VIII. Im Jakutenlande.

[257] Der anfängliche Reiseplan, wie man ihn von der Beringstraße bis zur europäischen Grenze zu verfolgen gedacht hatte, war durch den von der Eistafel beschriebenen Umweg und die Landung an den neusibirischen Inselgruppen notwendigerweise modifiziert worden. Man durfte nicht mehr daran denken, Russisch-Asien im Süden zu durchziehen. Zudem würde die schöne Jahreszeit jetzt bald die klimatischen Verhältnisse bessern und so wurde die Überwinterung in irgend einem Marktflecken überflüssig. Man muß gestehen, daß die neuesten Ereignisse eine ebenso günstige als wunderbare Lösung herbeigeführt hatten.

Jetzt handelte es sich darum, die Richtung zu ermitteln, welche man einschlagen mußte, um das Uralgebirge, die Grenze zwischen Russisch-Asien und Russisch-Europa, auf kürzestem Wege zu erreichen. Herr Sergius gedachte dies zu thun, bevor man das an der Küste aufgeschlagene Lager verließ.

Das Wetter war ruhig und klar. Der Tag währte jetzt in voller Äquinoktialperiode über elf Stunden und verlängerte sich noch durch die helle Morgen- und Abenddämmerung, die unterm siebzigsten Breitegrad von beträchtlicher Dauer ist.

Nun Kirschef und Ortik hinzugekommen waren, bestand die kleine Karawane aus zehn Personen. Obgleich keine große Sympathie zwischen ihnen und ihren Gefährten herrschte, waren die beiden russischen Matrosen die Gäste der Belle-Roulotte geworden; sie nahmen ihre Mahlzeiten dort am gemeinsamen Tische ein; sie mußten sogar dort schlafen, solange die Temperatur ihnen nicht gestattete, im Freien zu übernachten.[257]

In der That stand die Thermometersäule durchschnittlich noch einige Grade unter Null, – was leicht zu erkennen war, da der verbindliche Tschu-Tschuk das Thermometer seinem rechtmäßigen Herrn zurückgestellt hatte. Das ganze Gebiet lag unabsehbar unter einer ungeheuren weißen Decke verborgen, welche die Aprilsonne bald hinwegschmelzen würde. Auf diesem hartgefrorenen Schnee, wie auch auf den grasigen Flächen der Steppe würden die Renntiere das schwere Gefährt schon zu ziehen vermögen.

Was die Ernährung der Tiere betrifft, so war der von den Eingeborenen gelieferte Futtervorrat von der Abfahrt von Kotelnii bis zur Ankunft in der Lenabucht dazu hinreichend gewesen. Nunmehr konnten die Renntiere für sich selber sorgen, indem sie das Moos unterm Schnee hervorgruben und die Blätter jener Standen abfraßen, mit denen der sibirische Boden besäet ist. Im übrigen muß man gestehen, daß das neue Gespann sich während des Eisüberganges sehr gefügig gezeigt und daß Clou-de-Girofle keine Mühe gehabt hatte, es zu lenken.

Die Ernährung der Reisenden war ebenso sicher gestellt durch den Vorrat an Konserven, Mehl, Schmalz, Reis, Thee, Zwieback und Branntwein, den die Belle-Roulotte noch besaß. Zudem verfügte Cornelia auch über eine gewisse Quantität jakutischer Butter, in kleinen Birkenholzkistchen, welche Freund Tuck-Tuck Freund Cascabel verehrt hatte. Hingegen würde man den Petroleumvorrat baldmöglichst in irgend einem sibirischen Marktflecken zu erneuern haben. Schließlich würde die Jagd auch wieder frisches Wild liefern; Herr Sergius und Jean würden manches Mal Gelegenheit haben, ihre Geschicklichkeit zu Nutz und Frommen der Küche zu bethätigen.

Ebenso konnte man auf die Mitwirkung der beiden russischen Matrosen rechnen. Sie erklärten, daß Nordsibirien ihnen zum Teil bekannt sei und schienen sich demgemäß zu Führern zu eignen.

Das war der Gegenstand des Gespräches, das an jenem Tage im Lager stattfand:

»Da Sie bereits in dieser Gegend waren,« sagte Herr Sergius zu Ortik, »so werden Sie unser Führer sein...«

»Das ist wohl das wenigste, was ich thun kann,« antwortete Ortik, »nachdem wir Herrn Cascabel unsere Befreiung verdanken.«

»Mir?... Nicht doch,« entgegnete Herr Cascabel; »nur meinem Bauche, dem die Natur die Gabe der Rede verliehen hat! Er ist es, bei dem Sie sich bedanken müssen!«

»Ortik,« fragte Herr Sergius, »welchen Weg empfehlen Sie uns, von hier aus zu nehmen?«

»Den kürzesten, wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Sergius. Wenn er gleich den Nachteil hat, die Hauptstädte der südlicheren Bezirke nicht zu berühren,[258] so wird er uns doch gestatten, direkt auf die Uralkette zuzumarschieren. Überdies fehlt es auch auf dieser Strecke nicht an Dörfern, wo Sie sich neu verproviantieren oder gar Aufenthalt nehmen können, falls es nötig ist.«

»Wozu das?« unterbrach ihn Herr Cascabel. »Wir haben nichts in Dörfern zu suchen. Für uns ist die Hauptsache, daß wir uns nicht aufhalten, sondern schnell vorwärts kommen. Ich glaube nicht, daß die Gegend für Reisende gefährlich ist...«

»Keineswegs,« antwortete Ortik.

»Und dann sind wir ja auch stark; wehe den Schurken, die unsere Belle-Roulotte angreifen wollten!... Sie würden nicht billigen Kaufes davonkommen!«

»Seien Sie ruhig, Herr Cascabel; es steht nichts zu befürchten!« sagte Kirschef.

Man wird bemerkt haben, daß dieser Kirschef sehr selten sprach. Ungesellig, düster und verschlossen, überließ er es seinem Gefährten, an den Besprechungen teilzunehmen. Ortik war augenscheinlich intelligenter als er, ja, sogar sehr intelligent – was Herr Sergius mehrmals in der Lage gewesen war zu konstatieren.

Im ganzen genommen, war der von Ortik vorgeschlagene Reiseplan ein befriedigender. Die Umgehung der großen Städte, wo man auf Militärposten stoßen konnte, mußte dem Grafen Narkine zusagen, wie sie den beiden angeblichen Matrosen zusagte. Daß es schwer sein würde, den bevölkerten Orten auszuweichen, namentlich in der Nähe der Grenze, das war vorauszusehen, und man würde dort einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen haben. Bis dahin aber boten die Steppendörfer keine große Gefahr dieser Art.

Sobald dieser Reiseplan im Prinzip angenommen war, hatte man nur mehr die verschiedenen Provinzen zu ermitteln, welche man von der Lena bis zum Uralgebirge in schräger Linie durchziehen mußte.

So schlug Jean denn in seinem Atlas die Karte von Nordsibirien auf und Herr Sergius vertiefte sich in das Studium dieser Territorien, wo die sibirischen Flüsse, statt die Reisen von Ost nach West zu begünstigen, letzteren vielmehr ernste Schwierigkeiten bereiten. Und man beschloß folgendes:

Die Reise sollte vom Lenathale ins Anabarathal, von dort ins Khatanga-, ins Jenisei-, ins Obthal gehen, was eine Strecke von cirka siebenhundertfünfzig Meilen repräsentierte.

Vom Ob sollte man dann über eine Strecke von einhundertfünfundzwanzig Meilen ins Uralgebirge gelangen, welches das europäische Rußland begrenzt.

Schließlich sollte man vom Ural aus hundert Meilen weit gegen Südwesten nach Perm ziehen.[259]

Es waren also im ganzen an die tausend Meilen zurückzulegen.

Wenn man unterwegs auf kein Hindernis stieß, wenn man sich nicht notgedrungen in irgend einem Marktflecken aufhalten mußte, so konnte die Reise in weniger als vier Monaten ausgeführt werden. In der That waren sieben bis acht Meilen pro Tag nicht zu viel für die Renntiere; und so würde die Belle-Roulotte denn gegen Mitte Juli in Perm und dann in Nischnii eintreffen, also zu der Zeit, wo der berühmte Jahrmarkt in vollem Gange war.

»Werden Sie uns bis Perm begleiten?...« fragte Herr Sergius Ortik.

»Das ist nicht wahrscheinlich,« antwortete der Matrose. »Wenn wir die Grenze überschritten haben, gedenken wir unsern Weg über Petersburg nach Riga zu nehmen.«

»Wohl,« sagte Herr Cascabel, »aber erreichen wir vor allen Dingen die Grenze!«

Man war übereingekommen, eine vierundzwanzigstündige Rast zu halten, sobald man das Festland betreten haben würde – eine durch die schnelle Fahrt über das Eisfeld mehr als gerechtfertigte Rast. So war denn jener Tag der Ruhe geweiht.

Die Lena ergießt sich in einem regellosen Netze von Mündungen, Kanälen und Pässen in den gleichnamigen Golf. Es ist nach einem Laufe von fünfzehnhundert Meilen, daß dieser schöne Strom, durch zahlreiche Nebenflüsse geschwellt, sich in die Tiefen des nördlichen Eismeeres verliert. Sein Gebiet wird auf mindestens hundertundfünf Millionen Hektaren geschätzt.

Nachdem die Karte gründlich studiert worden, meinte Herr Sergius, es werde rätlich sein, am inneren Rande der Bai entlang zu fahren und so den zahlreichen Mündungen der Lena auszuweichen. Obgleich ihre Wasser noch zugefroren waren, würde der Weg durch dieses Labyrinth ein sehr mühseliger sein. Der Eisstoß bildete dort eine ungeheure Schranke von Blöcken, die von wirklichen, sehr pittoresken, aber schwer zu umgehenden Eisbergen beherrscht wurden.

Jenseits der Bai begann die ungeheure, kaum von einigen Dünen unterbrochene Steppe, in der die Reise leicht von statten gehen würde.

Augenscheinlich waren Ortik und Kirschef daran gewöhnt, unter diesen hohen Breiten zu reisen. Ihre Gefährten hatten das bereits während der Fahrt über das Eisfeld bemerken können. Die beiden Matrosen verstanden ein Lager aufzuschlagen, nötigenfalls auch eine solide Eishütte zu bauen. Sie kannten den Kunstgriff der Küstenfischer, ihre Kleider zu trocknen, indem sie dieselben in den Schnee graben und so die darin enthaltene Feuchtigkeit herausziehen lassen; sie schwankten nicht, wenn es sich darum handelte, die aus gefrornem Salzwasser entstandenen Eisblöcke von denen aus Süßwasser[260] zu unterscheiden; kurz, sie waren mit den verschiedenen, auf dem Marsche durch nördliche Länder gebräuchlichen Prozeduren bekannt.

An jenem Abend nach dem Nachtmahl drehte das Gespräch sich um die Geographie Nordsibiriens und Ortik ließ sich bewegen, die Umstände zu nennen, unter welchen Kirschef und er dieses Land durchstreift hatten.

Herr Sergius fragte nämlich:

»Wie kommt es, daß Sie als Seeleute die Gelegenheit hatten, diese Gebiete zu bereisen?«

»Herr Sergius,« antwortete Ortik, »vor zwei Jahren befanden Kirschef, zehn andere Matrosen und ich uns im Hafen von Archangel, der Einschiffung an Bord irgend eines Walfischfahrers harrend, als wir zur Rettung eines Schiffes requiriert wurden, das nördlich von der Lenamündung im Eise stak. Nun, von Archangel aus begaben wir uns längs der Nordküste von Sibirien in diese Bai. Als wir die »Vremia« erreichten, gelang es uns, sie wieder flott zu machen, und dann betrieben wir auf diesem Fahrzeuge den Fischfang. Aber wie gesagt, ging dasselbe im Laufe der Saison mit Mann und Maus zu Grunde; nur mein Kamerad und ich blieben am Leben, und der Sturm warf unser Boot auf die Liakhoff-Inseln, wo Sie uns gefunden haben.«

»Und sind Sie nie in den Provinzen von Alaska gewesen?« fragte Kayette, die, wie man weiß, Russisch sprach und verstand.

»Alaska?...« antwortete Ortik. »Liegt das nicht in Amerika?«

»Ja,« sagte Herr Sergius, »es ist ein im Nordwesten des neuen Kontinents gelegenes Land, die Heimat Kayettens... Haben Ihre Fahrten Sie nie bis dahin geführt?...«

»Wir kennen jenes Land nicht,« antwortete Ortik in völlig ungezwungenem Tone.

»Wir sind nie über die Beringstraße hinausgekommen,« fügte Kirschef hinzu.

Die Stimme dieses Mannes brachte noch immer dieselbe Wirkung auf die junge Indianerin hervor, ohne daß sie sich zu erinnern vermochte, wo sie deren Klang schon gehört. Es konnte doch nur in den alaskischen Provinzen gewesen sein, da sie immer dort gelebt hatte.

Nach der so deutlichen Entgegnung Ortiks und Kirschefs enthielt die junge Indianerin sich mit der ihrer Rasse eigenen Zurückhaltung jeder weiteren Frage. Aber es blieb ihr doch ein unbehagliches Gefühl, sogar ein instinktives Mißtrauen gegen die beiden Matrosen zurück.

Während der erwähnten Rast von vierundzwanzig Stunden hatten die Renntiere sich genugsam von ihren Anstrengungen erholen können. Zwar waren ihre Vorderfüße mit Spannstricken gefesselt, aber das hinderte sie nicht, um das Lager herumzustreifen, die Stauden abzunagen und das Moos unterm Schnee hervorzuwühlen.[261]

Am zwanzigsten März brach die kleine Karawane um acht Uhr morgens auf. Trockenes, klares Wetter bei Nordostwind. Soweit der Blick reichte, nichts als schneeweiße Steppe, noch hinreichend hart gefroren, daß das Fuhrwerk leicht darüber hinrollen konnte. Die Renntiere waren nach einem wohlersonnenen System in fünf Reihen zu je Vieren und Vieren eingespannt und wurden auf einer Seite von Ortik, auf der anderen von Clou-de-Girofle gelenkt.

So reisten die Wanderer sechs Tage lang, ohne daß ihnen etwas Erwähnenswertes begegnet wäre. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean und Xander gingen meist zu Fuß, manchmal auch von Cornelia, Napoleone und Kayette begleitet, wenn die häuslichen Pflichten es gestatteten.

Jeden Vormittag legte die Belle-Roulotte ungefähr ein »Koes« zurück, ein sibirisches Längenmaß, welches gleich zwanzig Werft ist, also etwa zwei und eine halbe Meile repräsentiert. Nachmittags drang sie in demselben Grade vor – was fünf tüchtige Meilen per Tag ausmachte.

Am neunundzwanzigsten März erreichten Herr Sergius und seine Gefährten, nachdem sie den kleinen Fluß Olenek auf dem Eise überschritten hatten, den zweiundvierzig Meilen im Südwesten von der Lenabucht gelegenen Marktflecken Maksimova.

Es war nichts dagegen einzuwenden, wenn Herr Sergius sich vierundzwanzig Stunden in dieser Ortschaft aufhalten wollte, die weltverloren an der äußersten Grenze der nördlichen Steppe liegt. Es gab dort weder einen Stadthauptmann, noch einen mit Kosaken besetzten Militärposten. Folglich hatte Graf Narkine nichts zu befürchten.

Man befand sich mitten im Jakutenlande und die Familie fand eine vortreffliche Aufnahme bei den Einwohnern von Maksimova.

Dieses Land, gebirgig und bewaldet in seinen östlichen und südlichen Teilen, weist im Norden nur weite, kahle Ebenen mit wenigen Baumgruppen auf, deren Laub die warme Jahreszeit demnächst entwickeln sollte. Die Heuernte ist dort äußerst ergiebig. Das rührt daher, daß die Temperatur in Nordsibirien, so streng der Winter auch ist, in den Sommermonaten überaus hoch steigt.

Dort gedeiht eine Bevölkerung von hunderttausend Jakuten, welche die Formen des russischen Ritus beobachten. Fromm, gastfreundlich, von guten Sitten, sind diese Leute sehr dankbar für die Wohlthaten der Vorsehung und sehr ergeben, wenn letztere ihnen herbe Prüfungen auferlegt.

Auf der Fahrt von der Lenabucht nach Maksimova war man einer gewissen Anzahl sibirischer Nomaden begegnet. Es waren dies kräftige Männer von mittelgroßer Statur, mit platten, bartlosen Gesichtern, schwarzen Augen[262] und dichtem Haarwuchs. Dieselben Typen fanden sich in Maksimova, dessen Einwohner gesellig, friedliebend, intelligent, fleißig und nicht leicht zu täuschen sind.

Jene Jakuten, welche, stets zu Pferde, und stets bewaffnet, unstät umherschweifen, sind Besitzer zahlreicher, über die Steppe verstreuter Herden. Diejenigen, welche in Dörfern oder Marktflecken seßhaft sind, beschäftigen sich[263] hauptsächlich mit Fischfang und beuten jene zahllosen fischreichen Wasseradern aus, welche der große Strom in seinem Laufe aufnimmt.

Aber wenn diese Jakuten auch mit allen öffentlichen und häuslichen Tugenden geziert sind, so muß man doch gestehen, daß sie dem Tabak und – was ernster ist – dem Branntwein und sonstigen alkoholhaltigen Getränken übertrieben gern zusprechen.


Die Renntiere waren zu je Vieren angespannt. (Seite 262.)
Die Renntiere waren zu je Vieren angespannt. (Seite 262.)

»Indessen ist das bis zu einem gewissen Grade verzeihlich,« bemerkte Jean. »Während ganzer drei Monate haben sie nichts als Wasser zu trinken und Baumrinde zu essen.«

»Brotrinde wollen Sie sagen, Herr Jean?« fragte Clou-de-Girofle.

»Nein; Baumrinde. Nach solchen Entbehrungen ist dann eine kleine Unmäßigkeit verzeihlich!«

Während die Nomaden in Jurten wohnen, einer Art konisch geformter Zelte aus weißem Stoffe, haben die Ansässigen Holzhäuser inne, die nach dem Geschmacke und den Bedürfnissen eines jeden gebaut sind. Diese sorgfältig gehaltenen Häuser werden von sehr steilen Dächern überragt, deren Abschüssigkeit das Schmelzen des Schnees an der Aprilsonne begünstigt. Der Marktflecken Maksimova bietet einen lachenden Anblick. Die Bewohner sind von angenehmem Typus, freimütigem Gebaren, klarem Blick und etwas stolzem Gesichtsausdruck. Die Frauen erscheinen anmutig und ziemlich hübsch, trotzdem ihre Gesichter tättowiert sind. Sehr zurückhaltend, sehr streng von Sitten, lassen sie sich niemals barfuß oder barhaupt sehen.

Die Familie wurde von den Jakutenhäuptlingen, welche den Namen, »Kinoes« führen, und den Ältesten, »Starsynas«, der Stadt sehr herzlich aufgenommen. Diese wackeren Leute stritten sich um die Ehre, sie unentgeltlich beherbergen und bewirten zu dürfen. Aber nachdem sie ihnen gedankt, bestand Cornelia darauf, ihre Anschaffungen bar zu bezahlen, unter anderem einen Petroleumvorrat, welcher die Heizung des Küchenofens auf längere Zeit hinaus sicherstellte.

Übrigens erzielte die Belle-Roulotte auch hier ihre gewohnte Wirkung. Noch nie war ein Gauklerwagen in dies Land gekommen. Eine Menge Jakuten beiderlei Geschlechts besuchte sie und man fand keinen Anlaß, sein vertrauensvolles Entgegenkommen zu bereuen. In dieser Provinz wird selten ein Diebstahl begangen – selbst zum Nachteile Fremder nicht. Und wenn es vorkommt, so folgt die Strafe unmittelbar dem Vergehen. Sowie das Vergehen konstatiert worden ist, wird der Dieb öffentlich mit Ruten gezüchtigt. Und dieser physischen Strafe folgt die moralische: für sein ganzes Leben geschändet, ist er aller bürgerlichen Rechte verlustig und kann nie wieder für einen »ehrlichen Mann« gelten.

Am dritten April erreichten die Reisenden die Ufer des Oden, eines[264] Flüßchens, das sich nach einem Laufe von fünfzig Meilen in den Golf von Anabara ergießt.

Das bisher sehr günstige Wetter begann sich zu verändern. Bald stellten sich reichliche Regengüsse ein, deren erste Wirkung es war, den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Das währte acht Tage, während deren der Wagen an sumpfigen Stellen nur mühsam und manchmal sogar unter ernstlichen Gefahren[265] vorwärts kam. So kündigte sich der Frühling in diesen hohen Breiten an, – bei einer Durchschnittstemperatur von zwei bis drei Grad über Null.


Diese Fahrt verursachte große Beschwerden. (Seite 266.)
Diese Fahrt verursachte große Beschwerden. (Seite 266.)

Diese Fahrt verursachte große Beschwerden. Aber man konnte sich zu der Mitwirkung der beiden russischen Matrosen nur Glück wünschen, denn sie zeigten sich sehr ergeben und sehr brauchbar.

Am achten April machte die Belle-Roulotte am rechten Ufer des Anabaraflusses Halt, nachdem sie seit ihrer Abfahrt von Maksimova eine Strecke von vierzig Meilen zurückgelegt hatte.

Es war noch eben Zeit, diesen Fluß auf dem Eise zu passieren, obgleich der Eisstoß sich weiter unten bereits in Bewegung gesetzt hatte. Man hörte das dumpfe Krachen der Eisblöcke, welche die Strömung donnernd auf den Golf zuwälzte.

Eine Woche später hätte man nach irgend einer Furt suchen müssen, – was nicht leicht gewesen wäre, da die Wasser beim Schmelzen der Schneemassen jählings anschwellen.

Die wiederum grünende Steppe bedeckte sich mit frischem Grase, welches den Zugtieren trefflich mundete. Die Stauden knospeten. Binnen drei Wochen würden sich die ersten Blätter an ihren Zweigen entfalten. Der aufsteigende Saft verjüngte auch die mageren Baumskelette, welche die Winterkälte ausgedörrt hatte.

Hie und da bogen kleine Gruppen von Birken und Lärchenbäumen sich geschmeidiger im Windhauch. Die ganze Natur des hohen Nordens belebte sich an der Sonnenwärme.

Je weiter man sich vom Küstengebiet entfernte, desto volkreicher wurde die Landschaft. Manchmal begegnete die kleine Truppe einem Steuereinnehmer, der von Dorf zu Dorf zog, um den Tribut zu beheben. Dann machte man wohl Halt, tauschte einige Worte mit dem wandernden Beamten und bot ihm ein Glas Wódka an, das er gern entgegennahm, und trennte sich mit beiderseitigen guten Wünschen für die Reise.

Eines Tages kreuzte die Belle-Roulotte einen Gefangenentransport. Diese Unglücklichen, welche zum Salzsieden verurteilt worden, waren auf dem Wege nach Ostsibirien und erfuhren keine glimpfliche Behandlung von den sie eskortierenden Kosaken. Selbstverständlich fiel die Anwesenheit des Herrn Sergius dem Anführer der Kosakentruppe nicht weiter auf; aber der noch immer mißtrauischen Kayette schien es, als ob die russischen Matrosen ihr möglichstes thäten, um unbemerkt zu bleiben.

Am neunzehnten April, nachdem sie eine Strecke von fünfundsiebzig Meilen zurückgelegt, hielt die Belle-Roulotte auf dem rechten Ufer der Khatanga, die sich in den nach ihr benannten Golf ergießt. Diesmal gab es keine Eisbrücke mehr, über die man ans jenseitige Ufer gelangt wäre.[266]

Nur wenige treibende Eisblöcke kennzeichneten noch das Ende des Eisganges. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, eine passierbare Furt zu finden – was zweifellos mit großem Zeitverlust verbunden gewesen wär, wenn Ortik nicht eine halbe Werst stromaufwärts eine solche entdeckt hätte. Der Übergang wurde nicht ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt, da das Wasser bis an die Achsen des Wagens hinanreichte. Dann ließ man den Fluß hinter sich; noch[267] fünfundzwanzig Meilen und die Reisenden schlugen ihr Lager am Jegesee auf.


Es war wie eine Vase. (Seite 268.)
Es war wie eine Vase. (Seite 268.)

Welch ein Gegensatz zu dem eintönigen Anblick der Steppe! Es war wie eine Oase im Sandmeer der Sahara. Man stelle sich einen durchsichtig klaren Wasserspiegel vor, umrahmt von immergrünen Bäumen, von Fichten und Tannen, von lustig grünendem Strauchwerk, Heidelbeer-, Rauschbeer-, Stachelbeer- und Hagebuttensträuchern, welche der Frühling mit knospenden Blüten besäte.

In dem dichten Unterholz, das sich östlich und westlich vom See hinzog, würde es Wagram und Marengo nicht schwer fallen, zahlreiches Haar- oder Federwild aufzuspüren, falls Herr Cascabel ihnen gestattete, sich dort ein paar Stunden lang herumzutreiben.

Überdies schwammen Scharen von Gänsen, Enten und Schwänen auf dem See umher. Kraniche und Störche zogen, aus den mittelasiatischen Gegenden kommend, in langgestrecktem Fluge durch die Luft. Beim Anblick dieser reizenden Landschaft war man versucht, in die Hände zu klatschen.

Auf Herrn Sergius Vorschlag hin beschloß man, hier einen Aufenthalt von achtundvierzig Stunden zu nehmen. Das Lager wurde an der Spitze des Sees aufgeschlagen, im Schutze hoher Tannen, deren Wipfel sich über das Wasser neigten.

Dann gingen die Jäger der Truppe, von Wagram gefolgt, mit ihren Flinten davon, nachdem sie versprochen hatten, sich nicht zu weit zu entfernen. Kaum eine Viertelstunde später vernahm man bereits Schüsse.

Unterdessen beschlossen Herr Cascabel und Xander, Ortik und Kirschef, ihr Glück mit Fischen am Seeufer zu versuchen. Ihr Gerät beschränkte sich auf einige Angelleinen und Haken, welche sie bei den Eingeborenen von Port-Clarence gekauft hatten. Aber was braucht ein tüchtiger Fischer anderes, wenn er intelligent genug ist, um die Kniffe des Fisches zu durchschauen, und geduldig genug, um zu warten, bis er anbeißt!

In Wahrheit aber war die Geduld an jenem Tage überflüssig. Kaum hatte man die Angeln an passenden Stellen ausgeworfen, so zuckten auch schon die Korkschiffchen auf dem Wasserspiegel. Die Fische waren längs den Ufern in solchen Mengen vorhanden, daß man in einem halben Tage genug gefangen hätte, um die großen Fasten auszuhalten. Das war eine Freude für den jungen Xander. Als Napoleone sich zu ihm gesellte und nun ihrerseits die Angelrute halten wollte, mochte er sich denn auch nicht dazu zu verstehen. Infolge dessen Streit und Dazwischenkunft Cornelias. Da ihr das Ergebnis der Fischerei sowieso hinreichend schien, gebot sie den Kindern wie dem Vater, ihr Gerät zusammen zu packen; und wenn Frau Cascabel gebot, so blieb nichts übrig als zu gehorchen.[268]

Zwei Stunden später kehrten Herr Sergius und sein Freund Jean mit Wagram zurück, der – thatsächlich und figürlich – die Ohren hängen ließ: so sehr bedauerte er, die wildreichen Gehölze verlassen zu müssen.

Die Jäger waren nicht minder glücklich gewesen als die Fischer. Der Speisezettel würde einige Tage lang ebenso abwechslungsreich als angenehm sein. Die Fische des Jege-Sees und das vortreffliche Wild des sibirischen Hochlandes würden die Kosten desselben tragen.

Unter anderen hatten die Jäger einige jener »Karallys« mitgebracht, die man in Scharen antrifft, und auch mehrere Paar »Dikoutas«, dumme Vögel, kleiner als die Haselhühner, deren Fleisch sehr schmackhaft ist.

Man kann sich vorstellen, welch ein gutes Mahl an jenem Tage aufgetragen wurde. Der Tisch war unter den Bäumen gedeckt worden und keiner der Gäste bemerkte, daß es doch vielleicht ein wenig zu kalt zu einem Festgelage unter freiem Himmel sei. Cornelia hatte sich im Rösten der Fische und im Braten des Wildbrets selber übertroffen. Da der Vorrat an Mehl sowohl, als auch an jakutischer Butter im letzten Dorfe erneuert worden, war es nicht erstaunlich, wenn der gewohnte Kuchen, goldig und mürbe, beim Dessert erschien. Jeder trank ein paar tüchtige Züge Branntwein, dank gewissen Flaschen, zu deren Veräußerung die Einwohner von Maksimova sich herbeigelassen hatten, und der Tag verging, ohne daß die glückliche Muße irgend welche Störung erlitten hätte.

Man konnte wahrhaftig wähnen, daß die Prüfungszeit zu Ende sei und daß die berühmte Reise einen der Familie Cascabel zur Ehre und zum Vorteil gereichenden Abschluß finden werde!

Auch der folgende Tag war ein Ruhetag, den das Gespann benützte, um sich gewissenhaft auf der Weide gütlich zu thun.

Am einundzwanzigsten April brach die Belle-Roulotte wieder um sechs Uhr morgens auf und erreichte vier Tage später die westliche Grenze des Jakutenlandes.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 257-269.
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