VII. Durch den Kariboo.

[60] Wackerer Cascabel! Warum hattest du den Teil von Britisch-Kolumbia, der jetzt vor dir offen lag, nicht einige Jahre früher aufgesucht! Warum hatten die Wechselfälle deines Wanderlebens dich nicht dahin geführt, als der Boden noch voller Gold war und man sich nur zu bücken brauchte, um es aufzulesen! Warum bezog die Schilderung, die Jean seinem Vater von jener merkwürdigen Periode machte, sich nur auf die Vergangenheit und nicht auf die Gegenwart![60]

»Das ist der Kariboo, Vater,« sagte Jean an jenem Tage; aber vielleicht weißt du nicht, was der Kariboo ist?«

»Ich habe keine Ahnung davon,« antwortete Herr Cascabel. »Ist es ein zwei- oder vierfüßiges Tier?«

»Ein Tier?« rief Napoleone. »Ist es groß?... Ist es böse?... Beißt es?...«

»Es ist kein Tier,« entgegnete Jean, »sondern ganz einfach eine Gegend, die diesen Namen trägt, das Goldland, das Eldorado Kolumbias. Welche Schätze es enthalten, wie viele Menschen es bereichert hat!...«

»Während es andere zu Grunde richtete, wie?« warf Herr Cascabel ein.

»Gewiß, Vater; ich will sogar hinzufügen, daß die letzteren in der Mehrheit waren. Und doch gab es Goldgräberverbände, welche täglich bis zu zweitausend Mark Goldes gewannen. In einem gewissen Thale des Kariboo, dem William-Creek, wühlte man förmlich im Gold!«

Aber so bedeutend der Ertrag jenes goldreichen Thales auch gewesen, es waren zu viele Menschen zu seiner Ausbeutung herbeigeströmt. Durch die Schwärme von Goldsuchern und das sie begleitende Gesindel wurde das Leben dort außerordentlich schwierig, gar nicht zu reden von der ungeheuren Verteuerung aller Dinge. Die Preise der Nahrungsmittel waren horrend; das Brot kostete einen Dollar per Pfund. Ansteckende Krankheiten entwickelten sich in dieser ungesunden Umgebung. Und so gingen schließlich die meisten Besucher des Kariboo elendiglich zu Grunde. Es war dasselbe, was sich wenige Jahre vorher in Australien und in Kalifornien zugetragen hatte.

»Vater,« meinte Napoleone, »es wäre doch sehr nett, wenn wir einen großen Goldklumpen auf unserem Wege fänden!«

»Was würdest du denn damit anfangen, Herzchen?«

»Was ich damit anfangen würde?« antwortete Napoleone. »Ich würde es Mütterchen übergeben, die es sogleich gegen klingende Münze umtauschen würde!«

»Nun denn, suchen wir!« sagte Clou; »wir werden ganz gewiß welches finden, wenn wir nicht etwa...«

»Vergeblich suchen, wie?« fiel Jean ein. »Und das wird uns ganz gewiß passieren, mein armer Clou, denn der Kasten ist leer... absolut leer!«

»Nun... nun...« entgegnete Xander; »man wird ja sehen...«

»Halt, Kinder!« sagte Herr Cascabel plötzlich in seinem nachdrücklichsten Tone. »Ich verbiete euch, euch auf diese Weise zu bereichern! Von englischem Boden aufgelesenes Gold... Pfui!... Eilen wir, eilen wir schnell vorwärts, ohne uns durch das Mitnehmen eines Goldklumpens, und wäre er auch so groß wie Clous Kopf, zu erniedrigen! Und wenn wir an die Grenze gelangen, so werden wir, selbst wenn kein Plakat mit den Worten: ›Man wird[61] gebeten, sich die Schuhe abzuwischen‹, dort angebracht ist, uns den kolumbischen Staub von den Füßen schütteln, Kinder!«

Immer derselbe, dieser Cäsar Cascabel! Aber möge er sich beruhigen! Wahrscheinlich wird keines der Seinigen Gelegenheit haben, das kleinste Goldkorn aufzulesen!

Aber trotz des Verbotes des Herrn Cascabel schweiften prüfende Blicke unterwegs unaufhörlich über den Boden hin. Jeder Kiesel schien Napoleone und insbesondere Xander sein Gewicht in Gold wert zu sein. Und warum auch nicht? Nimmt doch Nordamerika unter den goldreichen Gegenden den ersten Rang ein! stehen ihm doch Australien, Rußland, Venezuela, China nach!

Indessen hatte die Regenzeit begonnen. Täglich fielen große Wassermassen und machten die Reise immer schwieriger.

Der indianische Führer trieb das Gespann an. Er fürchtete, daß die bisher fast ausgetrockneten Rios oder Creeks, die sich in den Fraser ergießen, unter plötzlichen Zuflüssen anschwellen möchten. Wie sollte man über dieselben gelangen, wenn die Furten nicht mehr passierbar wären? Die Belle-Roulotte würde Gefahr laufen, während der mehrwöchentlichen Regenzeit nicht von der Stelle zu können. Folglich mußte man schleunigst aus dem Fraserthal hinauszukommen suchen.

Wir sagten bereits, daß man die Eingeborenen dieser Gegend nicht zu fürchten brauchte, seitdem die Tchilicotten gegen Osten zurückgedrängt worden waren.

Das war richtig, aber es gab dort gewisse furchtbare Tiere – Bären zum Beispiel –, mit denen eine Begegnung ernste Gefahr bringen konnte.

Das erfuhr Xander bei einem Anlasse, wo er das Unrecht, seinem Vater ungehorsam zu sein, beinahe teuer bezahlt hätte.

Es war am Nachmittag des siebzehnten Mai. Die Familie hatte etwa fünfzig Schritte jenseits des Creek, den das Gespann soeben trockenen Fußes passiert hatte, Halt gemacht. Die Ufer dieses Creek waren so steil, daß ein Übergang absolut unmöglich geworden wäre, wenn irgend ein plötzliches Anschwellen ihn in einen Sturzbach verwandelte.

Da man einige Stunden rasten sollte, ging Jean vorwärts, um zu jagen, während Xander, trotzdem er den Befehl hatte, sich nicht weit vom Lager zu entfernen, unbemerkt über den Creek zurückging, bloß mit einem zwölf Fuß langen Seile versehen, das er zusammengerollt am Gürtel trug.

Der Bursche wußte, was er wollte: er hatte einen glänzenden, buntgefiederten Vogel bemerkt; er gedachte demselben zu folgen, um sein Nest zu entdecken, denn er konnte mit Hilfe des Seiles jeden beliebigen Baum erklimmen, um sich dieses Nestes zu bemächtigen.

Indem er sich so entfernte, beging Xander eine um so größere Unvorsichtigkeit,[62] als das Wetter drohend aussah. Ein schweres Gewitter zog schnell heraus. Aber wer kann einen Buben zurückhalten, der einem Vogel nachstellt?

So befand Xander sich denn bald in einem dichten Walde, dessen Ausläufer an das linke Ufer des Creek heranreichten. Der Vogel hüpfte von Zweig zu Zweig und schien ihn zum Scherze weiterzulocken.

Ganz mit der Verfolgung beschäftigt, vergaß Xander, daß die Belle-[63] Roulotte binnen zwei Stunden wieder aufbrechen sollte; und so war er, zwanzig Minuten nachdem er das Lager verlassen, bereits eine starke halbe Meile weit in die Tiefen des Forstes gedrungen Hier gab es keine Wege, höchstens enge, von dem um Cedern und Tannen wachsenden Dorngestrüpp überwucherte Wildpfade.


Es ist vergebens, einen wilden Jungen aufzuhalten.
Es ist vergebens, einen wilden Jungen aufzuhalten.

Der Vogel schwang sich mit fröhlichem Geschrei von Baum zu Baum, während Xander wie eine junge Wildkatze lief und sprang. Nichtsdestoweniger waren all seine Anstrengungen vergeblich und der Vogel verschwand schließlich im Dickicht.

»Jetzt hol' ihn der Teufel!« rief Xander, stehen bleibend, sehr ärgerlich über seinen Mißerfolg.

Da erst erblickte er durch das Laubwerk den von dichten Wolken bedeckten Himmel. Schon flogen grelle Lichter über das dunkle Grün.

Es waren die ersten Blitze, von anhaltendem Donnergerolle gefolgt.

»Ich habe noch eben Zeit, zurückzukehren; und was wird der Vater sagen!« dachte der junge Bursche.

In diesem Moment fiel sein Blick auf einen eigentümlichen Gegenstand, einen Kiesel von sonderbarer Form, von der Größe eines Tannenzapfens, auf dem metallische Punkte glitzerten.

Und da bildete unser Bube sich gleich ein, daß dies ein hier vergessener Goldklumpen sein müsse! Mit einem Freudenschrei griff er danach, wog ihn in der Hand und steckte ihn in die Tasche, indem er sich vornahm, niemand etwas davon zu erwähnen.

»Wir werden ja sehen, was man dazu sagt,« murmelte er, »wenn ich ihn in schöne Goldstücke umgesetzt habe.«

Kaum hatte Xander seinen kostbaren Kiesel eingesteckt, als das Gewitter mit einem heftigen Donnerschlage losbrach. Der Widerhall desselben zitterte noch in weiter Ferne nach, als sich ein Brummen vernehmen ließ.

Am Rande eines kaum zwanzig Schritte entfernten Dickichts erhob sich ein ungeheurer, »Grizzly-Bär.«

So tapfer er auch war, so lief Xander doch schleunigst in der Richtung des Creek davon. Der Bär aber setzte ihm augenblicklich nach.

Wenn es Xander gelang, das Bett des Creek zu erreichen, zu passieren und sich in das Lager zu flüchten, so war er gerettet. Man würde den Bären auf dem linken Ufer schon in Atem zu halten und sogar zu erlegen wissen, um eine Bettdecke aus seinem Pelze zu machen.

Aber der Regen fiel bereits in Strömen, die Blitze zuckten unaufhörlich, der Himmel hallte von tosenden Donnerschlägen. Bis auf die Haut durchnäßt, durch die nassen Kleider am Laufen behindert, konnte Xander sich kaum mehr aufrecht halten, und ein Fall würde ihn in die Gewalt des Raubtieres geben.[64]

Trotzdem gelang es ihm, seine Distanz einzuhalten, und in weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ufer des Creek erreicht.

Dort aber stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen Der Creek hatte sich in einen Sturzbach verwandelt und riß Felsstücke, Bäume, Wurzeln mit sich fort. Die Flut reichte bis an den Rand der Ufer hinan. In diese Wirbel springen, hieß, sich rettungslos in den Tod stürzen.


Zwanzig Schritte vor ihm erhob sich ein kolossaler Bär. (Seite 64.)
Zwanzig Schritte vor ihm erhob sich ein kolossaler Bär. (Seite 64.)

[65] Xander wagte nicht umzukehren. Er wußte den Bären dicht hinter sich, bereit, ihn zu erdrücken. Und dabei war es unmöglich, der kaum zwischen den Bäumen sichtbaren Belle-Roulotte seine Nähe kundzuthun.

Da gab ihm sein Instinkt, fast ohne Überlegung, ein Auskunftsmittel ein, das ihn vielleicht retten konnte.

Fünf Schritte von ihm stand ein Baum, eine Ceder, die ihre unteren Äste über den Creek streckte.

Darauf zuspringen, ihren mittelgroßen Stamm umschlingen, sich mit Hilfe der rauhen Rinde bis zu den Ästen emporziehen, war für den gelenkigen Jungen das Werk einer Sekunde. Kein Affe hätte geschickter oder flinker sein können. Von einem kleinen Clown war das nicht zu verwundern; und so konnte er sich geborgen wähnen.

Leider nicht für lange. Denn der Bär war am Fuße des Baumes angelangt und begann daran emporzuklettern; es würde schwer sein, ihm zu entgehen, selbst wenn man sich in die höchsten Äste hinaufflüchtete.

Xander verlor seine Kaltblütigkeit nicht. War er doch der würdige Sohn des berühmten Cascabel und gewohnt, sich mit heiler Haut aus den ärgsten Klemmen zu ziehen!

Er mußte von dem Baume herabkommen, aber wie? dann mußte er den Sturzbach passieren, aber auf welche Weiser Durch den strömenden Regen angeschwollen, begann der Creek auszutreten und das rechte Ufer, auf dem sich das Lager befand, zu überfluten.

Um Hilfe rufen?... Inmitten des wütenden Sturmes mußte sein Geschrei ungehört verhallen. Überdies würden Herr Cascabel, Jean oder Cloude-Girofle, falls sie den Abwesenden suchten, denselben vorn, nicht im Rücken der Belle-Roulotte vermuten. Wie hätten sie auf den Gedanken kommen sollen, daß Xander über den Creek zurückgegangen sei?

Unterdessen kletterte der Bär langsam, aber immer höher hinan und mußte bald die unteren Aste der Ceder erreichen, während Xander dem Wipfel zustrebte.

Da kam dem Buben eine Idee Da einige der Äste sich etwa zehn Fuß weit über den Creek erstreckten, entrollte er hastig das an seinem Gürtel befestigte Seil und knüpfte dessen Ende zu einer Schlinge, die er mit einiger Mühe um die Spitze eines der horizontalen Äste warf; dann zog er den letzteren vermittelst des Seiles an sich und hielt ihn in dieser senkrechten Stellung fest.

All dies geschah mit Geschick, Schnelligkeit und großer Geistesgegenwart.

Es war aber auch keine Zeit zu verlieren; der Bär hatte die untersten Äste erreicht und suchte sich nun höher zu schwingen.

In diesem Augenblicke ließ Xander, das äußerste Ende des emporgezogenen[66] Astes erfassend, diesen wie eine Feder zurückschnellen und wurde wie ein Stein aus einer Katapulte über den Creek hinaus geschleudert. Nachdem er sich mittelst eines kräftigen Lendendruckes überschlagen, fiel er am rechten Ufer des Baches zu Boden, während der verdutzte Bär seine Beute durch die Luft davonfliegen sah.

»Ah! der Strick!«

Mit diesem Kompliment bewillkommnete Herr Cascabel den unbesonnenen Jungen in dem Augenblicke, wo er selber mit Jean und Clou an das Ufer des Creek kam, nachdem er den Buben umsonst in der Nähe des Lagers gesucht hatte.

»Strick!...« wiederholte er. »Welche Angst du uns eingejagt hast!«

»Nun denn, Vater, zause mich an den Ohren!« antwortete Xander. »Ich habe es verdient!«

Aber statt sich an den Ohren seines Sohnes schadlos zu halten, gab Herr Cascabel seinem eigenen Verlangen nach, ihn auf beide Wangen zu küssen, indem er sagte:

»Thu das nicht wieder! denn ein andermal...«

»Würdest du mich auch wieder küssen!« antwortete Xander, indem er seinem Vater einen herzhaften Kuß gab.

Dann rief er:

»Ha... der ist schön angeführt, mein Bär!... Er macht ein recht dummes Gesicht, der Hansnarr!«

Jean hätte das davonschleichende Tier gern erlegt; aber man durfte nicht daran denken, es zu verfolgen. Da das Wasser noch immer stieg, mußte man sich eilends vor der Überschwemmung flüchten, und so kehrten alle vier zu der Belle-Roulotte zurück.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 60-67.
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