ihnen nicht mehr schwer, sich miteinander zu verständigen. Und dann fühlte Kayette sich auch so glücklich inmitten dieser Familie, so glücklich bei Jean, der sie mit so vieler Sorgfalt umgab! Herr und Frau Cascabel hätten geradezu blind sein müssen, um nicht zu erkennen, welches Gefühl sie ihrem Sohne einflößte. Sie begannen auch wirklich, sich zu beunruhigen. Sie wußten, was Herr Sergius war und was Kayette eines Tages sein würde. Sie war nicht mehr die arme Indianerin, die irgend einen Dienst in Sitka suchen ging; sie war die Adoptivtochter des Grafen Narkine. Und Jean ging großem zukünftigen Kummer entgegen!

»Schließlich,« sagte Herr Cascabel, »hat Herr Sergius seine Augen; er sieht, was da vorgeht. Nun, und wenn er nichts sagt, Cornelia, so haben wir auch nichts zu sagen.«

Eines Abends fragte Jean das junge Mädchen:

»Bist du's zufrieden, kleine Kayette, nach Europa zu gehen?«

»Nach Europa?... Ja!...« antwortete sie. »Aber es wäre mir noch viel lieber, wenn ich nach Frankreich ginge!«

»Du hast recht!... Unser Land ist ein schönes und ein gutes Land! Wenn es je deine Heimat werden könnte, so würdest du dich darin wohl fühlen...«

»Ich würde mich überall wohl fühlen, wo deine Familie wäre, Jean, und es ist mein größter Wunsch, euch niemals zu verlassen!«

»Teure, kleine Kayette!«

»Ist es sehr weit nach Frankreich?«

»Alles ist weit, Kayette, besonders wenn man Eile hat, hinzukommen! Aber wir werden es schon erreichen... vielleicht zu früh...«

»Warum das, Jean?«

»Weil du bei Herrn Sergius in Rußland bleiben wirst!... Wenn wir uns hier nicht trennen, so werden wir uns dort trennen müssen!... Herr[162] Sergius wird dich bei sich behalten, kleine Kayette!«... Er wird ein schönes Fräulein aus dir machen... und wir werden dich nicht mehr sehen!«

»Warum sagst du das, Jean?... Herr Sergius ist gut und erkenntlich!... Nicht ich habe ihn gerettet, sondern ihr, ihr allein!... Was hätte ich für ihn thun können, wenn ihr nicht dagewesen wäret!... Wenn er lebt, so verdankt er das deiner Mutter, euch allen!... Meinst du, Herr Sergius könne[163] das vergessen?«... Warum, Jean, warum willst du glauben, daß wir uns auf ewig trennen müßten?«


Jean hatte Kayettens Hand erfaßt.(Seite 164.)
Jean hatte Kayettens Hand erfaßt.(Seite 164.)

»Kleine Kayette... ich will es nicht!« antwortete Jean, der seine Bewegung nicht bemeistern konnte. »Aber... ich fürchte es!... Dich nicht mehr sehen, Kayette!... wenn du wüßtest, wie unglücklich ich sein würde!... Und dann, es ist nicht nur, daß ich dich sehen möchte!... Ach! warum kann meine Familie dir nicht genügen, wo du doch keine eigenen Verwandten mehr hast!... Meine Eltern lieben dich so sehr...«

»Nicht inniger, als ich sie liebe, Jean!«

»Und meine Geschwister ebenfalls!... Ich hatte gehofft, daß sie dir Bruder und Schwester sein würden!«

»Sie werden es immer sein... Und du, Jean?...«

»Ich... ich auch... kleine Kayette... Ja!... ein Bruder... aber ergebener... liebevoller!...«

Jean ging nicht weiter. Er hatte Kayettens Hand ergriffen, er drückte sie... dann entfloh er, um nicht mehr zu sagen. Kayette war sehr bewegt; sie fühlte ihr Herz heftig pochen und ihre Augen feucht werden.

Man schrieb den fünfzehnten Oktober, als die Seeleute von Port-Clarence Herrn Sergius benachrichtigten, daß er sich zum Aufbruch rüsten könne. Die Kälte war seit einigen Tagen sehr stark geworden. Die Temperatur stieg jetzt durchschnittlich nicht über zehn Grad Celsius unter Null. Das Eisfeld schien absolut unbeweglich. Man hörte nicht einmal mehr jenes bedeutsame Krachen, welches öfter entsteht, wenn das Eis noch nicht vollständig ineinander gefroren ist

Wahrscheinlich würde man bald einige jener asiatischen Eingeborenen eintreffen sehen, welche während des Winters über die Meerenge kommen und eine Art Handelsverbindung zwischen Numana und Port-Clarence herstellen. Es ist dies sogar eine manchmal sehr besuchte Straße. Nicht selten fahren mit Hunden oder Renntieren bespannte Schlitten von einem Festlande zum anderen, indem sie die zwanzig Meilen betragende Entfernung zwischen den nächstgelegenen Punkten der Meerenge in zwei bis drei Tagen zurücklegen. Es befindet sich dort also ein natürlicher Verkehrsweg, der zu Anfang des Winters eröffnet und zu Ende desselben verschlossen wird, also über sechs Monate lang benützbar ist. Nur darf man ihn weder zu früh, noch zu spät betreten, wenn man den furchtbaren Katastrophen entgehen will, welche ein Eisbruch mit sich bringen würde.

Im Hinblick auf die Reise durch Sibirien bis zu dem von der Belle-Roulotte aufzusuchenden Winterquartier, hatte Herr Sergius verschiedene unentbehrliche Gegenstände angeschafft, unter anderem mehrere Paar jener Schneeschuhe, welche den Eingeborenen die schnelle Bewegung auf großen[164] Eisflächen ermöglichen. Es bedurfte keiner langen Lehrzeit, um Gauklerkinder im Gebrauche derselben zu unterrichten. Indem sie sich auf den zugefrorenen Buchten längs des Strandes übten, waren Jean und Xander binnen wenigen Tage geschickte, »Schneeschuhläufer« geworden.

Herr Sergius hatte auch den im Fort Youkon gekauften Pelzvorrat vervollständigt.


Sie hatten endgültig die amerikanische Küste verlassen. (Seite 167.)
Sie hatten endgültig die amerikanische Küste verlassen. (Seite 167.)

Es handelte sich nicht nur darum, sich durch Anlegen warmer Pelzkleider vor der Kälte zu schützen, man mußte auch die Abteilungen im Innern der Belle-Roulotte mit Pelzwerk ausstaffieren, Lagerstätten,[165] Wände und Fußboden damit bedecken, um die vom Küchenofen entwickelte Wärme darin zu erhalten. Übrigens, wie mehrfach erwähnt, gedachte Herr Cascabel, sobald die Meerenge überschritten sein würde, die strengsten Wintermonate in einem jener Marktflecken zuzubringen, an welchen in den südlichen Distrikten Südsibiriens kein Mangel ist.

Endlich wurde die Abreise für den einundzwanzigsten Oktober anberaumt. Seit vierundzwanzig Stunden hatte der sehr nebelige Himmel sich in Schnee aufgelöst. Eine dicke weiße Schneeschicht machte das weite Eisfeld zur einförmigen Fläche. Die Fischer von Port-Clarence erklärten, daß die Festigung sich von Ufer zu Ufer erstrecken müsse.

Übrigens ward dies bald zur vollen Gewißheit. Mehrere Handelsleute trafen aus der Hafenstadt Numana ein, und ihre Reise war ohne Hindernisse und ohne Gefahren von statten gegangen.

Am neunzehnten erfuhr Herr Sergius, daß zwei von den in Port-Clarence harrenden russischen Polizeibeamten ihren Übergang nach der sibirischen Küste nicht länger aufschieben gewollt. Sie seien an jenem Morgen aufgebrochen, mit der Absicht, auf der Insel Diomedes Rast zu halten und Numana am zweitfolgenden Tage zu erreichen.

Was Herrn Cascabel zu der Betrachtung veranlaßte:

»Die Kerle scheinen es noch eiliger zu haben als wir. Was Teufel, sie hätten schon warten können, wir hätten sie gern mitgenommen!«

Dann sagte er sich aber, daß die Beamten ohne Zweifel gefürchtet hätten, durch die Belle-Roulotte aufgehalten zu werden, die in jener Schneeschichte nicht schnell vorwärts kommen konnte.

In der That, obgleich Vermout und Gladiator scharf beschlagen worden waren, würde das schwere Gefährt mehrerer Tage bedürfen, um die jenseitige Küste zu gewinnen, um so mehr, da man auf der Insel Diomedes Rast halten mußte.

In Wahrheit hatten die beiden Beamten dem Grafen Narkine zuvorkommen wollen, um alle nötigen Maßregeln zu seiner Arretierung zu treffen.

Man beschloß, die Reise bei Sonnenaufgang anzutreten. Man mußte die wenigen lichten Stunden benützen, welche die Sonne noch gab. In sechs Wochen, um die Sonnenwende des einundzwanzigsten Dezember, würde ewige Nacht jene unter dem Polarkreise liegenden Gegenden einhüllen.

Am Vorabend der Abreise versammelte ein von Herrn und Frau Cascabel in einem wohl verschlossenen und zu diesem Feste hergerichteten Schuppen gegebener »Thee« die Notabeln von Port-Clarence, Beamte und Fischer sowohl,[166] als auch einige Oberhäupter von Eskimo-Familien, die sich für die Reisenden interessierten. Die Versammlung war sehr fröhlich und Clou-de-Girofle erheiterte sie durch die drolligsten Pantomimen seines Repertoires. Cornelia hatte heißen Punsch gebraut, an dem sie zwar mit Zucker, aber nicht mit Branntwein gespart hatte. Dieses Getränk mundete den Gästen um so besser, als sie auf dem Heimwege dem heftigsten Froste ausgesetzt sein würden – einem jener Fröste, welche in gewissen Nächten von der äußersten Grenze des Sternenraumes herüberzuziehen scheinen.

Die Amerikaner brachten ein Hoch auf Frankreich, die Franzosen ein Hoch auf Amerika aus. Dann trennte man sich mit herzlichem Händeschütteln.

Am folgenden Morgen um acht Uhr wurden die Pferde eingespannt. Der Affe John Bull hatte in dem Hängekorbe Platz genommen, wo er bis an die Schnauze im Pelzwerk vergraben lag, während Wagram und Marengo lustig um die Belle-Roulotte herumsprangen. Cornelia, Napoleone und Kayette hatten sich hermetisch ins Innere des Wagens eingeschlossen, um ihren gewohnten, Beschäftigungen der Haushaltung, der Heizung des Ofens, der Zubereitung der Mahlzeiten obzuliegen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou, die einen an der Spitze des Zuges marschierend, die andern als Pfadfinder vorauseilend, sollten über die Sicherheit des Fuhrwerks wachen, indem sie gefährlichen Stellen auswichen.

Endlich wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben und im selben Augenblick erschollen die Hurra-Rufe der Bevölkerung von Port-Clarence.

Gleich darauf knirschten die Räder der Belle-Roulotte auf der Schneedecke des Eisfeldes.

Herr Sergius und die Familie Cascabel hatten den amerikanischen Boden für immer verlassen.[167]

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 157-168.
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