III. Im Treibeis.

[196] Man weiß jetzt, in welcher Lage die Schiffbrüchigen sich am dreißigsten Oktober befanden. Konnten sie sich irgend einer Täuschung über ihr Schicksal hingeben, sich an eine noch so schwache Hoffnung anklammern?... Durch die Beringstraße treibend, hätten sie besten Falls von der südlichen Strömung erfaßt und an die asiatische Küste geführt werden können... Die nördliche Strömung trieb sie ins offene Meer hinaus.

Was sollte dort aus der Eistafel werden, wenn anders sie nicht zerschmolz oder zerschellte? Würde sie irgend ein arktisches Land erreichen? Würde sie von den um diese Zeit herrschenden Ostwinden Hunderte von Meilen weit getrieben und schließlich auf die Klippen Spitzbergens oder Nowaja-Semljas geworfen werden? Und würde es in letzterem Falle den Schiffbrüchigen, wenn auch um den Preis furchtbarer Anstrengungen, gelingen, das Festland zu erreichen?[196]

Es waren die Folgen dieser letzten Hypothese, an die Herr Sergius dachte. Er sprach mit Herrn Cascabel davon, während sein forschender Blick über den in Nebeln verschwimmenden Horizont hinschweifte.

»Meine Freunde,« sagte er, »wir befinden uns ohne Zweifel in großer Gefahr, da die Eistafel jeden Augenblick unter uns zusammenbrechen kann und wir dieselbe nicht zu verlassen vermögen...«

»Ist das die größte Gefahr, die uns droht?« fragte Herr Cascabel.

»Augenblicklich ja!« antwortete Herr Sergius; »aber beim Eintritt neuer Kälte wird diese Gefahr sich verringern und schließlich sogar schwinden. Und in dieser Jahreszeit, unter dieser Breite ist es unmöglich, daß die Temperatur sich länger als einige Tage auf dieser Höhe erhalte.«

»Sie haben recht, Herr Sergius,« sagte Jean. »Aber... wohin wird die Eistafel gehen, wenn sie erhalten bleibt?«

»Meiner Ansicht nach wird sie keinesfalls sehr weit treiben, sondern bald an irgend ein Eisfeld stoßen und anfrieren. Sowie das Meer endgültig dann zufriert, werden wir das Festland zu erreichen suchen, um unsern alten Reiseplan wieder aufzunehmen...«

»Und wie werden wir unser versunkenes Gespann ersetzen?« rief Herr Cascabel. »Ach! meine armen Tiere! meine armen Tiere!... Herr Sergius, diese wackeren Tiere gehörten zur Familie und es ist meine Schuld, wenn...«

Herr Cascabel war untröstlich. Sein Kummer kannte keine Grenzen mehr. Er klagte sich an, jene Katastrophe herbeigeführt zu haben. Mit Pferden über ein Meer setzen – hatte man je so etwas gehört?... Und er dachte vielleicht mehr an die Tiere selber, als an die Verlegenheit, die ihr Verschwinden ihm bereitete.

»Ja, es ist ein unersetzlicher Verlust in der Lage, in welche jener Eisbruch uns versetzt hat,« sagte Herr Sergius. »Wir Männer können die Entbehrungen und Anstrengungen, die er nach sich zieht, noch allenfalls ertragen. Aber was werden Frau Cascabel, was werden Kayette und Napoleone, die beide fast noch Kinder sind, anfangen, wenn wir die Belle-Roulotte zurücklassen?«

»Zurücklassen!...« schrie Herr Cascabel auf.

»Es wird dahin kommen, Vater!«

»Wahrhaftig,« sagte Herr Cascabel, sich selber mit der Faust drohend »es hieß Gott versuchen, daß ich eine solche Reise unternahm!... Einen solchen Weg einzuschlagen, um nach Europa zurückzukehren!«

»Seien Sie nicht kleinmütig, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »Blicken wir der Gefahr ohne Zagen ins Auge! Das ist das sicherste Mittel sie zu überwinden!«

»Siehst du, Vater,« fügte Jean hinzu, »was geschehen ist, ist geschehen,[197] und wir waren alle einverstanden, daß es geschehen solle. Klage dich also keiner allzu großen Unbesonnenheit an und sei so energisch wie früher.«

Aber trotz dieser ermutigenden Reden war Herr Cascabel niedergeschlagen; sein Selbstvertrauen, seine natürliche Philosophie hatten einen rauhen Stoß erhalten.

Inzwischen suchte Herr Sergius mit allen ihm zu Gebote stehenden Behelfen, Benützung des Kompasses und aller möglichen Orientierungspunkte, die Richtung der Strömung zu ermitteln. Dieser Art der Beobachtung widmete er sogar die wenigen Tagesstunden, welche den Horizont erhellten.

Es war keine leichte Arbeit, denn die Orientierungspunkte verschoben sich unaufhörlich. Überdies schien das Meer jenseits der Meerenge weit und breit eisfrei zu sein. Man sah, daß das arktische Eisfeld bei der anormalen Temperatur noch gar nicht völlig gebildet gewesen war. Wenn es einige Tage so geschienen, so war es, weil die unter dem Einflusse der bewußten Strömungen von Süden und von Norden kommenden Schollen sich in der engen Straße zwischen beiden Festländern gestaut hatten.

Auf Grund seiner vielfachen Beobachtungen glaubte Herr Sergius behaupten zu können, daß die verfolgte Richtung sich sehr merklich gegen Nordwesten wende. Das rührte zweifellos daher, daß die Strömung, nachdem sie die Beringstraße hinter sich gelassen, in weitem Bogen, über den Polarkreis hinaus, um die sibirische Küste herumfloß.

Zugleich konnte Herr Sergius konstatieren, daß der noch immer wütende Sturm voll aus Südost blies. Wenn er kurze Zeit hindurch aus Süden zu kommen schien, so war das, weil die Anlage der Küsten seine allgemeine Richtung beeinträchtigt hatte, bis er nun auf hoher See dazu zurückkehrte.

Sobald dieser Sachverhalt ermittelt worden, begab Herr Sergius sich zu Cäsar Cascabel und erklärte ihm, daß man sich unter den obwaltenden Verhältnissen nichts besseres wünschen könne. Diese gute Nachricht beruhigte das Familienoberhaupt ein wenig.

»Ja,« erwiderte er; »es ist immerhin etwas, gerade in der Richtung fortzukommen, welche man einschlagen gewollt!... Aber, welch ein Umweg, großer Gott, welch ein Umweg!«

Die Schiffbrüchigen gingen nun daran, sich möglichst gut einzurichten, als ob ihr Aufenthalt auf dem schwimmenden Eiland von langer Dauer sein sollte. Vor allem beschloß man, auch fernerhin in der Belle-Roulotte zu wohnen, die weniger dem Umwerfen ausgesetzt war, da sie dem Anprall des Orkans nachgab.

Cornelia, Kayette und Napoleone durften sie wieder besteigen und sich mit der Küche befassen, die vierundzwanzig Stunden lang absolut vernachlässigt worden war. Das Mahl war bald bereitet; man setzte sich zu Tische; und[198] wenn die Speisen auch nicht wie gewöhnlich durch frohe Reden gewürzt wurden, so stärkten sie doch die seit ihrem Aufbruch von der Insel Diomedes so schwer geprüften Tischgenossen.

So endete dieser Tag. Die Windstöße fuhren noch immer mit furchtbarer Gewalt herab. Der Raum belebte sich mit schwirrenden Vögeln, Schneehühnern und jenen anderen, welche man so richtig als Sturmvögel bezeichnet.

Die folgenden vier Tage brachten keinen Umschwung. Der Wind wehte noch immer aus Osten und veränderte den Zustand der Atmosphäre nicht.

Herr Sergius hatte die Form und Ausdehnung der Eistafel sorgfältig untersucht. Sie bildete ein ungleichmäßiges Viereck und war dreihundertfünfzig bis vierhundert Fuß lang und etwa hundert Fuß breit. Dieses Viereck, dessen Kanten mindestens eine halbe Klafter aus dem Wasser emporragten, war in seiner Mitte leicht gewölbt. Die Oberfläche zeigte keinen Riß, wenngleich ein dumpfes Krachen zuweilen darüber hinlief. Seine Festigkeit schien also – wenigstens bisher – nicht durch den Anprall von Wind und Wellen gelitten zu haben.

Die Belle-Roulotte war nicht ohne große Anstrengungen in die Mitte der Eistafel gebracht worden. Dort hatte man sie mit den Seilen und Stangen des bei früheren Jahrmarktsvorstellungen benützten Zeltes so stark befestigt, daß sie nicht mehr Gefahr lief, umgestürzt zu werden.

Am beunruhigendsten aber waren die heftigen Zusammenstöße mit großen Eisbergen, die sich mit ungleicher Schnelligkeit fortbewegten, je nachdem sie in Strömungen oder Wirbel hineingerieten. Einige dieser Eisberge, von fünfzehn bis zwanzig Fuß Höhe, schienen sich wie beim Entern auf die Eistafel stürzen zu wollen. Man gewahrte sie von weitem, man sah sie kommen und vermochte ihrer brutalen Berührung doch nicht auszuweichen, es gab welche, die lärmend umschlugen, wenn die Verschiebung ihres Schwerpunktes ihr Gleichgewicht störte; aber wenn sie anstießen, so war die Erschütterung äußerst bedenklich. Die Stöße waren oft so stark, daß alles im Innern des Wagens zerbrochen wäre, wenn man nicht rechtzeitig gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen hätte. Man sah sich immerwährend der Gefahr einer möglichen und jähen Katastrophe ausgesetzt. Sobald daher das Nahen irgend eines großen Blockes gemeldet wurde, versammelten Herr Sergius und seine Gefährten sich um die Belle-Roulotte und klammerten sich an einander an. Jean suchte in Kayettens Nähe zu kommen. Die schrecklichste von allen Möglichkeiten wäre die gewesen, getrennt, auf verschiedenen Trümmern der Eistafel fortgeschwemmt zu werden. Übrigens gewährte die Tafel weniger Sicherheit an ihren Rändern, als in der Mitte, wo ihr Durchmesser bedeutender war.

Während der Nacht hielten Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean und Clou abwechselnd Wache. Sie verwandten ihre ganze Sorgfalt auf die Erforschung[199] der tiefen Dunkelheit, in welcher ungeheure weiße Gebilde wie Gespenster vorüberglitten. Obgleich der Raum von Nebeln erfüllt war, die der endlose Sturm vor sich her trieb, goß der sehr niedrig am Horizont schwebende Mond einen blassen Schein darüber aus und machte die Eisberge in ziemlicher Entfernung kenntlich. Dann scheuchte der Ruf des eben Wachenden die übrigen empor und sie erwarteten vereint die Folgen des Stoßes.

Häufig änderte der Eisberg seinen Kurs und trieb in einiger Entfernung vorüber; aber manchmal gab es Zusammenstöße, daß die Seile rissen und die Stangen der Belle-Roulotte nachgaben. Es war, als ob alles brechen sollte; man mußte sich glücklich schätzen, die Kollision ausgehalten zu haben.

Und noch immer war die Temperatur anormal! Und in der ersten Woche des November war das Meer noch nicht zugefroren! Noch immer war die See, mehrere Grade oberhalb des Polarkreises, schiffbar! Es war wirklich ein Verhängnis! Und wäre wenigstens ein auf seiner Jagd verspäteter Walfischfahrer in Sicht gekommen! man hätte ihm Signale geben, seine Aufmerksamkeit durch Schüsse erregen können! Er würde die Schiffbrüchigen aufnehmen und in irgend einem amerikanischen Hafen, nach Viktoria, San Francisco, San Diego, oder an die sibirische Küste, nach Petropawlowsk oder Okholsk gebracht haben... Aber nein! kein einziges Schiff! Nichts als treibende Eisberge! Nichts als das ungeheure, öde Meer, das im Norden von der unübersteiglichen Eisbarriere begrenzt war!«

Zum Glück bot die Nahrungsfrage, wenn die klimatische Anomalie nicht etwa unwahrscheinlich lange fortdauerte, für die nächsten Wochen keinen Grund zu Besorgnis. Im Hinblick auf eine lange Reise durch die asiatischen Gebiete, wo man nicht leicht Nahrungsmittel bekam, hatte man einen reichlichen Vorrat von Konserven, Mehl, Reis, Schmalz und so weiter mitgenommen. Um die Ernährung des Gespanns hatte man sich – leider! – nicht mehr zu kümmern. Man muß gestehen, wenn Vermout und Gladiator den Eisbruch überlebt hätten, so hätte man jetzt ihren Bedürfnissen kaum zu entsprechen vermocht.

Bis zum sechsten November ereignete sich nichts Neues; höchstens daß der Wind ein wenig schwächer wurde und sich unbedeutend nach Norden drehte. Der Tag währte jetzt kaum zwei Stunden – was die Schrecken der Situation noch vergrößerte. Trotz der unaufhörlichen Beobachtungen des Herrn Sergius wurde es sehr schwer, den zurückgelegten Weg zu kontrollieren und da man kein Besteck machen konnte, wußte man nicht mehr, wo man war.

Indessen vermochte man am siebenten November einen Orientierungspunkt zu ermitteln und ziemlich genau zu fixieren.

An jenem Tage hatten Herr Sergius und Jean, von Kayette begleitet, gerade als die schwachen Lichtstrahlen durch den Raum zitterten, sich auf die vordere Spitze der Eistafel begeben.


Laute Rufe dessen, der wachte... (Seite 200.)
Laute Rufe dessen, der wachte... (Seite 200.)

Unter dem Jahrmarktsgeräte befand sich ein ziemlich gutes Fernrohr, dessen Clou sich zu bedienen pflegte,[200] um einfältigen Zuschauern den durch einen quer über die Linse gespannten Faden repräsentierten Äquator und die durch im Tubus befindlichen Insekten dargestellten Mondbewohner zu zeigen. Nachdem er dieses Fernrohr sorgfältig gereinigt hatte, hob Jean dasselbe ans Auge, um nach Land auszuspähen.[201]

Er prüfte bereits seit einigen Sekunden aufmerksam den Horizont, als Kayette die Hand gen Norden ausstreckte.

»Herr Sergius,« sagte sie, »ich glaube, ich sehe da drüben... Ist es nicht ein Berg?...«

»Ein Berg?...« entgegnete Jean. »Nein... wahrscheinlich nur ein Eisberg!«

Er richtete sein Fernrohr auf den von der jungen Indianerin bezeichneten Punkt.

»Kayette hat recht!« sagte er gleich darauf.

Und er reichte das Instrument Herrn Sergius, der es seinerseits auf die bezeichnete Stelle richtete.

»Ja!« sagte er. »Es ist sogar ein ziemlich hoher Berg!... Kayette hat sich nicht getäuscht!«

Nach einer neuen Besichtigung konstatierte man, daß sich in nördlicher Richtung, in einer Entfernung von cirka fünf bis sechs Meilen, Land befinden müsse.

Das war eine Thatsache von ungeheurer Wichtigkeit.

»Um von einem so hohen Berge überragt zu wer den,« bemerkte Jean, »muß das Land schon eine bedeutende Ausdehnung haben...«

»Allerdings, Jean,« antwortete Herr Sergius, »und sowie wir in die Belle-Roulotte zurückkehren, werden wir die Lage desselben auf der Karte zu finden suchen. Das wird uns ermöglichen, unsere eigene Position zu ermitteln.«

»Jean... es sieht so aus, als ob von diesem Berge Rauch aufstiege,« sagte Kayette.

»Also sollte er ein Vulkan sein?« versetzte Herr Sergius.

»Ja!... ja!...« fügte Jean hinzu, der das Fernrohr wieder ans Auge gesetzt hatte. »Man sieht deutlich Rauch...«

Aber schon begann der Tag zu erlöschen und trotz der Hilfe des Vergrößerungsglases entschwanden die Umrisse des Berges langsam dem Blick.

Hingegen erschien eine Stunde später, als es fast völlig dunkel geworden, ein heller Lichtschein in der Richtung, die man sich vermittelst einer in den Schnee gezogenen Linie gemerkt hatte.

Und alle drei kehrten ins Lager zurück.

»Gehen wir die Karte studieren,« sagte Herr Sergius.

Jean schlug in seinem Atlas die Karte auf, welche die jenseits der Beringstraße gelegenen nördlichen Regionen zur Anschauung brachte, und man stellte folgendes fest.

Da Herr Sergius bereits erkannt hatte, daß einerseits die Strömung, die anfangs nach Norden geflossen war, cirka fünfzig Meilen außerhalb der Meerenge nach Nordwesten abbog, und daß andererseits die Eistafel diese neue[202] Richtung bereits seit Tagen verfolgte, mußte man nachsehen, ob sich im Nordwesten Land befände. In der That zeigte die Karte, etwa zwanzig Meilen vom Festlande entfernt, das Vorhandensein einer großen Insel an, welcher die Geographen den Namen Wrangel-Land beigelegt haben und deren Umrisse auf der Nordseite noch kaum ermittelt sind. Übrigens war es sehr wahrscheinlich, daß die Eistafel nicht daran landen, sondern daß die Strömung sie noch weiter durch den breiten Meerarm tragen werde, der die genannte Insel von der sibirischen Küste trennte.

Herr Sergius hegte keinerlei Zweifel über die Identität des Wrangel-Landes. Dasselbe wird wirklich zwischen dem Hawan- und dem Thomas-Kap von einem thätigen Vulkan beherrscht, der auf den neuesten Karten angegeben ist. Das konnte nur der von Kayette bemerkte Vulkan sein, dessen Schein bei sinkender Nacht sichtbar geworden war.

Daraufhin war es leicht, den von der Eistafel seit ihrem Austritt aus der Beringstraße verfolgten Weg zu erkennen. Die Küste links von sich liegen lassend, hatte sie das Serdtse-Kamen-Kap, die Kolioutchni-Bai, das Vorgebirge Wank-Rem, das Nordkap umschifft; dann war sie in den Long-Kanal geraten, der das Wrangel-Land vom Küstengebiete der Tschuktschenprovinz trennt.

In welche Seestriche würde die Tafel gerissen werden, wenn die Strömung sie durch den Long-Kanal getragen hätte? Unmöglich, das vorauszusehen. Was Herrn Sergius besonders beunruhigen mußte, das war, daß die Karte im Norden kein anderes Land verzeichnet. Die Eisbarriere dehnt sich über jenen ungeheuren Raum aus, dessen Mittelpunkt der Pol selber bildet.

Die einzige Rettung, auf die man noch hoffen durfte, war, daß das Meer unter der Einwirkung intensiverer Kälte in seiner ganzen Ausdehnung zufröre – was nicht mehr lange anstehen konnte, was schon vor mehreren Wochen geschehen sein sollte! Dann würde das Treibeis sich am Rande des Eisfeldes stauen, und indem sie gen Süden hinab zogen, konnten die Schiffbrüchigen das sibirische Festland zu erreichen suchen. Aber was sollten sie auf der langen Reise anfangen, wenn sie sich in Ermanglung von Zugtieren gezwungen sahen, die Belle-Roulotte im Stiche zu lassen?

Der Wind blies noch immer, wenn auch nicht ganz so heftig wie zuvor, aus Osten. In diesen abscheulichen Seestrichen rollten lange Wogen mit großem Geräusch heran und prallten von den Kanten des schwimmenden Blockes ab, um sich dann emporschlagend darüber zu ergießen, wie über das Verdeck eines beilegenden Schiffes, und solche Erschütterungen hervorzurufen, daß die Eistafel über und über schwankte und die Befürchtung wachrief, sie werde sich plötzlich spalten. Dabei drohten große Wassermassen, bis zur Belle-Roulotte hinschlagend, alle draußen Befindlichen hinwegzuschwemmen.[203]

Auf den Rat des Herrn Sergius hin wurden denn auch einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Da während der ersten Novemberwoche reichlich Schnee gefallen war, fiel es nicht schwer, nach der dem Wellenschlage am meisten ausgesetzten Seite hin eine Art Damm auf der Eistafel herzustellen. Alle gingen ans Werk, und als der gehörig gepreßte und hartgestampfte Schnee in einer Höhe und Breite von vier bis fünf Fuß aufgeschichtet worden, bildete er einen Schutzwall, über dessen Kamm höchstens der Gischt herüberspritzte.

Während der Arbeit geschah es hin und wieder, daß Xander und Napoleone einander mit Schneeballen bewarfen und auch Clou-de-Girofles Rücken nicht verschonten. Aber wiewohl die Umstände nicht gerade zur Belustigung angethan waren, schalt Herr Cascabel nicht mit allzu strenger Stimme, bis eines schönen Tages ein Ball sein Ziel verfehlte und Herrn Sergius an den Hut flog.

»Wer war so erbärmlich ungeschickt?...« rief Herr Cascabel.

»Ich, Vater!« antwortete die kleine Napoleone ganz erschrocken.

»Schäme dich!« sagte Herr Cascabel. »Herr Sergius, entschuldigen Sie das schlimme Kind...«

»Lassen Sie doch, Freund Cascabel!« antwortete Herr Sergius. »Sie soll mir einen Kuß geben und damit ist die Sache erledigt!«

Und so geschah es.

Man hatte nicht nur auf einer Seite der Eistafel einen Damm errichtet; bald war die Belle-Roulotte allenthalben von einer Art Eiswall umgeben, welcher sie noch wirksamer zu schützen vermochte, während ihre bis an die Nabe eingegrabenen Räder ihr absolute Unbeweglichkeit sicherten. Der Wall reichte zur oberen Galerie hinan, aber ein schmaler Gang war an seiner Innenseite, rings um den Wagen, belassen worden. Das Gefährt glich einem inmitten von Eisbergen überwinternden Schiffe, dessen Rumpf durch einen Schneepanzer gegen Frost und Sturmwind geschützt ist. Wenn die Eistafel nicht zerschellte, so hatten die Schiffbrüchigen nichts mehr vom Wellenschlage zu befürchten, und so würde man vielleicht den Augenblick abwarten können, wo der arktische Winter endgültigen Besitz von diesen hyperboreischen Regionen ergriff.

Aber sobald dieser Augenblick kam, würde man nach dem Festlande aufbrechen, würde dem rollenden Hause, das seine Inwohner durch die ganze neue Welt geführt hatte, dem festen und sicheren Obdach der Familie den Rücken kehren müssen! Inmitten des Polarkreises verlassen, würde die Belle-Roulotte im Eistreiben der heißen Jahreszeit zu Grunde gehen!

Wenn Herr Cascabel, der doch sonst so philosophisch, so optimistisch veranlagt war, daran dachte, so hob er die Hände zum Himmel empor und verfluchte sein Mißgeschick; er maß sich die Schuld von all diesem Unglückbei und vergaß, daß es jenen Schurken zuzuschreiben sei, die ihn in den Schluchten der Sierra Nevada bestohlen hatten und also eigentlich für die ganze Situation verantwortlich waren!

Umsonst suchte Cornelia ihn, erst mit guten Worten, dann mit heftigem Tadel, seinen düstern Gedanken zu entreißen. Umsonst machten seine Kinder und sogar Clou ihren Anteil an jenem verhängnißvollen Entschlusse geltend. Umsonst wiederholten sie immer wieder, daß jener Reiseplan die Zustimmung der ganzen Familie gehabt habe! Umsonst suchten Herr Sergius und das »Vöglein« den untröstlichen Cäsar zu trösten!... Er wollte von nichts hören.

»Du bist also kein Mann mehr?...« sagte Cornelia eines Tages zu ihm, indem sie ihn derb schüttelte.

»Keinesfalls in demselben Grade wie du!« antwortete er, während er sein durch diese eheliche Mahnung gestörtes Gleichgewicht wieder zu erlangen suchte.


Der Schneewall glich einer Schutzwehr. (Seite 204.)
Der Schneewall glich einer Schutzwehr. (Seite 204.)

Im Grunde war Frau Cascabel voll Besorgnis wegen der Zukunft; aber sie empfand die Notwendigkeit, gegen den Kleinmut ihres sonst so widerstandsfähigen Mannes zu reagieren.

Inzwischen begann die Nahrungsfrage Herrn Sergius zu beschäftigen. Vor allem war es wichtig, daß die Verköstigung bis zu dem Tage gesichert sei, wo man sich einen Weg über das Eisfeld zu bahnen vermochte oder aber bis die Belle-Roulotte die sibirische Küste erreichte. Es wäre unnütz gewesen, auf die Jagd zu rechnen in einer Jahreszeit, wo die Schwärme von Meervögeln nur mehr selten durch den Nebel vorbeizogen. Folglich gebot die Vernunft, die Vorräte im Hinblick auf einen vielleicht langwierigen Übergang in Rationen einzuteilen.

Unter diesen Umständen langte die Eistafel, von unwiderstehlichen Strömungen fortgetragen, auf der Höhe der nördlich von der asiatischen Küste gelegenen Anjou-Inseln an.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 196-206.
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