XII. Eine trotz der Ankunft unbeendete Reise.

[306] So war der abscheuliche Anschlag beschaffen, der gegen den Grafen Narkine und die Familie Cascabel geplant worden war! Und das in einem Augenblick, wo ihre lange Reise nach so vielen Beschwerden und Gefahren ein glückliches Ende nehmen sollte! Noch zwei bis drei Tage und die Uralkette war überschritten und die Belle-Roulotte brauchte nur mehr hundert Meilen auf ebener Erde zurückzulegen, um gegen Südwesten hin Perm zu erreichen!

Wie man weiß, gedachte Cäsar Cascabel sich einige Zeit in dieser Stadt aufzuhalten, damit Herr Sergius sich allnächtlich ohne Schwierigkeit und unerkannt nach Schloß Walska begeben könne. Dann würde dieser, je nach den Umständen, im väterlichen Schlosse bleiben, oder seine Gefährten nach Nischni... vielleicht gar nach Frankreich begleiten!

Ja! aber falls Herr Sergius in Perm zu bleiben beschloß, würde man sich von Kayetten trennen müssen, die er dort behalten würde!...

Das war es, was Jean sich immer wieder sagte, was ihn quälte, was ihm das Herz zerriß. Und diesen so aufrichtigen, so tiefen Kummer teilten seine Eltern und seine Geschwister. Keiner von ihnen konnte sich in den Gedanken hinein finden, Kayette nicht mehr sehen zu sollen!

An jenem Morgen suchte Jean, trostloser denn je, die junge Indianerin auf und als er sie bleich, niedergeschlagen, mit von der Schlaflosigkeit geröteten Augen erblickte, fragte er besorgt:

»Was fehlt dir, Kayette?«

»Nichts, Jean,« antwortete sie.

»Doch!... Du bist krank!... Du hast nicht geschlafen!... Du siehst aus als ob du geweint hättest, kleine Kayette!«

»Das ist die Folge des gestrigen Gewitters... Ich konnte die ganze Nacht kein Auge schließen.«

»Die Reise hat dich sehr ermüdet, nicht wahr?«

»Nein, Jean!... Ich bin ja stark!... Bin ich doch an jegliches Elend gewöhnt!... Es wird schon vorübergehen!«[306]

»Was fehlt Dir, Kayette?... Sag es mir... ich bitte dich!...«

»Nichts, Jean!«

Und Jean beharrte nicht weiter.

Als sie den armen Jungen so unglücklich gesehen, war Kayette auf dem Punkte gewesen, ihm alles zu sagen! Es schmerzte sie so sehr, ein Geheimnis vor ihm zu haben! Aber da sie seinen entschlossenen Charakter kannte, sagte sie sich, daß er sich in Gegenwart Kirschefs und Ortiks schwerlich beherrschen werde. Vielleicht würde er sich hinreißen lassen!... Eine Unbesonnenheit aber konnte dem Grafen Narkine das Leben kosten. Und so schwieg Kayette.

Nachdem sie die Sache lange erwogen hatte, beschloß sie, Herrn Cascabel von ihrer Entdeckung in Kenntnis zu setzen. Aber dazu mußte sie mit ihm allein sein und das würde sich während des Uralüberganges schwer erreichen lassen, denn es war von Wichtigkeit, daß die beiden Russen keinen Verdacht schöpften.

Übrigens drängte die Zeit nicht, da jene Elenden ja vor der Ankunft der Familie in Perm nichts zu unternehmen gedachten. Ihr Mißtrauen konnte nicht rege werden, solange Herr Cascabel und die Seinigen sie genau so wie früher behandelten. Hatte Herr Sergius ihnen doch ebenfalls seine Befriedigung kundgethan, als er hörte, daß Ortik und Kirschef bis Perm mitreisen wollten.

Um sechs Uhr morgens – am siebenten Juni – brach die Belle-Roulotte von neuem auf. Eine Stunde später gelangte sie an die Quellen der Petschora, nach welcher der Engpaß benannt ist. Jenseits der Kette zu einem der großen Ströme Nordrußlands geworden, ergießt die Petschora sich nach einem Laufe von eintausenddreihundertfünfzig Kilometern ins Eismeer.

Auf jener Höhe des Passes war diese Petschora erst ein Gießbach, der in einem zerklüfteten und ungleichen Bette am Fuße der Tannen-, Birken- und Lärchenwälder hinfließt. Man braucht bloß ihrem linken Ufer zu folgen, um den Ausgang des Passes zu erreichen. Wenn man auch an den steilen Abhängen gewisse Vorsichtsmaßregeln ergreifen mußte, so würde die Thalfahrt doch schnell von statten gehen.

Während dieses Tages fand Kayette keine Gelegenheit, insgeheim mit Herrn Cascabel zu reden. Übrigens bemerkte sie, daß die beiden Russen sich nicht mehr abgesondert besprachen oder sich während der Raststunden in verdächtiger Weise entfernten. Wozu hätte das auch jetzt gedient? Ihre Spießgesellen waren ihnen sicherlich vorausgeeilt und die Bande würde erst bei dem Stelldichein in Perm wieder zusammenkommen.

Der folgende Tag war ein günstiger für die Reise. Die Schlucht erweiterte sich und bildete einen bequemeren Durchgang für den Wagen. Man hörte die stark zwischen ihren Ufern eingezwängte Petschora über die Felsen[307] dahinrauschen. Der Engpaß, der bereits einen minder wilden Anblick bot, war nicht mehr so einsam. Man begegnete Händlern, welche aus Europa nach Asien wanderten, das Hausierbündel auf dem Rücken, den eisenbeschlagenen Stock in der Hand. Einige Trupps von Bergleuten, auf dem Wege aus oder nach den Minen begriffen, tauschten einen Gruß mit den Reisenden. Am Ausgang der Hohlwege erschien hie und da ein Gehöfte oder ein noch unbedeutendes Dorf. Im Süden beherrschten der Denejkin und der Kontschakow diesen Teil des Uralgebirges.

Nach einer zur Rast benützten Nacht erreichte die Belle-Roulotte gegen Mittag das äußerste Ende des Petschorapasses. Endlich hatte die kleine Karawane den Höhenzug überstiegen und befand sich in Europa.

Noch dreihundertfünfzig Werst – hundert Meilen – und Perm würde wie Herr Cascabel sich ausdrückte, »ein Haus und eine Familie mehr in seinen Mauern zählen!«

»Uf!...« fügte er hinzu. »Ein hübscher Trab, den wir da zu stande gebracht haben, meine Freunde!... Nun denn, hatte ich nicht rechts... Alle Wege führen nach Rom!... Statt von der einen, sind wir von der anderen Seite nach Rußland gekommen; und was thut das, da Frankreich nicht mehr fern ist!«

Und wäre man ein wenig in ihn gedrungen, so hätte der treffliche Mann behauptet, daß die Luft des Normannenlandes über ganz Europa zu ihm herüberwehe und daß er dieselbe an ihrem Seeduft erkenne!

Am Ausgang des Engpasses befand sich ein Zavody, welches etwa fünfzig Häuser und mehrere Hundert Einwohner umfaßte.

Man beschloß, sich dort bis zum nächsten Tage auszuruhen und gewisse Vorräte zu erneuern – unter anderem Mehl, Thee und Zucker.

Zu gleicher Zeit vermochten Herr Sergius und Jean sich Pulver und Blei zum Ersatze ihrer völlig erschöpften Munition zu verschaffen.

Als sie damit zurückkehrten, rief Herr Sergius:

»Zur Jagd, mein Freund Jean! Wir werden nicht mit leeren Jagdtaschen heimkehren!... zur Jagd!...«

»Wie Sie wünschen,« antwortete Jean, mehr aus Pflicht als Jagdlust.

Der arme Junge! Der Gedanke an die so nahe Trennung verleidete ihm alles.

»Begleiten Sie uns, Ortik?« fragte Herr Sergius.

»Gern,« antwortete der Matrose.

»Suchen Sie mir gutes Wild zu bringen,« empfahl ihnen Frau Cascabel; »dann mache ich mich anheischig, Ihnen ein gutes Mahl zu bereiten.«

Da es erst zwei Uhr nachmittags war, blieb den Jägern Zeit, die umliegenden Wälder zu durchstreifen. Und wenn ihnen das Wild in diesen[308] dichten Gehölzen nicht von selber vor den Schuß lief, so bewies es wenig Zuvorkommenheit.

Während Herr Sergius, Jean und Ortik sich entfernten versorgten Kirschef und Clou die Renntiere. Dieselben wurden unter den Bäumen auf einer kleinen Wiese untergebracht, wo sie nach Herzenslust weiden und wiederkäuen konnten.[309]

Unterdessen wandte Cornelia sich zur Belle-Roulotte, wo es nicht an Arbeit fehlte, zurück, indem sie ihrer Tochter sagte:

»Gehen wir, Napoleone!«


Die Renntiere waren bald unter den Bäumen untergebracht.
Die Renntiere waren bald unter den Bäumen untergebracht.

»Hier bin ich, Mutter.«

»Und du, Kayette?...«

»Sogleich, Frau Cascabel!«

Aber das war die Gelegenheit, welche Kayette suchte, um mit dem Oberhaupt der Familie unter vier Augen zu reden.

»Herr Cascabel...« sagte sie, auf ihn zugehend.

»Mein Vöglein?«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir sprechen?..«

»Insgeheim.«

»Insgeheim?«

Und im Geiste sagte er sich:

»Was will sie von mir, meine kleine Kayette?... Sollte es sich um meinen armen Jean handeln?«

Sie wandten sich dem linken Rande des Zavody zu, während Cornelia in der Belle-Roulotte beschäftigt war.

»Nun, mein teures Kind,« fragte Herr Cascabel, »was willst du von mir und warum thust du so geheimnisvoll?«

»Herr Cascabel,« antwortete Kayette, »ich wünsche schon seit drei Tagen mit Ihnen zu sprechen, ohne daß jemand anderes es höre oder auch nur bemerke.«

»Also hast du mir etwas sehr Ernstes zu sagen?«

»Herr Cascabel, ich weiß, daß Herr Sergius eigentlich Graf Narkine heißt.«

»Wie!... Graf Narkine!...« rief Herr Cascabel. »Das weißt du?... Und wie hast du es erfahren?...«

»Durch Leute, welche Sie belauschten, während Sie mit Herrn Sergius plauderten... neulich abends... im Dorfe Muhi.«

»Ist es möglich!«

»Und da ich meinerseits ihr Gespräch über Sie und den Grafen Narkine belauscht habe, ohne daß sie es ahnten...«


»Alsdann ist Herr Sergius verloren und Sie vielleicht auch!« (Seite 312.)
»Alsdann ist Herr Sergius verloren und Sie vielleicht auch!« (Seite 312.)

»Wer sind diese Leute?«

»Ortik und Kirschef.«

»Was!... sie wissen?...«

»Ja, Herr Cascabel; und sie wissen auch, daß Herr Sergius ein politischer Sträfling ist, der nach Rußland zurückkehrt, um seinen Vater, den Fürsten Narkine wiederzusehen!«[310]

Betäubt von Kayettens Mitteilung, stand Herr Cascabel mit schlaff herabhängenden Armen und offenem Munde da. Nach einiger Überlegung sagte er:

»Ich bedauere, daß Ortik und Kirschef dieses Geheimnis kennen. Aber da der Zufall es ihnen ausgeliefert hat, so bin ich überzeugt, daß sie es nicht verraten werden!«[311]

»Es ist kein Zufall, der es in ihre Gewalt gegeben hat,« sagte Kayette, »und sie werden es verraten.«

»Sie!... Ehrliche Seeleute!...«

»Herr Cascabel,« erwiderte Kayette, »Graf Narkine schwebt in größter Gefahr!«

»Wie?«

»Ortik und Kirschef sind zwei Verbrecher, welche der Karnossschen Bande angehört haben. Sie sind es, die den Grafen Narkine an der alaskischen Grenze überfielen. Als sie sich in Port-Clarence nach Sibirien eingeschifft hatten, wurden sie auf die Liakhossinseln verschlagen, wo wir ihnen begegnet sind. Was sie vom Grafen Narkine wollen, dessen Leben gefährdet ist, wenn er auf russischem Gebiete erkannt wird, das ist ein Teil seines Vermögens; verweigert er ihnen denselben, so werden sie ihn anzeigen!... Dann ist Herr Sergius verloren, und Sie vielleicht auch!...«

Während Herr Cascabel, von dieser Enthüllung zu Boden geschmettert, Schweigen bewahrte, setzte Kayette ihm auseinander, wie die beiden Matrosen ihr stets verdächtig vorgekommen seien. Es sei nur zu wahr, daß sie Kirschefs Stimme bereits einmal gehört habe... Sie erinnere sich jetzt... Es sei an der alaskischen Grenze gewesen, in dem Augenblick, wo die beiden Bösewichter den Grafen Narkine überfielen, ohne übrigens zu wissen, daß er ein nach Amerika geflüchteter Russe sei. Und dann, in einer der letzten Nächte, während sie mit der Bewachung des Lagers betraut gewesen, habe Kayette sie mit einem fremden Manne davongehen gesehen; sie sei ihnen gefolgt; sie habe einer Unterredung zwischen ihnen und sieben bis acht von ihren früheren Spießgesellen angewohnt... Ortiks sämtliche Pläne seien ihr klar geworden... Indem er die Belle-Roulotte durch den Petschorapaß führte, wo er gewiß war, einer Anzahl von Banditen zu begegnen, sei er entschlossen gewesen, Herrn Sergius und die ganze Familie Cascabel niederzumetzeln... Aber seit er erfahren, daß Herr Sergius Graf Narkine sei, halte er es für besser, demselben mittelst der Drohung, ihn der moskowitischen Polizei zu verraten, eine bedeutende Geldsumme zu erpressen... Man werde warten, bis er in Perm angelangt sei... Weder Ortik noch Kirschef würden bei dieser Angelegenheit figurieren, um im Falle des Mißlingens ihre Stellung zu bewahren... Ihre Genossen würden Herrn Sergius in einem Briefe warnen, ihn um eine Unterredung ersuchen, und so weiter.

Es gelang Herrn Cascabel nur sehr schwer, seine Entrüstung zu zügeln, während er Kayettens Erzählung lauschte. Solche Schufte, denen er so viele Dienste geleistet, die er befreit, genährt, in ihre Heimat zurückgeführt hatte!... Nun, das war ein hübsches Geschenk, eine schöne Rückerstattung, die er da dem Zarenreiche machte!... Wenn es noch Engländer gewesen wären, so würde er[312] wenigstens kein so großes Bedauern empfinden, sie England zurückzugeben!... Ah, die Elenden!... Ah, die Lumpen!

»Und was werden Sie nun thun, Herr Cascabel?« fragte Kayette.

»Was ich thun werde?... Das ist sehr einfach, kleine Kayette!... Ich werde Ortik und Kirschef beim ersten Kosakenposten, auf den wir stoßen, anzeigen und man wird sie hängen...«

»Überlegen Sie, Herr Cascabel,« erwiderte das junge Mädchen. »Sie können das nicht thun!«

»Weshalb nicht?«

»Weil Ortik und Kirschef dann nicht zögern werden, den Grafen Narkine anzuzeigen und mit ihm diejenigen, welche ihm die Rückkehr nach Rußland ermöglicht haben!«

»Zum Teufel, was mich betrifft!« rief Herr Cascabel. »Wenn es sich nur um mich handelte!... Aber Herr Sergius, das ist etwas anderes!... Du hast recht, Kayette, man muß überlegen!....«

Sehr aufgeregt und ratlos, that er einige Schritte und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf, um demselben eine Idee zu entlocken... Dann kam er zu dem jungen Mädchen zurück und fragte sie:

»Du sagst, daß Ortik unsere Ankunft in Perm abwarten und dort seine Helfershelfer handeln lassen will?«

»Ja, Herr Cascabel; und er hat ihnen ernstlich anempfohlen, vor diesem Zeitpunkt nichts zu unternehmen. Daher glaube ich, daß man warten und einstweilen die Reise fortsetzen sollte...«

»Das ist aber hart,« rief Herr Cascabel, »sehr hart!... Die Schurken bei sich behalten, sie nach Perm führen, ihnen nach wie vor die Hand drücken und ein freundliches Gesicht zeigen!... Bei meinen Vätern! Ich habe Luft, sie beim Kragen zu packen und gegen einander zu schlagen... so... so!«

Und Herr Cascabel fuchtelte mit seinen kräftigen Händen hin und her, als ob er in einem Jahrmarktsorchester Cymbel spiele.

»Sie werden sich bemeistern müssen, Herr Cascabel,« begann Kayette von neuem. »Sie gelten für ahnungslos...«

»Du hast recht, mein Kind.«

»Ich möchte nur wissen, ob Sie es für ratsam erachten, Herrn Sergius zu warnen?...«

»Nein... meiner Treu... nein!« antwortete Herr Cascabel. »Es scheint mir vernünftiger, zu schweigen!... Was könnte Herr Sergius machen?... Nichts!... Ich bin da, um für ihn zu wachen... und ich werde wachen!... Überdies, ich kenne ihn!... Um uns nicht weiter zu kompromittieren, wäre er im stande, links abzubiegen, während wir rechts gingen!... Nein!... entschieden nein!... Ich werde schweigen!...«[313]

»Und werden Sie,« fragte Kayette, »Jean nichts davon sagen?...«

»Jean... kleine Kayette?... Ebensowenig!... Er ist feurig!... Er würde sich in Gegenwart jener zwei abscheulichen Banditen nicht bemeistern können!... Er besitzt nicht die Kaltblütigkeit seines Vaters!... Er würde sich gehen lassen!... Nein!... Jean ebensowenig wie Herrn Sergius!«

»Und Frau Cascabel, werden Sie sie nicht in Kenntnis setzen?« fragte Kayette noch.

»Frau Cascabel?... O, das ist etwas anderes!... Eine so hervorragende Frau, die so guten Rat zu erteilen weiß... und bei Gelegenheit auch eine feste Hand hat!... Ich habe nie ein Geheimnis vor ihr gehabt; und dann weiß sie auch so gut wie ich, daß Herr Sergius Graf Narkine ist... ein Flüchtling...«

»Also Frau Cascabel?...«

»Ja, ich werde mit ihr sprechen!... Jener Frau könnte man ein Staatsgeheimnis anvertrauen!... Sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als es verraten, und das ist das größte Opfer, dessen eine Frau fähig ist!... Ja!... ich werde mit ihr sprechen!...«

»Kehren wir jetzt in die Belle-Roulotte zurück,« sagte Kayette. »Man darf unsere Abwesenheit nicht bemerken...«

»Du hast recht, kleine Kayette, du hast immer recht!«

»Vor allem, Herr Cascabel, beherrschen Sie sich in Gegenwart von Ortik und Kirschef!«

»Das wird schwer sein; aber fürchte nichts, man wird ihnen ein freundliches Gesicht schneiden! Ah! die Schufte!... Daß wir uns durch ihre unreine Nähe besudelt haben!... Also darum teilten sie mir mit, daß sie nicht direkt nach Riga gehen wollten!... Darum erwiesen sie uns die Ehre, uns bis Perm zu begleiten!... Diese Landstreicher!... Diese Papavoines!... Diese Lacenaires!... Diese Troppmans!...«

Und Herr Cascabel zählte alle Verbrechernamen auf, die ihm ins Gedächtnis kamen.

»Herr Cascabel,« bemerkte Kayette, »wenn das die Art und Weise ist, wie Sie sich bemeistern wollen!...«

»Nein, kleine Kayette, fürchte nichts!... Ich habe mir nur Luft gemacht!... Ich erstickte daran!... Ich konnte es nicht hinabwürgen!... Aber ich werde ruhig sein!... Ich bin es bereits!... Laß uns in die Belle-Roulotte zurückkehren!... Die Canaillen!«

Und sie wandten sich wieder dem Zavody zu. Sie sprachen nicht mehr... Sie waren in ihre Betrachtungen versunken!... Eine so wunderbare Reise, die so nahe dem Ziele war und durch jene abscheuliche Verschwörung zu nichte gemacht werden sollte![314]

Als sie in die Nähe des Wagens kamen, machte Herr Cascabel Halt.

»Kleine Kayette?« sagte er.

»Herr Cascabel.«

»Ich ziehe es doch entschieden vor, Cornelia nichts zu sagen!«

»Warum?«

»Was willst du!... Ich habe gefunden, daß eine Frau ein Geheimnis gewöhnlich um so besser bewahrt, wenn sie nichts davon weiß!... Also, laß dies unter uns bleiben!...«

Einen Augenblick später war Kayette in der Belle-Roulotte verschwunden und Herr Cascabel winkte dem wackern Kirschef im Vorübergehen freundlich zu, indem er zwischen den Zähnen murmelte:

»Welch ein Spitzbubengesicht!«

Und als zwei Stunden später die Jäger wieder erschienen, machte Herr Cascabel Ortik ein begeistertes Kompliment über den prächtigen Damhirsch, den er auf seinen Schultern heimbrachte. Herr Sergius und Jean hatten ihrerseits zwei Hafen und einige Paar Rebhühner geschossen. So konnte Cornelia ihren hungrigen Gästen denn ein vorzügliches Diner vorsetzen, welches Herr Cascabel sich ganz besonders schmecken ließ. Dieser Mann war wirklich, »großartig«. Er verriet seine geheimen Gedanken nicht! Er schien nicht einmal zu ahnen, daß er zwei Mörder an seinem Tische habe, zwei Bösewichter, deren Trachten dahin ging, seine Familie zu ermorden! Ja! Er war von hinreißender Laune, von ansteckender Heiterkeit, und als Clou eine Flasche guten Weines herbeigebracht hatte, trank er auf die Rückkehr nach Europa, die Rückkehr nach Rußland, die Rückkehr nach Frankreich!

Am nächsten Morgen – dem zehnten Juli – schlug das Gespann die Richtung nach Perm ein. Von der Mündung des Engpasses an würde die Reise wahrscheinlich ohne Schwierigkeiten oder Zwischenfälle vor sich gehen. Die Belle-Roulotte fuhr längs des rechten Ufers der Vischera hinab, welche am Fuße des Uralgebirges hinfließt. Man kam an Marktflecken, Dörfern, Gehöften vorüber; allerwärts sehr gastfreundliche Einwohner, Wild in Überfluß, gute Aufnahme. Das Wetter war zwar sehr heiß, aber der Hauch einer leichten Nordostbrise bot Erfrischung. Die Renntiere marschierten tapfer einher und wiegten ihre hübschen Köpfe. Übrigens hatte Herr Sergius ihnen zwei Pferde zugesellt, die er im letzten Zavody gekauft und so vermochten sie bis zu zehn Meilen pro Tag zurückzulegen.

Wahrhaftig, die kleine Truppe debutierte recht glücklich auf dem Boden des alten Europa. Und Herr Cascabel wäre in jeder Hinsicht befriedigt gewesen, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß er zwei Schurken mit sich führe.

»Und wenn man bedenkt, daß ihre Bande uns folgt, wie Schakale einer[315] Karawane! Vorwärts, Cäsar Cascabel, du wirst auch diesem Gelichter einen gehörigen Streich spielen müssen!«

Im Grunde war es sehr ärgerlich, daß diese Verwicklung einen so geschickt ersonnenen Plan störte. Die Papiere des Herrn Cascabel waren in Ordnung; Herr Sergius figurierte unter seinem Personal und die russischen Behörden ließen ihn ohne Mißtrauen passieren. In Perm angelangt, würde es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitet haben, sich nach Schloß Walska zu begeben. Nachdem er den Fürsten Narkine umarmt, nachdem er einige Tage in seiner Nähe geweilt, hätte er Rußland in Gauklerkleidern durchreisen und sich nach Frankreich flüchten können, wo er völlig sicher gewesen wäre. Und dann keine Trennung mehr!... Kayette und er würden die Familie nicht verlassen!... Und wer weiß, ob nicht später dieser arme Jean!... Ah, wahrhaftig, der Galgen war noch viel zu gut für die Schufte, die eine solche Zukunft vernichten wollten! Herr Cascabel brauste manchmal in einer Weise auf, die seinen Gefährten unbegreiflich war.

»Was hast du nur, Cäsar?« fragte ihn Cornelia.

»Nichts!« antwortete er.

»Warum rasest du dann so?«

»Ich rase, Cornelia, um nicht rasend zu werden!«

Und die vortreffliche Frau vermochte sich die Stimmung ihres Mannes nicht zu erklären.

Vier Tage vergingen; dann erreichte die Belle-Roulotte, sechzig Meilen südwestlich vom Ural, das Städtchen Solikamsk.

Ohne Zweifel waren Ortiks Spießgesellen vor ihm dort eingetroffen; aber vorsichtshalber suchten weder er noch Kirschef sich mit ihnen in Verbindung zu setzen.

Indessen waren Rostof und die übrigen wirklich dort und gedachten ihren Weg in der Nacht fortzusetzen, um das fünfzig Meilen weiter westwärts gelegene Perm zu gewinnen. Und dann würde nichts die Ausführung des abscheulichen Planes aufhalten können.

Beim nächsten Morgendämmern verließ man Solikamsk und am siebzehnten Juli setzte man auf einer Fähre über die Koswa. Wenn keine Verzögerung eintrat, würde die Belle-Roulotte binnen drei Tagen in Perm sein. Dort würde die Familie Cascabel eine Reihe von Vorstellungen geben, bevor sie nach dem Jahrmarkt von Nischni aufbrach. So lautete wenigstens das Programm dieser »Künstler-Tournée«.

Was Herrn Sergius betrifft, so würde er seine Vorkehrungen treffen, um sich allnächtlich auf Schloß Walska einzufinden.

Man kann sich seine Ungeduld und auch die sehr gerechtfertigte Besorgnis vorstellen, mit welcher er seinem Freunde Cascabel von diesen Dingen sprach![316]

Seit seiner Rettung, während der dreizehnmonatlichen Dauer jener merkwürdigen Reise von der alaskischen bis zur europäischen Grenze hatte er keinerlei Nachrichten vom Fürsten Narkine empfangen. Mußte er angesichts des hohen Alters seines Vaters nicht alles befürchten – sogar, ihn nicht mehr zu finden?...

»Gehen Sie doch!... Gehen Sie doch, Herr Sergius!« antwortete Cäsar[317] Cascabel. »Fürst Narkine befindet sich so wohl wie Sie und ich, sogar noch wohler!... Sie wissen, ich wäre eine prächtige Somnambule geworden!... Ich lese in der Vergangenheit und in der Zukunft!... Fürst Narkine erwartet Sie... in trefflicher Gesundheit... und binnen wenigen Tagen werden Sie ihn wiedersehen!...«

Und Herr Cascabel würde unbedenklich einen Eid auf die Richtigkeit seiner Prophezeiung abgelegt haben, wenn die Verwicklung mit jenem Schufte von einem Ortik nicht gewesen wäre.


Rostof schrieb einen Brief. (Seite 318.)
Rostof schrieb einen Brief. (Seite 318.)

Er sagte sich:

»Ich bin nicht böse von Natur, aber wenn ich ihm die Gurgel durchbeißen könnte, so thäte ich's... ohne weiteres!«

Inzwischen wuchs Kayettens Angst in demselben Maße, als die Belle-Roulotte sich Perm näherte. Was für einen Entschluß würde Herr Cascabel fassen? Wie würde er Ortiks Pläne vereiteln, ohne die Sicherheit des Herrn Sergius preiszugeben? Das schien ihr geradezu unmöglich. Es fiel ihr schwer, ihre Besorgnisse zu verhehlen; und Jean, der nicht in das Geheimnis eingeweiht war, litt schrecklich darunter, sie manchmal so gequält und niedergeschlagen zu sehen.

Am Morgen des zwanzigsten Juli setzte man über die Kama und gegen fünf Uhr abends langten Herr Sergius und seine Gefährten auf dem großen Marktplatze von Perm an und trafen ihre Vorkehrungen zu einem mehrtägigen Aufenthalte.

Eine Stunde später hatte Ortik sich mit seinen Helfershelfern ins Einvernehmen gesetzt und Rostof schrieb einen Brief, welcher Herrn Sergius abends übergeben werden sollte – in welchem Briefe man ihn in dringender Angelegenheit um eine Unterredung ersuchte und ihm eine Schenke der Stadt als Begegnungsort bezeichnete. Sollte er dort nicht erscheinen, so werde man sich seiner Person zu bemächtigen wissen, und müßte man ihn auch auf der Straße nach Walska arretieren.

Als dieser Brief in der Abenddämmerung von Rostof überbracht wurde, war Herr Sergius bereits nach Schloß Walska aufgebrochen. Herr Cascabel, der gerade allein war, glaubte sich über das Eintreffen dieses Briefes sehr erstaunt stellen zu sollen. Indessen übernahm er es, denselben dem Adressaten zuzustellen, und hütete sich wohl, irgend jemand davon zu sprechen.

Die Abwesenheit des Herrn Sergius verdroß Ortik. Er würde es lieber gesehen haben, wenn der Erpressungsversuch vor der Zusammenkunft des Fürsten mit dem Grafen Narkine stattgefunden hätte. Indessen ließ er seinen Unmut nicht merken und begnügte sich größerer Verstellung halber, als man sich zum Abendessen setzte, mit der Frage:

»Herr Sergius ist nicht hier?...«[318]

»Nein,« antwortete Herr Cascabel. »Er macht die nötigen Schritte bei den Behörden, um die Bewilligung zu unseren Vorstellungen zu erlangen.«

»Und wann wird er zurück sein?«

»Ohne Zweifel im Laufe des Abends.«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 306-319.
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