VIII. Gefährlicher Aufenthalt.

[67] Acht Tage später, am sechsundzwanzigsten Mai, erreichte das Gespann die Quellen des Fraser. Der Regen war Tag und Nacht gefallen, aber wenn man den Versicherungen des Führers Glauben schenken durfte, so mußte das schlechte Wetter jetzt bald zu Ende sein.

Als die Quellen des Flusses auf ziemlich gebirgigen Wegen umgangen waren, drang die Belle-Roulotte in gerader Richtung gegen Westen vor.[67]

Noch einige Tagereisen und Herr Cascabel erreichte die Grenze von Alaska.

Die letzte Woche hindurch hatte der von Ro-No verfolgte Weg an keinem Marktflecken, keinem Weiler vorübergeführt. Übrigens hatte man allen Grund, mit den Diensten dieses Indianers zufrieden zu sein, denn er kannte das Land vollkommen.

An jenem Tage meldete der Führer Herrn Cascabel, daß er, wenn er wolle. in einem unsern gelegenen Dorfe Halt machen könne, wo eine vierundzwanzigstündige Rast den etwas übermüdeten Pferden gut anschlagen dürfte.

»Was für ein Dorf ist es?« fragte Herr Cascabel, stets voller Mißtrauen, wenn es sich um die kolumbische Bevölkerung handelte.

»Ein Koquinendors,« antwortete der Führer.

»Also kein Sachsennest!« rief Herr Cascabel. »Dann bin ich's zufrieden.«

Abends machte die Belle-Roulotte am Eingang dieses Dorfes Halt. Sie brauchte höchstens noch drei Tage, um die geographische Grenze zu erreichen, welche Alaska von Kolumbia trennt.

Dann würde Herr Cascabel ungesäumt seine gewohnte, auf dem Gebiete Ihrer britannischen Majestät so arg kompromittierte gute Laune wiederfinden.

Das Koquinendors war von einer indianischen Bevölkerung bewohnt; aber es beherbergte damals gerade eine Anzahl Engländer, Jäger von Beruf oder aus Liebhaberei, welche es nur in der Jagdsaison aufzusuchen pflegten.

Unter den eben anwesenden Offizieren der Garnison von Viktoria befand sich auch ein gewisser Baronet Sir Edward Turner, ein hochmütiger, brutaler insolenter, stark auf seine Nationalität eingebildeter Mensch, einer jener Gentlemen, die da glauben, sich aus dem einfachen Grunde, weil sie Engländer sind, alles gestatten zu dürfen. Selbstverständlich verabscheute er die Franzosen zum mindesten ebenso sehr, wie Herr Cascabel dessen Landsleute verabscheute. Man sieht, wie sehr diese beiden geschaffen waren, einander zu verstehen!

Nun geschah es am Abend desselben Tages, während Jean, Xander und Clou auf Proviant ausgegangen waren, daß die Hunde des Baronets in der Nähe der Belle-Roulotte auf Wagram und Marengo stießen, welche offenbar die nationalen Abneigungen ihres Herrn teilten.

So entstand denn Zwietracht zwischen dem Wachtelhund und Pudel einerseits und den »Pointers« andererseits, Lärm, Zähnefletschen, Kampf und schließlich Einschreiten der Eigentümer.

Sir Edward Turner trat auf den Lärm hin aus dem Hause, welches er am Eingang des Dorfes bewohnte, und kam, um die Hunde des Herrn Cascabel mit seiner Peitsche zu bedrohen.

Letzterer eilte dem Baronet augenblicklich entgegen und ergriff die Partei seiner Tiere.[68]

Sir Edward Turner – der sich in sehr korrektem Französisch ausdrückte – erkannte sofort, mit wem er zu thun hatte; er ließ seiner Insolenz die Zügel schießen und zögerte nicht, den Gaukler im besonderen und dessen Landsleute im allgemeinen mit britischer Grobheit zu traktieren.

Man kann sich leicht vorstellen, was Herr Cascabel bei solchen Reden empfand.[69]

Da er sich indessen in keine Händel einlassen wollte – noch dazu auf englischem Grund und Boden, wo irgendwelche Verwicklungen seine Reise verzögern konnten – so beherrschte er sich und sagte in untadelhaftem Tone:


Dann Lärm, Zähnefletschen und Kampf. (Seite 68.)
Dann Lärm, Zähnefletschen und Kampf. (Seite 68.)

»Ihre Hunde haben die meinigen zuerst angegriffen, mein Herr.«

»Die Ihrigen!...« versetzte der Baronet. »Die Hunde eines Possen reißers!... Für solche Köter sind Stock- oder Peitschenhiebe viel zu gut!«

»Ich muß Ihnen bemerken,« entgegnete Herr Cascabel, der sich trotz seines Entschlusses, ruhig zu bleiben, zu erhitzen begann, »daß eine solche Ausdrucksweise keines Gentleman würdig ist.«

»Und doch gebührt einem Menschen Ihrer Sorte nichts besseres.«

»Mein Herr, ich bin höflich... und Sie sind ein Flegel!...«

»Ah! Hüten Sie sich!... Sie wagen es, Sir Edward Turner frech zu antworten!...«

Herr Cascabel brauste auf; mit blassem Gesichte, flammenden Augen und drohenden Fäusten schritt er auf den Baronet los, als Napoleone herbeieilte.

»Vater, komm doch!...« sagte sie. »Mama verlangt nach dir.«

Cornelia hatte ihre Tochter zu Cascabel geschickt, um ihn zur Rückkehr in die Belle-Roulotte zu bewegen.

»Gleich!« antwortete Herr Cascabel. »Bitte deine Mutter zu warten, bis ich mit diesem Gentleman abgerechnet habe, Napoleone.«

Bei diesem Namen brach der Baronet in ein verächtliches Gelächter aus.

»Napoleone!« wiederholte er, »Napoleone, diese Kleine!... Der Name jenes Ungeheuers, welches...«

Das war mehr, als Herr Cascabel ertragen konnte. Er trat mit gekreuzten Armen dicht vor den Baronet hin.

»Sie insultieren mich!« sagte er.

»Ich insultiere Sie... Sie?«

»Mich! und Sie insultieren den großen Mann, der Ihre Insel auf einmal in den Mund gesteckt hätte, wenn er dort gelandet wäre!...«

»Wahrhaftig?«

»Der sie wie eine Auster verschluckt haben würde!...«

»Elender Hanswurst!« schrie der Baronet.

Er war ein wenig zurückgewichen und warf sich in Positur, um sich durch Boxen zu verteidigen.

»Jawohl! Sie insultieren mich, mein Herr Baronet, und Sie werden mir dafür Rede stehen!«

»Einem Gaukler Rede stehen!«

»Indem Sie ihn insultierten, haben Sie ihn zu Ihresgleichen gemacht!...[70]

Und wir werden uns auf Degen, Pistolen, Säbel, was Sie wollen, schlagen... sogar mit den Fäusten!«

»Warum nicht mit Blasen,« gab der Baronet zurück, »wie Ihre Hanswürste auf den Brettern?«

»Verteidigen Sie sich...«

»Als ob man sich mit einem Marktschreier schlüge!«

»Doch!« schrie Herr Cascabel außer sich vor Wut, »doch! man schlägt sich... oder läßt sich schlagen.«

Und ohne zu bedenken, daß sein Gegner bei einer jener Boxereien, auf welche die Gentlemen sich trefflich verstehen, sicher im Vorteil sein würde, wollte er sich auf denselben stürzen, als Cornelia persönlich intervenierte.

Im selben Augenblick eilten einige Offiziere vom Regiment des Sir Edward Turner, seine Jagdgefährten, herbei; entschlossen, den Baronet nicht mit »solchem Gesindel« anbinden zu lassen, überschütteten sie die Familie Cascabel mit Schmähungen. Übrigens schienen diese Schmähungen nicht im stande zu sein, die imposante Cornelia aus der Fassung zu bringen. Sie begnügte sich damit, Sir Edward Turner einen Blick zuzuwerfen, welcher dem Beleidiger ihres Mannes nichts Gutes verhieß.

Jean, Clou und Xander waren ebenfalls herbeigekommen und der Streit drohte in Thätlichkeiten auszuarten, als Frau Cascabel rief:

»Komm, Cäsar, und auch ihr, Kinder, kommt!... Gehen wir!.... Alle in die Roulotte, und das augenblicklich!«

Ihr Ton war so gebieterisch, daß keiner dem Befehl zu trotzen wagte.

Aber welch einen Abend Herr Cascabel verbrachte! Sein Zorn legte sich nicht!... Er, in seiner Ehre, in der Person seines Helden angegriffen!... Von einem Englishman insultiert!... Er wollte ihn aufsuchen gehen, sich mit ihm, mit seinen Gefährten, mit sämtlichen Schuften in diesem elenden Dorfe schlagen!... Und seine Kinder begehrten nichts so sehr, als ihn begleiten zu dürfen! Selbst Clou sprach davon, eine englische Nase abzubeißen... wenn es nicht etwa ein englisches Ohr sein sollte!

Cornelia hatte wirklich große Mühe, diese Wütenden zu beruhigen. Im Grunde gestand sie sich, daß das Unrecht gänzlich auf Seite des Sir Edward Turner sei; sie konnte nicht leugnen, daß ihr Mann sowohl als die ganze Familie in einer Weise behandelt worden waren, wie man einander nicht behandelt, nicht einmal unter Marktschreiern der schlimmsten Sorte.

Da die Lage aber ungünstig genug war, so gab sie nicht nach, sondern bot dem Unwetter die Stirne und entgegnete auf die schließlich von ihrem Manne ausgesprochene Absicht, dem Baronet etwas an den Kopf werfen zu gehen:

»Ich verbiete Dir's, Cäsar!«[71]

Und obgleich Herr Cascabel vor Wut schäumte, mußte er sich den Befehlen seiner Gattin fügen.

Welche Eile Cornelia hatte, dies verwünschte Dorf am folgenden Morgen zu verlassen! Sie würde erst ruhig sein, wenn sie die ganze Familie ein paar Meilen weiter nordwärts sähe! Und um ganz sicher zu sein, daß niemand sich im Laufe der Nacht entferne, verschloß sie nicht nur sorgfältig die Thür der Belle-Roulotte, sondern blieb auch selber draußen, um Wacht zu halten.

Am nächsten Tage, dem siebenundzwanzigsten Mai, weckte Cornelia die Ihrigen schon um drei Uhr morgens. Größerer Sicherheit halber wollte sie vor Sonnenaufgang abfahren, während die Dorfbewohner, Indianer wie Engländer noch im Schlafe lagen. Es war dies das beste Mittel, um einen neuen Ausbruch der Feindseligkeiten zu verhüten. Und selbst zu dieser frühen Stunde – ein bemerkenswerter Umstand – schien die würdige Frau große Eile zu haben. Sehr erregt, mit unstetem Blicke und flammenden Augen, nach allen Seiten spähend, drängte, schalt und hetzte sie ihren Mann, ihre Söhne und Clou, die ihr viel zu langsam waren.

»Binnen wieviel Tagen werden wir die Grenze überschritten haben?« fragte sie den Führer.

»Binnen drei Tagen,« antwortete Ro-No, »wenn wir unterwegs nicht aufgehalten werden.«

»Vorwärts!..,« erwiderte Cornelia. »Und daß man unseren Aufbruch nur nicht bemerke.«

Man sollte sich aber denn doch nicht einbilden, daß Herr Cascabel die gestrigen Beleidigungen bereits verdaut habe! Das Dorf verlassen, ohne dem Baronet seine Schuld heimgezahlt zu haben, das war hart für einen ebenso heißblütigen als patriotischen Normannen!

»Das kommt davon,« sagte er wiederholt »wenn man den Fuß in ein John Bull gehöriges Land setzt!«

Aber wenn er auch die größte Luft empfand, in der Hoffnung auf eine Begegnung mit Sir Edward Turner durch das Dorf zu schlendern, wenn er auch mehr als einen Blick auf die verschlossenen Fensterläden des von diesem Gentleman bewohnten Hauses warf, so gelang es ihm doch nicht, sich von der schrecklichen Cornelia loszumachen. Sie ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.

»Wohin gehst du, Cäsar?... Bleib hier, Cäsar!... Ich verbiete dir, dich zu rühren, Cäsar!«...

Herr Cascabel hörte nichts anderes. Niemals hatte er sich in so hohem Grade unter dem Pantoffel seiner vortrefflichen und gebieterischen Lebensgefährtin befunden.

Dank den wiederholten Aufforderungen, wurden die Vorbereitungen schnell[72] beendet und die Pferde eingespannt. Um vier Uhr morgens waren Hunde, Affe und Papagei, Gatte, Söhne und Tochter sämtlich in den Abteilungen der Belle-Roulotte untergebracht, auf deren Kutschersitz Cornelia Platz nahm. Sobald Clou und der Führer sich an die Spitze des Zuges gestellt hatten, wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben.

Eine Viertelstunde später war das Koquinendors hinter dem Walle von grünen Bäumen, welcher es umgab, verschwunden. Der Tag brach eben an. Alles war still. Kein lebendes Wesen zeigte sich auf der langen Ebene, die sich gen Norden hinzog.

Und als es endlich gewiß war, daß der Aufbruch bewerkstelligt worden, ohne die Aufmerksamkeit irgend eines Dorfbewohners zu erregen, als Cornelia die volle Überzeugung erlangt hatte, daß weder Indianer, noch Engländer daran dachten, ihr den Weg zu vertreten, da stieß sie einen langen Seufzer der Erleichterung aus, durch den ihr Mann sich ein wenig verletzt fühlte.

»Du hattest also große Angst vor jenen Leuten, Cornelia?« fragte er sie.

»Sehr große Angst,« begnügte sie sich zu erwidern.

Die drei folgenden Tage vergingen ohne Zwischenfall und wie der Führer vorausgesagt hatte, langte man endlich bei der äußersten Grenze von Kolumbia an.

Als die Belle-Roulotte die alaskische Grenze glücklich überschritten hatte, konnte sie Halt machen.

Einmal dort, erübrigte es nur mehr, die Forderung des Indianers, der sich ebenso eifrig, als treu gezeigt hatte, zu begleichen und ihm für seine Dienste zu danken. Dann nahm Ro-No, nachdem er noch die Richtung bezeichnet hatte, die man einhalten müsse, um in kürzester Frist nach Sitka, der Hauptstadt der russischen Besitzungen, zu gelangen, von der Familie Abschied.

Nun er sich nicht mehr auf englischem Gebiete befand, hätte Herr Cascabel doch gewiß freier atmen müssen. Aber nein! Trotz der darüber hingegangenen drei Tage hatte er sich noch immer nicht von jenem Auftritt im Koquinendorse erholt. Die Sache lag ihm noch immer schwer auf dem Herzen. Er konnte sich denn auch nicht enthalten, Cornelia zu sagen:

»Du hättest mich umkehren lassen sollen, um mit jenem Mylord abzurechnen...«

»Das war bereits geschehen, Cäsar,« antwortete Frau Cascabel einfach. Jawohl... Geschehen und gründlich dazu!

Nachts, während die Ihrigen im Lager schliefen, war Cornelia lauernd um das Haus des Baronets gestrichen; und als sie ihn mit seiner Flinte herauskommen sah, um sich auf den Anstand zu begeben, war sie ihm einige hundert Schritte weit gefolgt. Sobald er tief genug in den Wald gelangt war, hatte ihm die Besitzerin des »ersten Preises der Wettkämpfe von Chicago«[73] eine Reihe jener Stöße versetzt, welche den Empfänger nach allen Regeln der Kunst zu Boden strecken. Braun und blau geprügelt, war Sir Edward Turner erst am nächsten Tage aufgelesen worden und mußte die Merkmale seiner Begegnung mit dieser liebenswürdigen Frau noch lange mit sich herumtragen.

»O Cornelia... Cornelia!...« rief ihr Mann, indem er sie in die Arme schloß; »du hast meine Ehre gerächt... du bist es wert, eine Cascabel zu sein.«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 67-74.
Lizenz:

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon