XIII. Ein langer Tag.

[319] Das Gouvernement Perm sitzt sozusagen rittlings auf dem Rücken des Ural, einen Fuß in Asien, den andern in Europa. Es wird von den Gouvernements Vologdia im Nordwesten, Tobolsk im Osten, Viatka im Westen und Orenburg im Süden begrenzt. Dank dieser Lage bildet seine Bevölkerung ein merkwürdiges Gemisch von asiatischen und europäischen Typen.

Die an der Kama gelegene Hauptstadt Perm zählt sechstausend Einwohner und treibt einen bedeutenden Metallhandel. Vor dem achtzehnten Jahrhundert ein einfacher Marktflecken, bereicherte sie sich durch die eintausendsiebenhundertdreiundzwanzig erfolgte Entdeckung einer Kupfermine und wurde eintausendsiebenhunderteinundachtzig zur Stadt erklärt.

Rechtfertigt sie diese Bezeichnung? Um die Wahrheit zu sagen: kaum! Keine Monumente, meist enge und schmutzige Gassen, unbequeme Häuser, Gasthöfe, deren Lob den Reisenden nie in den Sinn gekommen zu sein scheint.

Schließlich waren bauliche Fragen von geringer Wichtigkeit für die Familie Cascabel. War doch ihr rollendes Haus jedem andern vorzuziehen! Sie würde es weder mit dem Saint-Nikolashotel in Newyork, noch mit dem Grandhotel in Paris vertauscht haben.

»Man bedenke!« sagte er wiederholt. Die Belle-Roulotte ist von Sakramento bis Perm gefahren!... Nichts geringeres, wenn's gefällig ist!... Man zeige mir doch ein Pariser, Londoner, Wiener oder Newyorker Hotel, das je etwas ähnliches vollbracht hätte!«

Was kann man auf Argumente dieser Art erwidern?

An jenem Tage hatte Perm sich also um ein Haus vermehrt, welches mitten auf seinem Marktplatze stand, und zwar mit Erlaubnis des Civilgouverneurs, einer Persönlichkeit, deren Funktionen denen eines französischen Departementspräfekten gleichkommen. Diese Persönlichkeit hatte nichts Verdächtiges in den Papieren der Truppe Cascabel gefunden.

Die Ankunft der Belle-Roulotte hatte sofort die öffentliche Neugier erregt. Französische Gaukler, die mitten aus Amerika kamen, in einem von[319] Renntieren gezogenen Wagen!... Der geschickte Direktor hoffte denn auch großen Vorteil aus der Begeisterung des Publikums zu ziehen.

Der Jahrmarkt zu Perm war in vollem Gange und sollte noch einige Tage währen. Da waren also ein paar reichliche Einnahmen gesichert. Aber man durfte keine Zeit verlieren, da es sich darum handelte, erst in Perm und dann in Nischni das zur Rückkehr nach Frankreich nötige Geld zu verdienen. Später würde man schon sehen. Man stellte das der Gnade des Himmels anheim, der sich ohnehin der Familie Cascabel gegenüber immer äußerst gnädig erwiesen hatte.

Demzufolge war alle Welt zu sehr früher Morgenstunde auf den Beinen. Jean, Xander, Clou und die beiden russischen Matrosen wetteiferten mit einander in gutem Willen bei den Vorbereitungen zur Vorstellung. Was Herrn Sergius betrifft, so war er nicht zurückgekehrt, wie er versprochen – was Ortik lebhaft verdroß und Herrn Cascabel sehr beunruhigte.

Gleich anfangs hatte man die Vorstellung durch nachstehendes Plakat angekündigt – ein nach dem Diktate des Herrn Sergius mit großen Buchstaben in russischer Sprache geschriebenes Plakat:


Familie Cascabel.


Französische Truppe auf der Rückkehr aus Amerika.

Gymnastik. Taschenspielerei, Equilibristik, Kraft- und Geschicklichkeitsproben, Tanz, Grazie und Sinnenreize.


Personen:


Herr Cascabel, Herkules ersten Ranges in allen Genres. Frau Cascabel, Ringkämpferin ersten Ranges in allen Genres, Besitzerin des großen Preises vom internationalen Wettringen zu Chicago. Herr Jean, Equilibrist in allen Genres. Herr Xander, Clown in allen Genres. Fräulein Napoleone, Tänzerin in allen Genres. Herr Clou-de-Girofle, Hanswurst in allen Genres. Jako, Papagei in allen Genres. John Bull, Affe in allen Genres. Wagram und Marengo, Hunde in allen Genres.


Große Attraktion.


Die Räuber des Schwarzwaldes.


Pantomime mit Verlobung, Hochhzeit, Überraschungen und Lösung. Ungeheuerer Erfolg, erwiesen durch 3177 Aufführungen in Frankreich und im Ausland.


Zur Beachtung: Da die gesprochene Rede aus dieser Pantomime verbannt und durch Gebedenspiel in allen Genres ersetzt ist, so ist dieses Meisterwerk der dramatischen Kunst selbst für Personen, welche an beklagenswerter Taubheit leiden, verständlich.

Zur Bequemlichkeit des Publikums ist der Eintritt gratis gestattet. Der Preis der Plätze wird erst behoben werden, nachdem dieselben besetzt worden sind.


Preis: 40 Kopeken ohne Unterschied.
[320]

Die Vorstellung ward solcherart angekündigt. (Seite 320.)
Die Vorstellung ward solcherart angekündigt. (Seite 320.)

[321] Gewöhnlich gab Herr Cascabel seine Vorstellungen unter freiem Himmel, nachdem er eine kreisförmige Zeltleinwand vor der Belle-Roulotte aufgespannt hatte. Aber es fand sich, daß der große Platz von Perm einen aus Brettern gezimmerten Cirkus besaß, welcher zu Reiterei-Übungen diente. Obgleich dieser Bau ziemlich verwittert war und Wind und Regen ein ließ, stand er noch fest und konnte zweihundert bis zweihundertundfünfzig Zuschauer fassen.

So wie er eben war, paßte er Herrn Cascabel doch besser, als die Zeltleinwand. Er ersuchte daher den Bürgermeister um die Ermächtigung, ihn während seines Aufenthaltes in der Stadt benützen zu dürfen, und diese Ermächtigung wurde ihm gnädigst erteilt.

Die Russen waren wirklich wackere Leute – wenn sich auch Ortiks und andere Banditen seines Schlages unter ihnen befanden! und in welchem Lande giebt es deren nicht!? Was den Permer Cirkus betrifft, so würde er durch die Vorstellungen der Truppe Cascabel nicht erniedrigt werden. Dem Direktor derselben war nur eines leid: daß Se. Majestät Zar Alexander II. nicht auf der Durchreise durch diese Stadt begriffen war. Da er sich aber in Petersburg befand, würde es ihm schwer gefallen sein, an jenem Abend der Antrittsvorstellung beizuwohnen.

Indessen dachte Herr Cascabel mit einiger Besorgnis daran, daß sein Personal hinsichtlich der Purzelbäume, Tänze, Kraftproben und anderer Spiele ein wenig eingerostet sein dürfte. Die bei der Einfahrt der Belle-Roulotte in den Uralpaß unterbrochenen Übungen waren während des letzten Abschnittes der Reise nicht wieder aufgenommen worden. Pah! wahre Künstler müssen immer bereit sein, mit ihrer Kunst zu glänzen!

Was das Stück betrifft, so bedurfte es keiner Probe. Man hatte es so oft gespielt – und ohne Souffleur –, daß die leitenden Persönlichkeiten keine Besorgnis darüber empfanden.

Indessen hatte Ortik einige Mühe, die Unruhe zu verbergen, welche die verlängerte Abwesenheit des Herrn Sergius ihm verursachte. Da die für gestern anberaumte Unterredung nicht stattgefunden, hatte er seine Helfershelfer verständigen müssen, daß die Angelegenheit um vierundzwanzig Stunden verschoben sei. Dabei fragte er sich, warum Herr Sergius nicht nach Perm zurückgekehrt sein möge, wo Herr Cascabel doch seine Rückkehr für denselben Abend angekündigt hatte.... War er auf Schloß Walska geblieben? Wahrscheinlich; denn er war ohne Zweifel dahin gegangen. Ortik hätte also weniger Ungeduld an den Tag legen sollen. Aber er war nicht Herr über sich und konnte sich nicht enthalten, Herrn Cascabel zu fragen, ob er keine Nachrichten von Herrn Sergius bekommen habe.

»Keine,« antwortete Herr Cascabel.[322]

»Ich glaubte,« fuhr Ortik fort, »daß Sie Herrn Sergius gestern Abend erwartet hätten.«

»Allerdings,« antwortete Herr Cascabel, »und er muß durch irgend etwas aufgehalten worden sein!... Es wäre recht ärgerlich, wenn er unserer Vorstellung nicht anwohnen könnte!... Sie wird einfach wunder voll sein!... Sie werden schon sehen, Ortik!...«

Aber wenn Herr Cascabel auch wie ein Mann sprach, der keinerlei Besorgnis hegt, so war er doch im Grunde ernstlich beunruhigt.

Gestern Abend hatte Herr Sergius, mit dem Versprechen, vor Tagesanbruch zurück zu sein, sich auf den Weg nach Schloß Walska gemacht. Sechs Werft hin und sechs Werft zurück, das war keine Entfernung. Nun er nicht zurückkehrte, waren drei Hypothesen möglich: entweder war Herr Sergius vor seiner Ankunft in Walska arretiert worden, oder er war dort angelangt und wurde durch den Zustand des Fürsten Narkine im Schlosse zurückgehalten, oder aber er war in der Nacht wieder aufgebrochen und man hatte ihn auf dem Heimwege arretiert. Hingegen war die Vermutung, daß es Ortiks Helfershelfern gelungen sein könnte, ihn in irgend eine Falle zu locken, nicht zulässig, und als Kayette dieselbe aussprach, antwortete Herr Cascabel:

»Nein! Denn dann wäre der Schurke Ortik nicht so außer sich, wie er es zu sein scheint!... Er hätte mich nicht nach Herrn Sergius gefragt, wenn seine Genossen denselben in ihrer Gewalt hielten!... Ah, der Schuft!... Solange ich ihn nicht mit seinem Freunde Kirschef an einem Galgen baumeln gesehen, wird etwas zu meinem irdischen Glücke fehlen!«

Herr Cascabel verheimlichte seine Besorgnisse ziemlich schlecht, so daß Cornelia, obgleich sie nicht weniger geängstigt als ihr Mann war, zu ihm sagte:

»Höre, Cäsar, fasse dich!... Du regst dich zu sehr auf!... Du mußt Vernunft annehmen!«

»Man nimmt keine Vernunft an, Cornelia; man bedient sich deren, die man hat, und richtet sich nach ihren Eingebungen. Soviel ist gewiß, daß Herr Sergius zu dieser Stunde längst zurück sein sollte, und daß wir ihn noch immer vergeblich erwarten!...«

»Wohl, Cäsar,« sagte Cornelia, »aber kein Mensch ahnt, daß er Graf Narkine ist.«

»Nein, niemand, wahrhaftig, niemand... wenn nicht etwa...«

»Was bedeutet das?... Wenn nicht etwa?... Jetzt fängst du an, wie Clou-de-Girofle zu reden!... Was willst du damit sagen?... Du und ich, wir sind die einzigen, welche das Geheimnis des Herrn Sergius kennen... Glaubst du etwa, ich wäre im stande gewesen, es zu verraten?...«

»Du, Cornelia, niemals!... So wenig wie ich!...«

»Nun, dann...«[323]

»Nun, es giebt Leute in Perm, welche früher mit dem Grafen Narkine verkehrt und ihn jetzt erkannt haben mögen!... Es muß auffallen, daß sich ein Russe bei unserer Truppe befindet!... Kurz, Cornelia, es ist ja möglich, daß ich übertreibe; aber die Zuneigung, die ich für Herrn Sergius hege, gestattet mir nicht, mich ruhig zu verhalten!... Ich muß gehen und kommen...«

»Cäsar, gieb acht, daß du nicht deinerseits Verdacht erregst!« bemerkte Cornelia sehr richtig. »Und vor allem, kompromittiere dich nicht durch unzeitige und unbesonnene Fragen bei den Leuten! Ich finde mit dir, daß dieses Ausbleiben beängstigend ist, und ich sähe Herrn Sergius gern hier! Aber trotzdem fasse ich die Sache nicht so düster auf und denke mir, daß er einfach beim Fürsten Narkine auf Schloß Walska zurückgehalten worden ist. Jetzt, bei hellem Tage, wagt er nicht heimzukehren, das begreife ich; aber er wird im Laufe der nächsten Nacht hier eintreffen. Also, Cäsar, keine Dummheiten! Kaltblütigkeit. Bedenke, daß du die Rolle des Fracassar spielen sollst, welche einen der größten Erfolge deiner Laufbahn bildet!«

Man konnte nicht vernünftiger reden, als diese so einsichtsvolle Frau, und es ist schwer begreiflich, warum ihr Gatte ihr die Wahrheit vorenthielt. Aber schließlich hatte er vielleicht nicht unrecht. Wer weiß, ob die ungestüme Cornelia sich in Gegenwart von Ortik und Kirschef zu beherrschen gewußt hätte, wenn sie erfahren, wer sie seien und was sie zu thun gedächten!

So schwieg Herr Cascabel denn und verließ die Belle-Roulotte, um die Einrichtung des Cirkus in allen Einzelheiten zu überwachen, während Cornelia, von Kayette und Napoleone unterstützt, die Kostüme, Perücken und das übrige Zubehör musterte, welche bei der Vorstellung benützt werden sollten.

Unterdessen waren die beiden Russen, wenn man ihnen glauben wollte, damit beschäftigt, ihre Stellung als heimgekehrte Matrosen zu ordnen, – was eine Menge Schritte, Gänge und Laufereien erforderlich zu machen schien.

Während Herr Cascabel mit Clou arbeitete, die staubigen Cirkusbänke abreibend und die zur Bühne bestimmte Reitbahn kehrend, schleppten Jean und Xander die verschiedenen, bei den Kraft- und Geschicklichkeitsproben unerläßlichen Gegenstände und Utensilien herbei. Dann hatten sie sich mit dem zu beschäftigen, was der Impresario »seine ganz neuen Dekorationen« nannte, »in denen seine unvergleichlichen Künstler das schöne pantomimische Drama: ›Die Räuber des Schwarzwaldes‹ spielten.«

Jean war trauriger als je. Er wußte nicht, daß Herr Sergius Graf Narkine sei, ein politischer Sträfling, der nicht in seinem Vaterlande bleiben konnte. In seinen Augen war Herr Sergius ein reicher Grundbesitzer, der auf seine Güter zurückkehrte, um sich dort mit seiner Adoptivtochter niederzulassen. Wie viel milder sein Kummer gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, daß der Aufenthalt im Russenreiche Herrn Sergius untersagt sei, daß er wieder[324] abreisen werde, sobald er seinen Vater, den Fürsten Narkine gesehen, daß er in Frankreich Schutz suchen werde, und zwar in Begleitung Kayetiens! In diesem Falle würde die Trennung wieder um einige Wochen hinausgeschoben werden, und während dieser Wochen durfte man noch bei einander sein.

»Ja!« sagte Jean sich immer wieder »Herr Sergius wird in Perm bleiben... und Kayette mit ihm!... Binnen einigen Tagen setzen wir unsern Weg fort... und ich werde sie nicht mehr sehen!... Teure kleine Kayette, du wirst im Hause des Herrn Sergius glücklich sein... und doch!...«

Dem armen Jungen brach fast das Herz, wenn er an all diese Dinge dachte.

Indessen war Herr Sergius um neun Uhr morgens noch nicht in die Belle-Roulotte zurückgekehrt. Freilich aber konnte man, wie Cornelia bemerkt hatte, ihn jetzt erst in der folgenden Nacht oder doch wenigstens zu so später Abendstunde erwarten, daß er keine Gefahr liefe, unterwegs erkannt zu werden.

»Dann,« dachte Herr Cascabel, »wird er nicht einmal bei unserer Vorstellung zugegen sein können!... Nun, um so besser!... Es wird mir nicht leid sein!... Sie wird ohnedies schön ausfallen, diese Vorstellung... das Debut der Familie Cascabel auf der Permer Bühne!... Über all diesem Verdruß werde ich meine Mittel einbüßen!... Ich werde grauenhaft sein in der Rolle des Fracassar, ich, der ich die Haut dieses Braven so gut ausfüllte!... Und Cornelia, die trotz all ihrem Gerede auf Kohlen stehen wird!... Und Jean, der nur an seine kleine Kayette denkt!... Und Xander und Napoleone, denen bei dem Gedanken an die Trennung das Weinen nahe ist!... Ach, meine Kinder, was für Figuren wir heute abend darstellen werden!... Ich kann eigentlich nur auf Clou rechnen, um die Ehre der Truppe zu retten!«

Und da Herr Cascabel nicht an einem Platze zu bleiben vermochte, kam er auf den Einfall, nach Neuigkeiten auszugehen. In einer Stadt wie Perm erfährt man schnell, was vorgeht. Die Narkines waren sehr bekannt in der Gegend, auch sehr beliebt... Falls Herr Sergius der Polizei in die Hände gefallen wäre, würde das Gerücht von seiner Verhaftung sich augenblicklich verbreitet haben... Man würde allenthalben davon sprechen... Der Gefangene würde sogar schon in die Citadelle von Perm gebracht worden sein, um dort verhört zu werden.

Daher ließ Herr Cascabel Clou-de-Girofle mit der Adaptierung des Cirkus beschäftigt zurück und schweifte ziellos durch die Stadt, längs der Kama dahin, wo die Fährleute ihrer gewohnten Beschäftigung oblagen, in das obere und untere Viertel, wo die Bevölkerung ganz in ihre täglichen Arbeiten vertieft schien. Er mischte sich in die Gespräche... er hörte unbemerkt zu... Nichts!... Nichts, das sich auf den Grafen Narkine bezogen hätte!

Da auch dies ihn nicht hinreichend beruhigte, wandte er sich der Landstraße[325] zu, die von Perm ins Dorf Walska führt und auf welcher die Polizei Herrn Sergius zur Stadt gebracht haben würde, wenn sie seiner habhaft geworden wäre. Und so oft er in der Ferne eine Gruppe von Fußgängern erblickte, bildete er sich ein, daß es der von einem Kosakentrupp eskortierte Gefangene sei.

In seiner Aufregung dachte Herr Cascabel nicht einmal mehr an seine Frau, seine Kinder, sich selber, welche im Falle einer Verhaftung des Grafen Narkine so arg kompromittiert sein würden! In der That, es würde den Behörden nur allzu leicht sein, die Umstände zu ermitteln, unter welchen Herr Sergius auf russisches Gebiet zu gelangen vermocht, und die wackern Leute, welche seine Heimkehr begünstigt hatten. Die Geschichte konnte der Familie Cascabel teuer zu stehen kommen!

Das viele Hin- und Hergehen des Herrn Cascabel und sein häufiges Stehenbleiben auf der Straße nach Walska hatten zur Folge, daß er nicht im Cirkus anwesend war, als gegen zehn Uhr morgens ein Mann dort erschien und ihn zu sprechen verlangte.

Clou-de-Girofle war gerade allein und bewegte sich in einer von der Reitbahn aufsteigenden Staubwolke. Er kam daraus hervor, als er jenen Mann gewahrte, der ganz einfach ein Musik war. Da Clou die Sprache des besagten Musik ebensowenig kannte wie dieser Clous Idiom, so konnten sie sich unmöglich verständigen. Clou begriff denn auch kein Sterbenswörtchen, als der Fremde ihm sagte, daß er mit seinem Herrn zu sprechen wünsche und ihn im Cirkus gesucht habe, bevor er zur Belle-Roulotte gegangen sei. Schließlich that der Musik, was er zu allererst hätte thun sollen: er zog einen an Herrn Cascabel adressierten Brief hervor.

Das verstand Clou. Ein Brief, welcher den berühmten Namen Cascabel trug, konnte nur an das Familienoberhaupt gerichtet sein... wenn er nicht etwa Frau Cornelia, oder Herrn Jean, oder Herrn Xander, oder Fräulein Napoleone vermeint war.

So übernahm denn Clou den Brief, indem er durch eine Geberde zu verstehen gab, daß er ihn seinem Herrn zustellen werde. Dann verabschiedete er den Musik mit vielen Verbeugungen, ohne aber herausgebracht zu haben, von wo er komme und wer ihn gesandt habe.

Eine Viertelstunde später, gerade als Clou sich anschickte, in die Belle-Roulotte zurückzukehren, erschien Herr Cascabel am Eingang der Reitbahn, entnervter und besorgter als zuvor.

»Herr Direktor!« sagte Clou.

»Nun?...«

»Ich habe einen Brief empfangen.«

»Einen Brief?«


Der Mujik hielt einen Brief in seiner Hand. (Seite 326.)
Der Mujik hielt einen Brief in seiner Hand. (Seite 326.)

»Ja, einen Brief, der eben hergebracht worden ist...«[326]

»An mich?«

»An Sie.«[327]

»Wenn es nicht etwa kein Musik war!«

Herr Cascabel griff hastig nach dem Briefe, den Clou ihm bot, und als er die Handschrift des Herrn Sergius auf der Adresse erkannte, wurde er so bleich, daß sein treuer Diener rief:

»Herr Direktor, was haben Sie?«

»Nichts!«

Nichts?... Und doch war, dieser so thatkräftige Mann auf dem Punkte, Clou ohnmächtig in die Arme zu fallen.

Was sagte Herr Sergius in diesem Briefe?... Warum schrieb er an Herrn Cascabel'?... Augenscheinlich, um ihn von den Beweggründen zu unterrichten, aus denen er in der verflossenen Nacht nicht nach Perm zurückgekehrt war'... War er etwa verhaftet?...

Herr Cascabel entfaltete den Brief, rieb sich das rechte, dann das linke Auge, und las ihn in einem Zuge.

Welch ein Schrei ihm da entfuhr – einer jener Schreie, die aus halb erstickter Kehle dringen! Mit zuckendem Gesichte, rollenden Augen und nervös zusammengezogenen Lippen versuchte er zu sprechen und brachte keinen Laut hervor!...

Clou mußte glauben, daß sein Herr ersticken werde, und begann ihm die Krawatte aufzuknüpfen...

Da sprang Herr Cascabel mit einem solchen Satze empor, daß sein mit kräftigem Fuße zurückgestoßener Sessel in die letzten Sitzreihen des Cirkus flog. Er fuhr wie ein Wahnsinniger umher und versetzte Clou-de-Girofle plötzlich den traditionellen Fußtritt, der ihn, da er nicht darauf vorbereitet war, mit voller Wucht traf... War sein Herr verrückt geworden?

»Ei, Herr Direktor!« rief Clou, »wir sind doch nicht auf der Parade!«

»Doch, wir sind wohl auf der Parade!« schrie Herr Cascabel. »Wir sind nie so sehr auf der grrrrroßen Sonntagsparrrrrade gewesen!«

Vor dieser Erklärung konnte Clou sich nur in Demut beugen, – was er denn auch that, indem er sich die Lenden rieb, denn der Fußtritt war wirklich ein – Sonntagsfußtritt gewesen!

Aber nun hatte Herr Cascabel seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen und trat zu ihm hin, indem er in geheimnisvollem Tone sagte:

»Clou, du bist ein verschwiegener Bursche?«

»Gewiß, Herr Direktor... Ich habe nie etwas von den Geheimnissen gesagt, die mir anvertraut waren... wenn sie nicht etwa...«

»Still!... Genug!... Du siehst diesen Brief?«

»Den Brief des Mujik?«

»Denselben!... Wenn du dir beikommen lässest, irgend jemand zu sagen, daß ich ihn erhalten habe...«


»Das wird dir niemals begegnen... mit deiner Nase!« (Seite 330.)
»Das wird dir niemals begegnen... mit deiner Nase!« (Seite 330.)

»Gut!«

»Jean, Xander oder Napoleonen...«

»Wohl!«

»Vor allem aber Cornelia, meiner Frau, so schwöre ich dir, daß ich dich ausstopfen lasse...«[328]

»Lebendig?...«[329]

»Lebendig... damit du es fühlst, Dummkopf!«

Angesichts dieser Drohung begann Clou an allen Gliedern zu zittern.

Da ergriff Herr Cascabel ihn bei der Schulter und raunte ihm im Tone hochmütiger und überlegener Stutzerhaftigkeit zu:

»Sie ist nämlich eifersüchtig, meine Cornelia!... Und siehst du, Clou, entweder ist man ein schöner Mann, oder man ist es nicht!... Eine reizende Frau... eine russische Fürstin!... Du verstehst!... Sie schreibt mir!... Ein Stelldichein! Das ist etwas, was dir nun und nimmer begegnen wird... mit deiner Nase!«

»Nun und nimmer,« antwortete Clou, »wenn nicht etwa...«

Aber was Clou sich bei diesem Vorbehalt dachte, das hat die Nachwelt nicht erfahren!

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 319-330.
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