VII. Ein gelungener Streich des Herrn Cascabel.

[244] Der Februar ist in diesen Breiten so kalt, daß das Quecksilber im Thermometer gefriert. Freilich ist man noch weit von den Temperaturverhältnissen der intrastellarischen Räume entfernt, von jenen zweihundertdreiundsiebzig Grad unter Null, welche die unbeweglich gemachten Moleküle der Körper in einen Zustand absoluter Festigkeit versetzen. Und dennoch hätte man glauben können, daß die Luftmoleküle nicht mehr durcheinander glitten, daß die Atmosphäre erstarrt sei. Die eingeatmete Luft brannte wie Feuer. Das Sinken der Thermometersäule war so bedeutend, daß die Inwohner der Belle-Roulotte sich entschließen mußten, dieselbe nicht mehr zu verlassen. Der Himmel war außerordentlich rein; die Gestirne glänzten so unvergleichlich klar, daß man wähnen mochte, der Blick erreiche die äußersten Tiefen des Himmelsgewölbes. Was das Tageslicht betrifft, so war es selbst um die Mittagsstunde bloß ein fahles Gemisch von Morgen- und Abenddämmerung.

Trotzdem zögerten die Eingeborenen aus alter Gewohnheit nicht, diesen klimatischen Umständen zu trotzen. Aber welche Vorsichtsmaßregeln sie ergriffen, um ihre Füße, ihre Hände, ihre Nase vor plötzlichem Erfrieren zu schützen! Den Körper in Renntierfell gehüllt, den Kopf unter der Pelzmütze verborgen, zeigten sie nichts von ihrer Persönlichkeit, sondern gingen wie wandelnde Pelzbündel umher. Und weshalb wagten sie sich so aus ihren Wohnungen hervor?


Das waren sich bewegende Pelzbündel. (Seite 244.)
Das waren sich bewegende Pelzbündel. (Seite 244.)

Weil Tschu-Tschuk es befahl. Mußte man sich doch vergewissern, ob die Gefangenen, die ihm ihren täglichen Besuch nicht mehr abstatten konnten, nicht[244] etwa das Weite gesucht hätten. Überflüssige Vorsicht bei solcher Witterung!

»Schönen guten Abend, Amphibiengesindel!« rief ihnen Herr Cascabel von innen zu, als er sie durch die kleinen Fenster erblickte, die er auf der Innenseite vom Eise befreit hatte. »Diese Tiere müssen Seehundsblut in den[245] Adern haben!... Sie gehen bei einer Kälte umher, bei der ehrliche Leute in fünf Minuten erfrieren würden!«

In den hermetisch verschlossenen Abteilungen der Belle-Roulotte erhielt die Temperatur sich indessen auf einer erträglichen Höhe. Die Wärme des Küchenofens, den man mit fossilem Holze heizte – wodurch man den Petroleumvorrat zu schonen vermochte – teilte sich sämtlichen Kammern mit, so daß man dieselben sogar von Zeit zu Zeit lüften mußte. Aber wenn die äußere Thür geöffnet wurde, gefror alles Flüssige augenblicklich. Der Unterschied zwischen der inneren und äußeren Atmosphäre betrug nicht weniger als vierzig Grad, – was Herr Sergius konstatiert haben würde, wenn die Thermometer nicht von den Eingeborenen geraubt worden wären.

Gegen Ende der zweiten Februarwoche zeigte die Temperatur eine schwache Tendenz zu steigen. Da der Wind sich nach Süden gedreht hatte, begannen die Schneestürme von neuem mit unvergleichlicher Wut über Neusibirien hinzurasen. Wäre die Belle-Roulotte nicht von hohen Felsblöcken geschützt und bis über die Räder im Schnee vergraben gewesen, sie hätte den Windstößen keinen Widerstand zu leisten vermocht; so aber gab sie keinen Anlaß zu Besorgnissen hinsichtlich ihrer Sicherheit.

Zwar stellten sich noch einige heftige Fröste ein, welche die Atmosphäre jählings herabdrückten; aber gegen die Mitte des Monats sank sie im Durchschnitt nicht mehr über zwanzig Grad unter Null herab.

So wagten Herr Sergius, Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou-de-Girofle sich denn wieder ins Freie, indem sie die sorgfältigsten Vorsichtsmaßregeln ergriffen, damit der Übergang nicht allzu brutal erscheine. Vom hygieinischen Standpunkt aus betrachtet war dies die allergrößte Gefahr, der sie sich aussetzen konnten.

Die Umgebung des Lagers war gänzlich unter dem einförmigen weißen Teppich verschwunden; es war unmöglich, die Unebenheiten des Erdbodens zu unterscheiden. Und daran war nicht etwa die Dunkelheit Schuld; denn zwei Stunden des Tages hindurch färbte der südliche Horizont sich mit einem fahlen Schimmer, einem Widerscheine glutloser Strahlen, der mit dem Nahen der Frühlings-Nachtgleiche immer stärker werden würde. Man konnte also einige Spaziergänge unternehmen und sah sich vor allem durch Tschu-Tschuks Aufforderung veranlaßt, in der Wohnung dieses Herrschers vorzusprechen.

Man fand den starrsinnigen Häuptling in unveränderter Stimmung. Er riet den Gefangenen sogar, unverzüglich ein Lösegeld von dreitausend Rubeln herbeizuschaffen; sonst werde er wissen, was er zu thun habe.

»Abscheulicher Lump!«... antwortete ihm Herr Cascabel in jenem reinen Französisch, das Seine Majestät nicht verstand. »Jawohl!... Dreifacher Dummkopf!... Vierfacher Tölpel!... König der Idioten!...«[246]

Allerdings förderten diese Bezeichnungen, die so gut auf den Beherrscher der Liakhossgruppe paßten, die Dinge nicht sonderlich. Die Sache wurde sogar bedenklich, da Tschu-Tschuk mit Gewaltmaßregeln drohte.

Da, unter dem Einflusse konzentrierter Wut, kam Herrn Cascabel eine geniale Inspiration, – was von einem so außerordentlich scharfsinnigen Manne gewiß nicht überraschen wird.

»Bei allen Seehunden!« rief er eines schönen Morgens, »wenn diese Posse, diese köstliche Posse gelänge!... Und warum nicht?... solchen Trotteln gegenüber!«

Obgleich ihm dieser Ausruf entschlüpft war, glaubte Herr Cascabel sein Geheimnis bewahren zu sollen. Er mochte es niemand mitteilen – nicht einmal Herrn Sergius, nicht einmal Cornelia.

Indessen schien die Fertigkeit in der russischen Sprache, deren sich sämtliche Völkerschaften Nordsibiriens bedienen, eine unerläßliche Bedingung für den Erfolg seines Planes zu bilden. Und zwar in dem Grade, daß, während Kayette sich unter der Leitung ihres Freundes Jean in das Studium der französischen Sprache vertiefte, Herr Cascabel sich unter der Leitung seines Freundes Sergius in der russischen zu vervollkommnen beschloß. Und hätte er einen hingebenderen Lehrmeister finden können?

Dementsprechend teilte Herr Cascabel, als er am sechzehnten Februar mit Herrn Sergius in der Nähe der Belle-Roulotte spazieren ging, diesem seinen Wunsch mit, das Russische gründlicher zu erlernen.

»Sehen Sie,« sagte er, »da wir nach Rußland gehen, wird mir das Russische sehr nützlich sein und mir während unseres Aufenthaltes in Perm und Nischnij manche Verlegenheit ersparen.«

»Einverstanden, mein lieber Cascabel,« antwortete Herr Sergius. »Indessen könnten Sie sich mit dem, was Sie bereits von unserer Sprache wissen, beinahe behelfen.«

»Nein, Herr Sergius, nein! Wenn ich auch so ziemlich verstehe, was man mir sagt, so kann ich mich doch nicht meinerseits verständlich machen, und dahin möchte ich's eben bringen.«

»Wie es Ihnen gefällig ist.«

»Und überdies, Herr Sergius, wird es uns immerhin die Zeit vertreiben!«

Schließlich hatte Herrn Cascabels Vorschlag nichts Erstaunliches und man zeigte sich auch nicht überrascht davon.

So lernte er denn von Herrn Sergius mit großem Eifer Russisch; er arbeitete täglich zwei bis drei Stunden – wobei er nicht sowohl auf die Grammatik, als auf die Aussprache Gewicht legte; letztere schien für ihn die Hauptsache zu bilden.

Nun sprechen die Russen zwar sehr leicht und ohne fremdartigen Accent[247] französisch; den Franzosen aber fällt das Russische ziemlich schwer. Man wird sich daher kaum einen Begriff von der Mühe machen, welche Herr Cascabel sich gab, von den anstrengenden Sprechübungen, denen er sich unterzog, von den schallenden Tönen, mit welchen er die Belle-Roulotte erfüllte, um es zur Vollkommenheit zu bringen.

Und bei seiner natürlichen Begabung für Sprachen machte er Fortschritte, die sein Personal in Erstaunen setzten.

Nach beendigter Lektion ging er dann ans Meeresufer, wo er vor Zuhörern sicher war, und übte sich dort mit schallender Stimme im Aussprechen verschiedener Sätze in verschiedenen Tonarten, wobei er das »r« nach russischer Sitte rollte. Und der Himmel weiß, daß er sich während der Ausübung seines Gauklerberufes eine starke Betonung jenes Buchstabens angewöhnt hatte!

Manchmal begegnete er Ortik und Kirschef, und da die beiden Matrosen keine Silbe französisch konnten, unterhielt er sich russisch mit ihnen und vergewisserte sich so, daß er recht verständlich zu werden beginne.

Übrigens kamen die beiden Männer jetzt häufiger in die Belle-Roulotte. Kayette, auf welche Kirschefs Stimme noch immer Eindruck machte, strengte ihr Gedächtnis an, um sich der Gelegenheit zu erinnern, bei welcher sie dieselbe gehört haben mochte...

Zwischen Ortik und Herrn Sergius drehte sich das Gespräch, an welchem jetzt auch Herr Cascabel teilnahm, unaufhörlich um ein mögliches Mittel zur Flucht; und doch gelangte man zu keinem Resultate.

»Es giebt eine Chance, an die wir nicht gedacht haben und die sich dennoch bieten könnte,« sagte Ortik eines Tages.

»Welche?...« fragte Herr Sergius.

»Wenn das Polarmeer erst wieder eisfrei geworden ist,« antwortete der Matrose, »so ist es nichts seltenes, daß Walfischfahrer an der Liakhossgruppe vorübersegeln. Wäre es in diesem Falle nicht möglich, Signale zu geben, irgend ein Schiff anzurufen?«

»Das hieße, die Mannschaft des Schiffes ebenfalls der Gefangennehmung durch Tschu-Tschuk aussetzen und würde nichts zu unserer Befreiung beitragen,« antwortete Herr Sergius. »Die Mannschaft würde der Übermacht erliegen und in die Hände der Eingeborenen fallen...«

»Dann wird auch das Meer nicht vor drei Monaten eisfrei sein,« warf Herr Cascabel hin; »und solange werde ich mich nie und nimmer gedulden!...«

Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu:

»Und dann, wenn es uns selbst mit Zustimmung jenes wackern alten Tuck-Tuck gelänge, uns auf einem Walfischfahrer einzuschiffen, so würden wir gezwungen sein, die Belle-Roulotte zurückzulassen...«[248]

»Das ist ein Opfer, in welches wir uns vermutlich sowieso fügen müssen,« bemerkte Herr Sergius.

»Uns fügen?« rief Herr Cascabel. »Warum nicht gar!«

»Sollten Sie einen Ausweg gefunden haben?...«

»Hm! hm!«

Herr Cascabel äußerte sich nicht weiter. Aber welch ein Lächeln flog über seine Lippen, welch ein Blitz leuchtete in seinen Augen auf!

Als sie von dieser Antwort ihres Mannes hörte, sagte Cornelia denn auch:

»Cäsar hat sicher etwas erdacht!... Was?... ich weiß es nicht! Aber schließlich war das von einem solchen Manne vorauszusehen!«

»Der Vater ist schlauer als Herr Tschu-Tschuk!« versetzte die kleine Napoleone.

»Habt ihr bemerkt,« fragte Xander, »daß er die Gewohnheit angenommen hat, ihn einen wackern Alten zu nennen?... Ein freundschaftlicher Spitzname!«

»Wenn es nicht etwa gerade das Gegenteil ist!...« meinte Clou-de-Girofle.

Während der zweiten Hälfte des Februar stieg die Temperatur sehr fühlbar. Dank dem Südwinde verbreiteten sich einige minder kalte Luftströmungen durch die Atmosphäre.

Es war also keine Zeit zu verlieren. Nachdem man infolge der verspäteten Winterfröste mit dem Eisbruch in der Beringstraße gekämpft hatte, würde es wirklich etwas stark sein, sich durch verfrühtes Frühlingstauwetter denselben Gefahren ausgesetzt zu sehen.

In der That, wenn Herrn Cascabels Plan gelingen sollte, wenn er Tschu-Tschuk dazu bewog, ihn mitsamt seinem Personal und Material ziehen zu lassen, so mußte die Abreise stattfinden, während das gleichmäßig gefrorene Eisfeld sich noch von der Liakhossgruppe bis an die sibirische Küste erstreckte.

Ein gutes Renntiergespann würde diesen Teil der Reise unter verhältnismäßig günstigen Umständen zurücklegen können und die Reisenden brauchten keine neue Eiskalamität zu befürchten.

»Sagen Sie, mein lieber Cascabel,« fragte Herr Sergius eines Tages, »Sie hoffen also, daß jener alte Schelm von einem Tschu-Tschuk Ihnen die Renntiere stellen werde, die Sie zur Beförderung Ihres Wagens auf das Festland brauchen?«

»Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel ernst »Tuck-Tuck ist kein alter Schelm. Er ist sogar ein würdiger und vortrefflicher Mann! Wenn er sich dazu versteht, uns ziehen zu lassen, so wird er uns erlauben, die Belle-Roulotte mitzunehmen, und wenn er das erlaubt, so kann er nicht weniger[249] thun, als uns zwanzig, fünfzig, hundert, tausend Renntiere anzubieten – falls ich es verlange!«

»Also sind Sie Ihrer Sache gewiß?...«

»Ob ich meines Tuck-Tuck gewiß bin?... Jawohl, so gewiß, als hielte ich seine Nasenspitze zwischen meinen Fingern, Herr Sergius!... Und ich habe einen festen Griff!«

Noch immer jene sichere Haltung, noch immer jenes selbstzufriedene Lächeln! Und an jenem Tage legte er noch obendrein Zeige- und Mittelfinger an die gekräuselten Lippen und sandte einen Kuß an die Adresse Seiner einheimischen Majestät ab. Da Herr Sergius indessen sah, daß er die absoluteste Zurückhaltung bezüglich seiner Pläne zu beobachten wünschte, so hatte er den guten Geschmack, nicht weiter in ihn zu dringen.

Inzwischen begannen die Unterthanen Tschu- Tschuks, dank der milderen Temperatur, wieder ihren gewohnten Beschäftigungen, der Jagd auf Vögel und auf die von neuem auf der Eisfläche erscheinenden Seehunde, nachzugehen. Auch die während der großen Fröste unterbrochenen religiösen Ceremonien wurden wieder aufgenommen und riefen die Andächtigen, wie früher, in die Götzengrotte.

Es war am Freitag einer jeden Woche, wo das Zusammenströmen des ganzen Stammes diesen Ceremonien den größten Glanz verlieh. Die Freitage scheinen die Sonntage Neusibiriens zu sein. Der neunundzwanzigste Februar – das Jahr eintausendachthundertachtundsechzig war ein Schaltjahr – war ein solcher Freitag und sollte mit einer allgemeinen Prozession der Eingeborenen gefeiert werden.

Am Vorabend dieses Festes begnügte Herr Cascabel sich, beim Schlafengehen einfach zu sagen: »Morgen werden wir der Ceremonie im Vorspük in Gesellschaft unseres Freundes Tuck-Tuck anwohnen.«

»Wie?... Das willst du Cäsar?...« antwortete Cornelia.

»Ich will es!«

Was hatte dieser so kategorisch formulierte Vorschlag zu bedeuten? Hoffte Herr Cascabel etwa den Inselherrscher zu besänftigen, indem er sich an seinen abergläubischen Andachtsübungen beteiligte? Gewiß, Tschu-Tschuk würde es gern sehen, wenn die Gefangenen den Göttern des Landes huldigten. Aber es war etwas viel verlangt, daß sie dieselben anbeten und sich zur einheimischen Religion bekennen sollten; Herr Cascabel würde schwerlich bis zur Apostasie gehen, um Seine neusibirische Majestät zu ködern!... Pfui!...

Wie dem auch sein mochte, am nächsten Morgen war der ganze Stamm schon bei Tagesanbruch in Bewegung. Ein herrliches Wetter; höchstens zehn Grad Kälte. Und dann war es bereits vier bis fünf Stunden lang hell, mit[250] einer Vorahnung von Sonnenstrahlen, deren Spitzen über den Horizont herausglitten.

Die Einwohner waren aus ihren Erdlöchern hervorgekommen. Männer, Frauen, Kinder, Greise und Jünglinge hatten ihre schönsten Kleider angelegt, lange Röcke aus Seehundsfell, Palske aus Renntierhaut, alles mit dem Pelz nach außen. Es war eine unvergleichliche Schaustellung von weißem und[251] schwarzem Rauhwerk, von glasperlenbestickten Mützen, bunt verzierten Brustlatzen, ledernen Stirnbinden, Ohrgehängen, Armringen und aus Walroßbein geschnitzten, im Nasenknorpel befestigten Schmucksachen.

Und doch schien dies alles bei einer solchen Feierlichkeit nicht zu genügen; denn einige Vornehme des Stammes hatten es für angezeigt gehalten, sich noch reicher zu schmücken; und es waren die verschiedentlichen, aus der Belle-Roulotte entwendeten Gegenstände, welche die Kosten dieser Ausschmückung zu tragen hatten.


Die Unterthanen Tschu-Tschuks nahmen ihre Beschäftigung wieder auf. (Seite 250.)
Die Unterthanen Tschu-Tschuks nahmen ihre Beschäftigung wieder auf. (Seite 250.)

In der That, gar nicht zu reden von dem Flitterstaat der Gaukler, den sie angelegt, den Cirkushelmen und Clownhüten, die sie aufgesetzt hatten, trugen einige einen als Bandelier umgehängten Strick, an welchem die beim Jonglieren benützten Ringe klapperten, während andere eine aus Kugeln und Hanteln bestehende Kette am Gürtel trugen; endlich prunkte der große Häuptling Tschu-Tschuk mit einem Aneroid-Barometer, den er wie einen frisch geschaffenen neusibirischen Orden auf der Brust befestigt hatte.

Und die Instrumente des Jahrmarktsorchesters vereinten ihre Töne zu einem furchtbaren Konzert, einem tollen Getöse, in dem das Klapphorn mit der Posaune, die Handtrommel mit der großen Trommel um den Vorrang stritt!

Cornelia war ebenso außer sich wie ihre Kinder, als sie diese betäubenden Mißklänge vernahm. Sie hatten alle Luft, die Künstler auszupfeifen, die nach Clou-de-Girofles Ansicht »wie Seehunde« spielten.

Nun und – es war unglaublich! – Herr Cascabel lächelte diesen barbarischen Musikanten zu; er geizte weder mit Komplimenten noch mit Hurrarufen; er klatschte in die Hände; er schrie »Bravo! Bravo!« und erklärte wiederholt:

»Diese wackern Leute setzen mich wahrhaftig in Erstaunen!... Sie sind außerordentlich begabt für Musik, und wenn sie meiner Truppe beitreten wollen, so stehe ich ihnen für einen durchschlagenden Erfolg auf der Messe von Perm, wie auch später auf dem Kirchweihfeste von Saint-Cloud gut!«

Inzwischen wälzte der Zug sich unter entsetzlichem Getöse durch das Dorf auf die heilige Stätte zu, wo die Götzen der Huldigung ihrer Anbeter harrten. Tschu-Tschuk führte den Zug an. Herr Sergius und Herr Cascabel, dessen Familie und die beiden russischen Matrosen schritten dicht hinter ihm drein, gefolgt von der ganzen Bevölkerung Turkefs.

Der Zug hielt vor der Felsengrotte, in deren Hintergrunde die einheimischen Gottheiten emporragten, die zu Ehren des Festes frisch bemalt waren.

Nun betrat Tschu-Tschuk das Vorspük mit emporgehobenen Händen, beugte dreimal den Kopf und kauerte auf einem Teppich aus Renntierfell, der auf dem Boden ausgebreitet lag, nieder. So kniete man hierzulande.[252]

Herr Sergius und seine Gefährten beeilten sich, dem Herrscher nachzuahmen und das Publikum warf sich hinter ihnen zu Boden.

Als eine andächtige Stille eingetreten war, richtete Tschu-Tschuk im Tone eines anglikanischen Predigers eine halb gesungene, halb gesprochene Rede an die drei Götzen, die in ihrem hieratischen Prunke herrlich dastanden...

Plötzlich antwortete ihm eine Stimme, – eine mächtige, wohltönende Stimme, die bis in die entlegensten Winkel der Grotte hallt.


Plötzlich antwortete ihm eine Stimme. (Seite 254.)
Plötzlich antwortete ihm eine Stimme. (Seite 254.)

O Wunder! Diese Stimme kommt aus dem Schnabel einer der Gottheiten, der rechts stehenden, und sie sagt in russischer Sprache:

»Ani sviati, éti innostranzi, katori ote zapada prichli! Zatchéme ti ikhe podirjaïche?«

Das bedeutet:

»Diese aus Westen gekommenen Fremdlinge sind heilig! Warum hältst du sie zurück?«

Diese Worte, welche alle Gläubigen deutlich vernahmen, riefen starres Erstaunen hervor.

Es ist das erste Mal, daß die Götter Neusibiriens mit ihren An betern zu konversieren geruhten.

Und nun dringt eine zweite, nachdrücklichere, eine befehlende Stimme aus dem Schnabel des links aufgepflanzten Götzen und spricht in vibrierendem Tone:

»Ja tibié prikajou étote arrestantóf otpoustite. Tvoïe narode doljne dlia ikhe same balchoïe vajestvo imiète i nime addate vcié vieschtchi katori ou ikhe bouili vziati. Ja tibié prikajou ou siberskoïé beregou ikhe lioksché vosvratitcia.«

Drei Sätze, die man folgendermaßen übersetzen mag und die offenbar an Tschu-Tschuk gerichtet waren:

»Du sollst diese Gefangenen in Freiheit setzen! Dein Volk soll ihnen die größte Rücksicht bezeigen, ihnen alles Geraubte zurückgeben! Ihr sollt ihnen die Rückkehr an die sibirische Küste erleichtern!«

Diesmal ging das Erstaunen in Schrecken über. Tschu-Tschuk hatte sich auf seinen zitternden Knieen erhoben, mit verstörtem Auge, aufgerissenem Munde und auseinander gespreizten Fingern, in einem Paroxysmus der Bestürzung. Auch die übrigen Eingeborenen hatten sich halb aufgerichtet, unschlüssig, ob sie sich niederwerfen oder die Flucht ergreifen sollten!

Schließlich nimmt die dritte, die mittlere Gottheit ihrerseits das Wort. Aber ihre Stimme ist schrecklich, zornvoll, drohend! Und mit welch tragischem Nachdruck sie die Silben artikuliert und dieselben wie Donnergerolle dröhnen läßt![254]

Dies sind die Worte, welche sie unmittelbar an Seine neusibirische Majestät richtete:

»Jesle ti take niè sdièlèle élote toje same diéne, kakda èti s viati tchéloviéki boudoute jelaïte tchorte s'tvoïe oblacte

Nämlich:

»Wenn dies nicht an dem Tage geschieht, wo diese heiligen Männer es wollen, so soll dein Stamm dem himmlischen Zorn verfallen!«

Jetzt röchelten König und Unterthanen vor Entsetzen, und lagen regungslos wie Leichen auf der Erde, während Herr Cascabel seine beiden Arme dankbar gegen die Götzen ausstreckte und ihre mächtige Intervention pries.

Und derweil hielten seine Gefährten sich die Seiten, um nicht in Lachen auszubrechen.

Eine einfache Bauchrednerscene, das war es, was dieser erstaunliche Mann, dieser unvergleichliche Künstler ersonnen hatte, um »seinen wackern Tuck-Tuck« kirre zu machen!

Und in der That bedurfte es keiner weiteren Anstrengung, um die abergläubischen Eingeborenen zum besten zu haben! »Die aus Westen gekommenen Fremdlinge,« – welch eine treffliche Bezeichnung Herr Cascabel da gefunden hatte! – »die aus Westen gekommenen Fremdlinge sind heilig!... Warum hält Tschu-Tschuk sie zurück?«

Nun denn, nein! Tschu-Tschuk würde sie nicht zurückhalten! Er würde sie ziehen lassen, sobald sie Luft dazu verspürten, und die Eingeborenen würden ihnen die Rücksicht bezeigen, welche solchen sichtlich unter himmlischem Schutze stehenden Männern gebührte!

Und während Ortik und Kirschef, die nichts von Herrn Cascabels Begabung zur Bauchrednerei wußten, ihr Staunen nicht verhehlten, sagte Clou begeistert:

»Welch ein Genie der Herr Direktor ist!... Welch ein Gehirn!... Welch ein Mensch!... wenn er nicht etwa...«

»Wenn er nicht etwa ein Gott ist!« fiel Cornelia ein, indem sie sich vor ihrem Manne verneigte.

Der Streich war gespielt. Und er war gelungen, dank der außerordentlichen, jeder Schilderung spottenden Leichtgläubigkeit der Neusibirier. Diese Leichtgläubigkeit hatte Herr Cascabel wohl bemerkt; sie hatte ihm den Gedanken eingegeben, sein Bauchrednertalent zu allgemeinem Nutz und Frommen zu verwenden.

Selbstverständlich wurden er und seine Gefährten mit all den Ehrenbezeigungen ins Lager zurückgeleitet, welche ihnen in ihrer Eigenschaft als heilige Männer gebührten. Tschu-Tschuk erschöpfte sich in Begrüßungen und Komplimenten, denen eine tüchtige Dosis von Furcht und Achtung zu Grunde[255] lag. Er war nahe daran, der Familie Cascabel und den Götzen von Kotelnii eine und dieselbe Anbetung zu zollen. Schließlich, wie hätte die so unwissende Bevölkerung von Turkef auf den Gedanken kommen sollen, daß sie das Opfer einer Mystifikation geworden sei? Kein Zweifel, die Gottheiten des Vorspük hatten wirklich ihre furchtbaren Stimmen erschallen lassen! Jene auf gut Russich erteilten Befehle waren wirklich aus ihren bisher stummen Schnäbeln gekommen! Und übrigens, war nicht bereits ein Präcedenz vorhanden? Sprach der Papagei Jako nicht auch? Hatten die Eingeborenen nicht voller Verwunderung den aus seinem Schnabel kommenden Worten gelauscht? Nun, was ein Vogel konnte, das würden Götter mit Vogelköpfen doch auch wohl im stande sein!

Von diesem Tage an durften Herr Sergius, Herr Cascabel und seine Familie, sowie die beiden Matrosen, die von ihrem Landsmanne reklamiert wurden, sich als frei betrachten. Die strenge Jahreszeit ging bereits zur Neige und die Temperatur begann erträglich zu werden. So beschlossen denn die Schiffbrüchigen, ihre Abreise von den Liakhoff-Inseln nicht länger aufzuschieben. Nicht als ob eine Wandlung in den Gesinnungen der Insulaner zu fürchten gewesen wäre! Dazu waren sie zu tief in ihrem Irrtum befangen. Herr Cascabel stand jetzt auf bestem Fuße mit seinem Freunde Tuck-Tuck, der ihm die Stiefel gewichst haben würde, wenn er es gewollt hätte! Es versteht sich von selber, daß der wackere Mann sofort Befehl gegeben hatte, alle aus der Belle-Roulotte entwendeten Gegenstände zurückzuerstatten. Er selber hatte Cäsar Cascabel knieend das Barometer überreicht, das er als Ordensdekoration getragen, und Cäsar Cascabel hatte geruht, ihm die Hand zu reichen, die Tschu-Tschuk andächtig küßte – diese Hand, der er die Kraft zutraute, Donnerkeile zu schleudern und Stürme zu entfesseln!

Um es kurz zu sagen, am achten März waren die Vorbereitungen zur Abreise beendigt. Herr Cascabel hatte zwanzig Renntiere als Vorspann für seinen Wagen verlangt und Tschu-Tschuk hatte sich beeilt, ihm hundert anzubieten, – wofür sein neuer Freund ihm dankte, indem er sich an die oben genannte Zahl hielt. Des weiteren forderte er nur den nötigen Futtervorrat, um seine Zugtiere während der Fahrt über das Eisfeld ernähren zu können.

Am Morgen des achten März nahmen Herr Sergius, die Familie Cascabel und die beiden russischen Matrosen von den Eingeborenen von Turkef Abschied. Der ganze Stamm hatte sich versammelt, um der Abreise seiner Gäste beizuwohnen und denselben eine glückliche Fahrt zu wünschen.

Allen voran war der »teure Tuck-Tuck« erschienen und zerfloß in sehr aufrichtiger Rührung. Herr Cascabel schritt zu ihm hin, klopfte ihm auf den Bauch und richtete die einfachen Worte in französicher Sprache an ihn:

»Lebewohl, alter Dummkopf!«[256]

Aber die vertrauliche Berührung erhöhte noch das Ansehen, dessen Seine Majestät bei Ihren getreuen Unterthanen genoß.

Zehn Tage später, am achtzehnten März, langte die Belle-Roulotte, nachdem sie das Eisfeld zwischen der Liakhossgruppe und dem Festlande ohne Gefahr oder Ermüdung passiert hatte, an der sibirischen Küste nächst der Lenamündung an.

Nach den vielen Zwischenfällen und Unfällen, Gefahren und Abenteuern, die ihnen seit ihrer Abreise von Port-Clarence begegnet waren, betraten Herr Sergius und seine Gefährten endlich den asiatischen Kontinent.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 244-257.
Lizenz:

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