XI. Das Uralgebirge.

[294] Die Uralkette lohnt den Besuch von Touristen in mindestens ebenso hohem Grade wie die Pyrenäen und die Alpen. Das Wort »Ural« bedeutet auf Tatarisch »Gürtel«, und es ist auch wirklich ein Gürtel, der sich vom Kaspisee bis ans Eismeer in einer Ausdehnung von zweitausendneunhundert Kilometern hinzieht, – ein mit Edelsteinen und kostbaren Metallen, Gold, Silber, Platina geschmückter Gürtel – ein Gürtel, welcher den alten Kontinent in der Mitte, an der Grenze zwischen Asien und Europa, umspannt. Ein ungeheures Bergsystem, speist er mit seinen Gewässern und den im Frühjahr schmelzenden Schneemassen den Ural, die Kara, die Petschora, die Kama und zahlreiche Nebenflüsse. Eine herrliche Schranke aus Granit und Quarz, reckt er seine Spitzen und Risse in einer Durchschnittshöhe von zweitausenddreihundert Metern über dem Meeresspiegel empor.

»Das kann man wirklich eine Rutschbahn nennen!« meinte Herr Cascabel gutgelaunt. »Nur rutscht sich's hier nicht von selber, wie bei der Porte Maillot oder auf der Kirmeß von Neuilly!«

In der That »rutschte es sich hier nicht von selber!«[294]

Auch würde es beim Übersteigen des Höhenzuges schwer sein, die »Zavodys« zu umgehen, jene zahlreichen Dörfer, deren Bevölkerung noch von den alten, zur Ausbeutung der Minen verwendeten Arbeitern abstammt.


Fünfzig Wölfe bedeckten die Strecke. (Seite 296.)
Fünfzig Wölfe bedeckten die Strecke. (Seite 296.)

Indessen hatte die Truppe des Herrn Cascabel beim Passieren dieser großartigen Engpässe keine Militärposten zu fürchten, da ja ihre Papiere in Ordnung waren. Hätte ihr Weg über den mittleren Teil des Gebirges[295] geführt, so würde sie denn auch nicht gezögert haben, die schöne, sehr frequentierte Jekaterinburger Straße zu benützen, um in das gleichnamige Gouvernement zu gelangen. Aber da Ortiks Reiseplan sich weiter nordwärts gelenkt hatte, so war es besser, den Petschorapaß zu erklimmen und dann gegen Perm hinabzusteigen.

Dazu wollte man sich am folgenden Tage anschicken.

Als der Tag kam, konnte man konstatieren, wie bedeutend die Masse der Angreifer gewesen war. Wäre es ihnen gelungen, in das Innere der Belle-Roulotte zu dringen, so würde keiner ihrer Insassen das Gemetzel überlebt haben.

Fünfzig Wölfe lagen auf der Erde, – von jenen großen Wölfen, welche den Steppenreisenden so gefährlich sind. Die anderen hatten die Flucht ergriffen, als ob der Teufel sie ritte – eine hier absolut gerechtfertigte Metapher. Was die beiden verbrannten Tiere betrifft, so fand man ihre Überreste einige hundert Schritte weit von der Lichtung.

Und nun drängte sich die Frage auf: Am Eingang des Petschorapasses war die Belle-Roulotte sehr weit von den Zavodys entfernt, welche an den östlichen Abhängen des Ural seltener sind.

»Was werden wir thun?...« fragte Jean. »Unser Renntiergespann ist entflohen...«

»Wäre es nur entflohen,« antwortete Herr Cascabel, »so würde es vielleicht nicht unmöglich sein, es wiederzufinden! Aber wahrscheinlich sind unsere Renntiere von den Wölfen zerrissen worden!«

»Arme Tiere!« sagte Napoleone. »Ich liebte sie, wie ich Vermout und Gladiator liebte...«

»Welche durch die Wölfe umgekommen sein würden, wenn sie nicht da unten ertrunken wären!« fügte Xander hinzu.

»Ja, das wäre ihnen wirklich zugestoßen!...« sagte Herr Cascabel mit einem tiefen Seufzer. »Aber wie sollen wir jetzt unser Gespann ersetzen?«

»Ich werde mich ins nächste Dorf begeben und um Geld und gute Worte einige Pferde zu erstehen suchen,« antwortete Herr Sergius. »Wenn Ortik mir zum Führer dienen kann...«

»Wir gehen sobald Sie wollen, Herr Sergius,« antwortete Ortik.

»Offenbar,« fügte Herr Cascabel hinzu, »bleibt uns nichts anderes übrig.«

Und man würde diesen Plan noch desselben Tages ausgeführt haben, wenn sich gegen acht Uhr morgens nicht zum allgemeinen Erstaunen zwei Renntiere am Rande der Lichtung gezeigt hätten.

Xander bemerkte dieselben zuerst.[296]

»Vater!... Vater!...« rief er. »Da sind sie!... Sie kommen zurück!...«

»Lebend?...«

»Wenigstens sehen jene dort nicht danach aus, als ob sie stark aufgefressen worden wären; denn sie gehen...«

»Wenn es nicht etwa nur ihre Beine sind...« meinte Clou.

»Ach, die guten Tiere!...« rief Napoleone. »Ich muß sie küssen!«

Sie lief auf die beiden Renntiere zu, schlang die Arme um ihren Hals und küßte sie herzhaft.

Aber zwei Renntiere wären nicht im stande gewesen, die Belle-Roulotte zu ziehen. Zum Glück zeigten sich bald noch mehrere am Waldrand. Eine Stunde später waren vierzehn von den zwanzig beisammen, welche von den Liakhossinseln gekommen waren.

»Hoch die Renntiere!« rief der junge Xander begeistert.

Es fehlten nur mehr sechs von diesen Tieren, – nämlich diejenigen, welche die Wölfe angegriffen hatten, bevor sie ihre Spannstricke zu zerreißen vermocht, und deren Überreste man später am Waldrande fand. Die vierzehn anderen hatten gleich zu Anfang die Flucht ergriffen und jetzt führte ihr Instinkt sie in das Lager zurück.

Man kann sich vorstellen, wie gut diese vortrefflichen Tiere empfangen wurden. Mit ihnen würde das Fuhrwerk seinen Marsch durch den Uralpaß wieder aufnehmen können. Wo die Abhänge zu steil anstiegen, würde alle Welt mit an den Rädern schieben; und so würde Herr Cascabel im stande sein, einen effektvollen Einzug auf dem Marktplatze von Perm zu halten.

Was ihn indessen betrübte, das war, daß die Belle-Roulotte ihren einstigen Glanz einigermaßen eingebüßt hatte. Ihre Bretterwände waren von den wilden Raubtieren arg zerkratzt und zerbissen worden, nachdem schon früher Sturm und Unwetter und die Unbilden einer so anstrengenden Reise sie entfärbt und beinahe unkenntlich gemacht hatten. Die Schneewehen hatten das Wappen der Cascabels halb verwischt. Wie vieler Farbe und Vergoldung würde es bedürfen, um ihr ihren ursprünglichen Glanz zurückzugeben! Inzwischen blieben die gründlichsten Reinigungen seitens Clous und Cornelias erfolglos.

Um zehn Uhr wurden die Renntiere angespannt und man setzte seinen Weg fort. Da der Paß fühlbar aufwärts stieg, folgten die Männer zu Fuß.

Das Wetter war schön und die Hitze in diesem hochgelegenen Teil der Bergkette ziemlich erträglich. Aber wie oft man dem Gespann zu Hilfe kommen, wie oft man die bis an die Naben im Geleise versinkenden Räder freimachen mußte! Bei jeder jähen Wendung der Schlucht mußte man die Belle-Roulotte stützen und vor dem Anprall an die Felsenkanten zu bewahren suchen.[297]

Diese Pässe des Ural sind nicht von Menschenhänden angelegt. Die Natur allein hat den Bergwassern ene Bahn durch diese gewundenen Schluchten erschlossen. Ein kleiner Nebenfluß der Sosva rieselte hier gen Westen hinab. Hie und da breitete sein Bett sich soweit aus, daß nur ein schmaler und regelloser Pfad an seinem Rande übrig blieb. Bald stiegen die Böschungen steil empor und ließen das felsige Erdreich durch einen Schleier von Moosen und Steinpflanzen hindurchblicken. Bald waren die sanft abfallenden Bergländen mit Fichten und Tannen, Birken und Lärchenbäumen und anderen, den nordeuropäischen Gegenden eigenen Baumgattungen besäet. Und in der Ferne, von Wolken umgeben, hoben sich die schneebedeckten Kämme ab, welche die Sturzbäche dieses Bergsystems speisten.

Am ersten Tage, während dessen sie diesen augenscheinlich wenig frequentierten Paß verfolgte, begegnete die kleine Truppe keinem Menschen. Ortik und Kirschef schienen den Weg ganz gut zu kennen. Indessen mochten sie doch an zwei oder drei Stellen, wo die Straße sich teilte, schwanken. Denn sie machten dort Halt und besprachen sich leise mit einander, – was nicht verdächtig erscheinen konnte, da niemand den geringsten Grund hatte, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln.

Trotzdem beobachtete Kayette sie unermüdlich, ohne daß sie es wahrnahmen. Jene geheimen Gespräche sowohl als gewisse Blicke, die sie mit einander tauschten, erregten ihren Argwohn immer mehr. Sie aber ahnten nicht im entferntesten, daß die junge Indianerin einen Beweggrund habe, ihnen zu mißtrauen.

Als der Abend kam, wählte Herr Sergius einen Rastplatz am Ufer des Flüßchens. Nach beendigtem Mahle übernahm Herr Cascabel, Kirschef und Clou-de-Girofle die von der Vorsicht gebotene Aufgabe, abwechselnd Wache zu halten. Nach den Anstrengungen des Tages und der Schlaflosigkeit der vorhergehenden Nacht war es einigermaßen verdienstlich von ihnen, nicht auf ihrem Posten einzuschlafen.

Am folgenden Morgen nahmen sie ihren Marsch durch die gleichzeitig steiler und enger werdende Schlucht wieder auf. Dieselben Schwierigkeiten wie am gestrigen Tage, welche dieselben Anstrengungen erheischten. Demzufolge legte man in vierundzwanzig Stunden nur zwei bis drei Meilen zurück. Aber man hatte das für den Uralübergang vorausgesehen und damit gerechnet.

Mehr als einmal waren Herr Sergius und sein Freund Jean versucht, irgend ein schönes Stück Wild durch die Laubgänge zu verfolgen, die aus der Schlucht abzweigten. Im Dickicht sah man ganze Rudel von Elentieren, Damhirschen und Hafen vorüberziehen. Cornelia würde frisches Wildbret nicht verachtet haben.


Der Bär schüttelte zum letztenmal seinen dicken Kopf. (Seite 300.)
Der Bär schüttelte zum letztenmal seinen dicken Kopf. (Seite 300.)

Aber wenn es auch nicht an Wild mangelte, so war doch, wie man weiß, die Munition während des Kampfes mit den Wölfen gänzlich erschöpft worden und konnte erst im nächsten Marktflecken erneuert[298] werden. Einstweilen waren die Flinten zum Schweigen verurteilt und Wagram blickte seinen jungen Herrn umsonst so fragend an, als ob er sagen wolle:

»Ei, ei!... man jagt also nicht mehr?«[299]

Und doch ereignete sich ein Zwischenfall, welcher den Gebrauch von Feuerwaffen vollkommen gerechtfertigt haben würde.

Es war drei Uhr nachmittags, die Belle-Roulotte bewegte sich einen felsigen Abhang hinan, als ein Bär auf dem jenseitigen Ufer des Flüßchens erschien.

Es war ein großes Tier, auf welches man durch das bedeutsame Bellen der beiden Hunde aufmerksam wurde. Aufrecht sitzend, wiegte es seinen mächtigen Kopf und schüttelte seinen braunen Pelz, indem es die vorüberziehende Karawane betrachtete.

Verspürte es Luft, dieselbe anzugreifen? War es ein Blick der Neugier oder der Begehrlichkeit, welchen es auf das Gespann und seine Führer warf?

Jean hatte Wagram und Marengo Schweigen auferlegt; da man unbewaffnet war, fand er es überflüssig, dieses furchtbare Tier zu reizen. Warum sollte man Gefahr laufen, seine vielleicht friedfertige Stimmung in eine feindselige zu verwandeln, wo es ihm ein Leichtes sein würde, das diesseitige Flußufer zu erreichen?

So betrachtete man einander dann ruhig, wie Reisende, deren Wege sich kreuzen; und Herr Cascabel beschränkte sich darauf, zu bemerken:

»Wie schade, daß wir diesen prächtigen Meister Petz vom Ural nicht in unsere Gewalt bekommen können! Welch eine Rolle er unter unserem Personal spielen würde!«

Aber es hätte seine Schwierigkeiten gehabt, diesem Bären eine Anstellung bei der Truppe anzubieten. Ohne Zweifel zog er das Waldleben dem Jahrmarktsleben vor; denn er stand auf, schüttelte nochmals seinen dicken Kopf und trabte von dannen.

Da indessen ein Gruß des anderen wert ist, schwenkte Xander höflich den Hut, eine Aufmerksamkeit, welche Jean gern durch einen Flintenschuß ersetzt hätte.

Um sechs Uhr abends machte man ungefähr unter denselben Umständen wie am vorhergehenden Tage Halt. Am nächsten Morgen um fünf Uhr Aufbruch und mühsamer Tagemarsch. Fortwährende Anstrengungen, aber keine Unfälle.

Jetzt war das schwerste gethan, denn die Belle-Roulotte befand sich auf dem höchsten Punkte des Passes. Der Weg senkte sich thalwärts und führte über die westlichen Abhänge hinunter gen Europa.

An jenem Abend – dem sechsten Juli – hielt das sehr ermüdete Gespann am Eingange einer stark gewundenen Schlucht, die zur Rechten von einem dichten Walde begrenzt war

Der Tag war erstickend schwül gewesen. Im Osten hoben sich große[300] Wolken, in ihren unteren Teilen von einem langen Streifen durchschnitten, scharf von dem fahlen Dunstkreis des Horizonts ab.

»Da zieht ein Gewitter herauf,« sagte Jean.

»Das ist ärgerlich,« versetzte Ortik, »denn die Gewitter sind manchmal fürchterlich im Ural.«

»Nun, wir werden uns unter Dach und Fach begeben!« antwortete Herr Cascabel. »Ein Gewitter ist mir immer lieber als ein Rudel Wölfe!«

»Kayette,« fragte Napoleone die junge Indianerin »fürchtest du dich vor dem Donner?«

»Nein, meine Teure,« antwortete Kayette.

»Da hast du recht, kleine Kayette,« sagte Jean. »Man soll sich vor nichts fürchten.«

»Ach!« rief Napoleone achselzuckend, »als ob man etwas dafür könnte!...«

»O!... das feige Ding!« neckte Xander. »Aber, Närrchen, der Donner ist ja nur ein Kegelspiel mit großen Kugeln.«

»Jawohl.... mit Feuerkugeln, die einem zuweilen auf den Kopf fallen!« erwiderte das kleine Mädchen, die Augen vor einem grellen Blitze schließend.

Man beeilte sich, das Lager einzurichten, um sich vor dem Ausbruch des Gewitters in Sicherheit bringen zu können. Dann, nach dem Nachtmahl, beschloß man, daß die Männer, wie in den vorhergehenden Nächten, abwechselnd wachen sollten.

Herr Sergius wollte sich eben erbieten, den Anfang zu machen, als Ortik ihm mit den Worten zuvorkam:

»Wollen Sie, daß Kirschef und ich zuerst Wache halten?...«

»Wie Sie wollen,« antwortete Herr Sergius. »Um Mitternacht werden Jean und ich Sie ablösen.«

»Abgemacht, Herr Sergius,« versetzte Ortik.

Dieser doch eigentlich sehr natürliche Vorschlag schien Kayetten verdächtig; ohne sich ganz klar darüber zu sein, hatte sie ein Gefühl, als ob irgend ein geheimer Anschlag dahinter verborgen wäre.

In diesem Augenblick brach das Gewitter mit außerordentlicher Heftigkeit los. Die Blitze warfen grelle Lichter auf die Baumkronen und der Donner rollte durch den Raum, vom Widerhall der Berge geschwellt. Napoleone hatte sich, um Augen und Ohren besser verhüllen zu können, bereits auf ihr Schlaflager gekauert. Jeder suchte eiligst in sein Bett zu gelangen und gegen neun Uhr lagen sämtliche Insassen der Belle-Roulotte trotz des Krachens des Donners und des Pfeifens des Sturmes in tiefem Schlafe.

Nur Kayette schlief nicht. Sie hatte sich nicht entkleidet und vermochte, obgleich sie sehr ermüdet war, keine Sekunde des Schlummers zu finden. Eine tiefe Unruhe bemächtigte sich ihrer, wenn sie daran dachte, daß die Sicherheit[301] ihrer Gefährten der Obhut jener zwei russischen Matrosen anvertraut sei. Um das Thun dieser Leute zu beobachten, zog sie eine Stunde später den Vorhang von dem kleinen Fenster über ihrer Schlafstätte zur Seite und blickte beim Schein der Blitze hinaus.

Ortik und Kirschef, die zusammen geplaudert haben mochten, brachen eben ihr Gespräch ab und schritten auf den Eingang der Schlucht zu, wo in diesem Augenblick ein Mann auftauchte.

Ortik machte diesem Manne sofort ein Zeichen, sich wegen der Hunde nicht weiter vorzuwagen. Wenn Wagram und Marengo sein Nahen nicht gemeldet hatten, so war es, weil sie sich bei der erstickenden Gewitterschwüle unter die Belle-Roulotte verkrochen hatten.

Ortik und Kirschef gingen zu dem Fremden hin, wechselten einige Worte mit ihm, und Kayette sah beim Aufleuchten eines Blitzes, wie sie ihm unter die Bäume folgten.

Jetzt galt es, um jeden Preis zu wissen, wer dieser Mann war und weshalb die beiden Matrosen sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatten.

Kayette glitt von ihrem Lager herab, so leise, daß sie niemand weckte. Als sie bei Jean vorüberkam, hörte sie ihren Namen nennen... Hatte Jean sie bemerkt?...

Nein! Jean träumte... und träumte von ihr!

Kayette erreichte die Thür, öffnete sie vorsichtig und schloß sie geräuschlos hinter sich.

»Vorwärts!« murmelte sie, sobald sie draußen war.

Sie zauderte nicht; sie empfand keine Furcht. Und doch stand vielleicht ihr Leben auf dem Spiele, wenn man sie entdeckte!

Kayette glitt in den Wald, der wie im Widerschein eines Brandes aufleuchtete, so oft ein breiter Blitz die Wolken zerriß. Durch Gehölz und hohes Gras kriechend, erreichte sie den Stamm eines großen Lärchenbaumes, wo ein aus geringer Entfernung zu ihr herüber dringendes Stimmengeflüster sie Halt machen ließ.

Sieben Männer waren unter den Bäumen gruppiert, zu denen Ortik und Kirschef sich eben gesellt hatten.

Und nun vernahm Kayette folgendes, von jenen verdächtigen Männern auf Russisch geführte Gespräch:

»Meiner Treu,« sagte Ortik, »ich that sehr wohl daran, den Petschora-Paß zu wählen!... Man ist dort immer gewiß, alte Kameraden anzutreffen, wie, Rostof?«

Rostof war der Mann, den Ortik und Kirschef am Waldrande bemerkt hatten.

»Schon seit zwei Tagen,« antwortete Rostof, »folgen wir diesem Wagen, indem wir uns sorgfältig verborgen halten.


Sieben Männer waren da. (Seite 302.)
Sieben Männer waren da. (Seite 302.)

Da wir euch beide, Kirschef und dich, erkannt hatten, dachten wir gleich, daß es sich hier um einen guten Fang handle.«

»Einen... und vielleicht auch zwei!« erwiderte Ortik.

»Aber wo kommt ihr her?«... fragte Rostof.

»Mitten aus Amerika, wo wir zur Karnoff'schen[302] Bande gehörten.«[303]

»Und wer sind die Leute, die ihr begleitet?«

»Französische Gaukler, eine Familie Cascabel, die nach Europa zurückkehrt... Wir werden euch unser Reiseabenteuer später erzählen... Besprechen wir jetzt das dringendste!«

»Ortik,« fragte einer der Gefährten Rostofs, »befindet sich in diesem Wagen Geld?«

»Zwei- bis dreitausend Rubel.«

»Und ihr habt euch noch nicht von diesen wackern Leuten getrennt?« bemerkte Rostof ironisch.

»Nein; denn es handelt sich um ein Geschäft von ganz anderer Bedeutung als einen erbärmlichen kleinen Diebstahl, ein Geschäft, bei dem ich einiger Unterstützung bedarf!«

»Und das ist?...«

»Hört mich an, Freunde,« fuhr Ortik fort. »Wenn Kirschef und ich ungefährdet durch Sibirien kommen und die russische Grenze erreichen konnten, so verdanken wir das dieser Familie Cascabel. Aber was wir unter ihrem Schutze thaten, das that auch ein anderer, in der Hoffnung, daß man ihn nicht inmitten einer Gauklerfamilie suchen werde. Es ist dies ein Russe, der ebensowenig wie wir das Recht hat, nach Rußland zurückzukehren, wenn auch aus anderen Gründen, – ein politischer Sträfling von hoher Geburt und großem Vermögen. Nun ist es uns gelungen, sein Geheimnis, das nur dem Meister Cascabel und dessen Frau bekannt war, zu entdecken....«

»Und auf welche Weise?«

»Eines Abends, in Muji, belauschten wir ein Gespräch zwischen Cascabel und dem Russen!«

»Und er heißt?...«

»Herr Sergius für alle Welt. In Wahrheit aber Graf Narkine; und sein Leben steht auf dem Spiele, wenn er auf moskowitischem Gebiete erkannt wird.«

»Halt!« sagte Rostof. »Ist dieser Graf Narkine nicht der Sohn des Fürsten Narkine, derselbe, der nach Sibirien deportiert wurde und dessen Flucht vor einigen Jahren so großes Aufsehen machte?«

»Derselbe,« antwortete Ortik. »Nun denn! Graf Narkine besitzt Millionen und ich denke, er wird nicht zögern, uns wenigstens eine davon zu geben... wenn wir ihm mit einer Anzeige drohen!«

»Gut ausgedacht, Ortik! Aber weshalb hast du uns zur Ausführung dieses Planes nötig?« fragte Rostof.

»Weil es von Wichtigkeit ist, daß Kirschef und ich, im Falle des Mißlingens, nicht bei diesem ersten Geschäfte figurieren, damit wir noch immer auf das zweite zurückkommen können. Wenn letzteres gelingen soll, wenn wir[304] uns des Cascabelschen Geldes und Wagens bemächtigen wollen, so müssen wir nach wie vor die beiden russischen Schiffbrüchigen bleiben, die ihnen ihre Rettung und Heimkehr verdanken. Wenn wir uns dann der Familie entledigt haben, können wir durch Stadt und Land ziehen, ohne daß es der Polizei in den Sinn kommt, uns im Gauklergewande zu suchen.«

»Ortik, willst du, daß wir noch heute Nacht zum Angriff schreiten, uns des Grafen Narkine bemächtigen und ihm zu wissen thun, unter welchen Bedingungen man seine Rückkehr nach Rußland nicht bei der Polizei anzeigen wird?...«

»Geduld... Geduld!« antwortete Ortik. »Da Graf Narkine nach Perm zu gehen gedenkt, um dort seinen Vater wiederzusehen, so ist es besser, ihn Perm erreichen zu lassen. Einmal dort, wird er ein Briefchen erhalten, welches ihn – in sehr dringender Angelegenheit – ersucht, sich zu einer Unterredung einzufinden, wo ihr das Vergnügen haben werdet, seine Bekanntschaft zu machen.«

»Also ist augenblicklich nichts zu unternehmen?«

»Nichts,« sagte Ortik; »aber seht zu, daß ihr uns ungesehen vorauseilt und ein wenig vor uns zu dem Stelldichein in Perm eintrefft.«

»Abgemacht!« antwortete Rostof.

Und die Übelthäter trennten sich, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß ihr Gespräch von Kayette belauscht worden war.

Ortik und Kirschef kehrten wenige Minuten nach ihr in das Lager zurück, überzeugt, daß niemand ihre Abwesenheit bemerkt habe.

Nun kannte Kayette die Absichten dieser Elenden. Zugleich hatte sie auch erfahren, daß Herr Sergius ein Graf Narkine sei und daß sein Leben ebenso wie das seiner Gefährten in Gefahr schwebe! Sein Inkognito würde enthüllt werden, wenn er sich nicht dazu verstand, einen Teil seines Vermögens preiszugeben!

Entsetzt über das Gehörte, bedurfte Kayette einiger Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie war entschlossen, Ortiks Anschläge zu vereiteln; sie überlegte, wie dies Ziel zu erreichen sei. Welch eine Nacht sie verbrachte, voll der lebhaftesten Besorgnis, sich fragend, ob das Ganze nicht ein schlimmer Traum gewesen sei...

Nein! es war Wirklichkeit.

Sie konnte nicht mehr daran zweifeln, als Ortik am folgenden Morgen zu Herrn Cascabel sagte:

»Sie wissen, daß Kirschef und ich die Absicht hatten, Sie auf der andern Seite des Ural zu verlassen, um nach Riga zu gehen. Jetzt haben wir aber überlegt, daß es besser wäre, Ihnen bis nach Perm zu folgen und dort den Gouverneur zu bitten, unsere Heimsendung bewerkstelligen zu wollen... Werden Sie uns gestatten, die Reise mit Ihnen fortzusetzen?«[305]

»Mit Vergnügen, meine Freunde,« antwortete Herr Cascabel. »Wenn man zusammen aus so weiter Ferne gekommen ist, so muß man sich möglichst spät trennen: es wird auch dann noch immer zu früh sein!«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 294-306.
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