IX. Bis an den Ob.

[269] Es ist von Wichtigkeit, auf die Stimmung der beiden Russen zurückzukommen, welche ein böser Zufall in den Kreis der Familie Cascabel geführt hatte.

Man sollte denken, daß Ortik und Kirschef, dankbar für die ihnen zu teil gewordene Aufnahme, auf bessere Gedanken gekommen wären. Nichts dergleichen.[269] Diese Elenden, deren Vergangenheit schon so viele, mit der Karnossschen Bande begangene Verbrechen zählte, dachten nur daran, wie sie neue Missethaten begehen könnten. Sie sannen auf nichts geringeres, als sich der Belle-Roulotte und des von Tschu-Tschuk zurückerstatteten Geldes zu bemächtigen, und dann, in Gauklerverkleidung nach Rußland zurückgekehrt, dort ihr Verbrecherleben von neuem zu beginnen. Um diese Pläne in Ausführung zu bringen, mußten sie sich aber vor allem ihrer Reisegefährten entledigen, jener wackeren Leute, denen sie ihre Freiheit verdankten, – und auch davor schraken sie nicht zurück.

Diesen Plan konnten sie indessen nicht allein ausführen. Das war der Grund, weshalb sie die Richtung nach einem der Uralpässe genommen hatten, wo sich zahlreiche Missethäter, frühere Spießgesellen von ihnen, herumtrieben; dort dachten sie die nötige An zahl Banditen zu dingen, um das Personal der Belle-Roulotte anzugreifen.

Und wer würde sie dieses abscheulichen Komplotts verdächtigt haben? Sie stellten sich, als wollten sie sich nützlich machen, und gaben niemand Anlaß zu Tadel. Wenn sie keine Sympathie einflößten, so flößten sie auch kein Mißtrauen ein, – außer Kayetten, welche noch immer an ihnen zweifelte. Einen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, daß sie Kirschefs Stimme in jener Nacht gehört habe, wo Herr Sergius an der alaskischen Grenze überfallen worden war. Aber wie konnte man annehmen, daß die Urheber jenes Verbrechens gerade die beiden Matrosen seien, die man zwölfhundert Meilen vom Schauplatze desselben entfernt, auf einer der Liakhoff-Inseln aufgefunden hatte? Während sie dieselben im stillen beobachtete, hütete Kayette sich denn auch, irgend etwas von ihren allzu unwahrscheinlichen Zweifeln verlauten zu lassen.

Und nun muß man noch folgendes beachten: wenn Ortik und Kirschef der jungen Indianerin verdächtig vorkamen, so fanden sie dagegen die Stellung des Herrn Sergius sonderbar. Nach seiner gefährlichen Verwundung an der Grenze von Alaska hatte die Familie Cascabel ihn nach Sitka gebracht und dort gepflegt. Nichts natürlicher als das. Aber warum war er nach seiner Herstellung nicht in Sitka geblieben? Warum war er diesen Gauklern nach Port-Clarence gefolgt? Warum begleitete er sie durch Sibirien? Die Anwesenheit eines Russen inmitten einer ausländischen Jahrmarktstruppe war zum mindesten sonderbar.

So hatte Ortik denn eines Tages zu Kirschef gesagt:

»Sucht dieser Herr Sergius etwa insgeheim nach Rußland zurückzukehren und ergreift er diese Vorsichtsmaßregeln, um nicht erkannt zu werden?... Ei! vielleicht könnte man aus diesem Umstande Nutzen und Vorteil ziehen?... Halten wir die Augen offen![270]

Und ohne daß er es ahnte, wurde Graf Narkine von Ortik bewacht, der sein Geheimnis zu ergründen suchte.

Am dreiundzwanzigsten April verließen die Reisenden das Jakutenland und betraten den Grund und Boden der Ostjaken. Diese Sibirier sind ein ziemlich elendes und ungebildetes Volk, wenngleich ihr Gebiet einige reiche Bezirke – unter anderen den von Berezow – umfaßt.[271]

Auf der Fahrt durch die Dörfer dieses Gebietes konnte man sehen, wie auffällig sie sich von den pittoresken und anziehenden Jakutenflecken unterschieden! Ungesunde Hütten, kaum zur Unterbringung von Tieren geeignet, mit einer inneren Atmosphäre, in der man nur schwer zu atmen vermag!


Diese Schlitten mit den Renntieren bespannt. (Seite 272.)
Diese Schlitten mit den Renntieren bespannt. (Seite 272.)

Und wo kann man abstoßendere Wesen finden, als diese Eingeborenen, in Bezug auf welche Jean eine Stelle aus der allgemeinen Geographie citierte:

»Die Ostjaken in Hochsibirien tragen eine doppelte Gewandung, um sich vor der Kälte zu schützen: eine Schmutzschicht und darüber ein Renntierfell.«

Was ihre Nahrung betrifft, so besteht dieselbe fast ausschließlich aus halbrohem Fisch und gänzlich ungekochtem Fleische.

Indessen sind die Nomaden, deren Herden in der Steppe verstreut weiden, wesentlich verschieden von den Bewohnern der Hauptmarktflecken. So fanden die Reisenden zum Beispiel in der Ortschaft Starokhantaskii eine etwas ansehnlichere Bevölkerung, wenn dieselbe auch weder gastfreundlich noch zuvorkommend gegen Fremde war.

Die Frauen, mit bläulichen Mustern tättowiert, trugen den »Vakocham«, einen roten, mit blauen Streifen verzierten Schleier, den grellfarbigen Rock und lichteren Leib, dessen Schnitt ihre Taille entstellt, und den mit kleinen Schellen verzierten Gürtel, der bei jeder Bewegung wie das Sattelzeug eines spanischen Maultieres klingelt.

Was die Männer betrifft, so sehen sie während des Winters – und teilweise auch im Sommer – wie Tiere aus, da sie in Felle mit nach außen gekehrtem Haar gekleidet sind. Ihr Kopf verschwindet unter der »Maltza« oder Kapuze und der »Parka«, in welcher Ritze für die Augen, den Mund und die Ohren angebracht sind. Unmöglich, ihre Züge zu sehen, was vermutlich nicht zu beklagen ist.

Unterwegs begegnete die Belle-Roulotte manchmal einigen jener Schlitten, die als »Narken« bekannt sind. Mit drei Renntieren bespannt, welche mittelst eines einfachen, unter ihrem Bauche hergezogenen Riemens daran befestigt sind und durch ein an ihr Geweih gebundenes Leitseil gelenkt werden, können diese Nacken sieben bis acht Meilen zurücklegen, ohne daß das Gespann Halt machen müßte, um Atem zu schöpfen.

Man durfte nicht daran denken, den vor den Wagen gespannten Renntieren eine solche Leistung zuzumuten. Aber man hatte darum keinen Grund zu Klagen; sie leisteten treffliche Dienste.

Als Herr Sergius daher eines Tages bemerkte, daß es vielleicht weise sein werde, sie durch Pferde zu ersetzen, sobald man sich welche verschaffen könne, antwortete Herr Cascabel:

»Sie ersetzen?... Weshalb denn, ich bitte Sie? Glauben Sie, daß sie nicht die Kraft haben werden, uns bis nach Rußland zu ziehen?«[272]

»Wenn wir auf dem Wege nach dem nördlichen Rußland wären, so würde ich nichts dagegen sagen,« antwortete Herr Sergius; »aber in Südrußland ist die Sache anders. Die Renntiere vertragen keine Hitze; dieselbe erschöpft sie und macht sie arbeitsunfähig. Daher sieht man auch gegen Ende April zahlreiche Rudel von Renntieren nach den nördlichen Gebieten, insbesondere nach den mit ewigem Schnee bedeckten Hochebenen der Uralkette ziehen.«

»Nun wohl! sobald wir die Grenze erreicht haben, werden wir uns zu dem Tausche entschließen, Herr Sergius. Aber es wird wirklich ein großes Opfer sein, uns von diesem Gespann zu trennen! Stellen Sie sich nur den Effekt vor, wenn ich mit zwanzig vor den Wagen der Familie Cascabel gespannten Renntieren auf dem Jahrmarkt von Perm erschiene!... Welch ein Effekt und welch eine Reklame!«

»Das wäre gewiß prächtig!« antwortete Herr Sergius lächelnd.

»Triumphal... Sagen Sie triumphal!... Nebenbei gesagt,« fügte Herr Cascabel hinzu, »es ist abgemacht, nicht wahr, daß Graf Narkine zu meiner Truppe gehört und sich im Notfalle nicht weigern wird, vor dem Publikum zu arbeiten?...«

»Ja, das ist abgemacht.«

»Dann vernachlässigen Sie Ihre Lektionen in der Taschenspielerei nicht, Herr Sergius. Da man glaubt, daß Sie zu Ihrem Vergnügen lernen, so werden weder meine Kinder noch die beiden Matrosen sich darüber wundern. Ah!... wissen Sie, daß Sie bereits sehr geschickt sind?«

»Wie sollte ich es nicht sein, Freund Cascabel, mit einem Lehrmeister wie Sie!«

»Bitte sehr um Verzeihung, Herr Sergius, aber ich versichere Ihnen, daß Sie auffallend viel natürliches Talent dazu besitzen!... Mit ein wenig Übung würden Sie ein unvergleichlicher Taschenspieler werden und sicher gute Einnahmen erzielen!«

Am sechsten Mai Ankunft der Belle-Roulotte am Ufer des Jenisei, hundert Meilen westwärts vom Jegesee.

Der Jenisei ist einer der Hauptströme des sibirischen Festlandes und ergießt sich durch den nach ihm benannten, unterm siebzigsten Breitegrad gelegenen Golf ins nördliche Eismeer.

Zu jener Zeit war der mächtige Fluß schon vollkommen eisfrei. Eine große Fähre, welche den Verkehr von Wagen und Reisenden zwischen beiden Ufern vermittelte, brachte die kleine Karawane, Personal und Material, gegen Entrichtung eines recht beträchtlichen Schiffszolles, hinüber.

Nun dehnte sich wieder die Steppe mit ihren endlosen Horizonten vor ihnen aus. Zu wiederholten Malen stießen sie auf Gruppen von Ostjaken, welche ihren religiösen Pflichten oblagen. Obgleich die Mehrzahl derselben[273] getauft ist, hat die christliche Religion wenig Gewalt über sie und hegen sie nach wie vor die tiefste Verehrung für ihre heidnischen Shaïtanbilder. Es sind dies aus großen Holzklötzen geschnitzte Götzen mit menschlichen Gesichtern, von denen jedes Haus, ja sogar jede Hütte eine kleine, mit einem Kupferkreuzchen gezierte Kopie besitzt.

Anscheinend ziehen die ostjakischen Priester, die Schamans, einen hübschen Vorteil aus jener Doppelreligion, abgesehen davon, daß sie großen Einfluß auf die zugleich christlichen und götzendienerischen Fanatiker ausüben. Man glaubt kaum, mit welcher Überzeugung diese Besessenen sich vor ihren Götzen herumwälzen und in was für epileptischen Verzerrungen sie sich ergehen.

Als man zum erstenmal ein halbes Dutzend solcher Tollhäusler erblickte, wandelte den jungen Xander die Lust an, mit ihnen zu wetteifern; er ging auf den Händen herum, bog sich in den Hüften, warf den Rumpf zurück, machte Luftsprünge wie ein Clown und beendete die Übung mit einer Reihe von Purzelbäumen.

Was seinen Vater zu der Bemerkung veranlaßte:

»Ich sehe Kind, daß du nichts von deiner Geschmeidigkeit eingebüßt hast!... Das ist recht gut!... Aber vernachlässigen wir uns nicht!... Denken wir an den Jahrmarkt von Perm!... Es handelt sich um die Ehre der Familie Cascabel!«

Im ganzen genommen, war die Reise ohne allzu große Anstrengungen vor sich gegangen, seitdem die Belle-Roulotte die Lenamündungen verlassen hatte. Manchmal mußte sie dichte Fichten- und Birkenwälder umgehen, welche einige Abwechslung in die Eintönigkeit jener Ebenen brachten und durch die sie sich keinen Weg zu bahnen vermocht hätte.

Im allgemeinen war das Land fast unbewohnt. Man reiste meilenweit, ohne auf ein Dörfchen oder ein Gehöft zu stoßen. Die ganze Gegend ist außerordentlich schwach bevölkert und der Bezirk von Berezów, der reichste von allen, zählt nur fünfzehntausend Einwohner in einem Umkreis von dreitausend Kilometern. Dagegen und vielleicht eben deshalb wimmelt es dort von Wild.

Herr Sergius und Jean konnten sich also ihrer vollen Leidenschaft für die Jagd hingeben und zugleich die Speisekammer der Frau Cascabel verproviantieren. Ortik begleitete sie zumeist und legte Proben einer merkwürdigen Geschicklichkeit ab. Die Hafen hausen zu Tausenden in der Steppe, gar nicht zu reden vom Federwild, dessen Schwärme unzählbar sind. Es gab auch Elentiere, Damhirsche, wilde Renntiere, sogar riesige Eber, sehr gefährliche Tiere, welche die Jäger sich wohlweislich enthielten aufzustöbern.

Was die Vögel betrifft, so sah man Enten, Tauchenten, Gänse, Krammetsvögel, Birkhühner, Haselhühner, Störche und weiße Rebhühner. Man hatte reiche Auswahl. Wenn ein Schuß sich zu irgend einem unverdaulicherenWild verirrt hatte, so überließ Cornelia dasselbe denn auch den beiden Hunden, die sich gern damit abfanden.

Diesem Reichtum an frischem Wildbret zufolge speiste man vorzüglich – sogar zu gut! Was Herrn Cascabel bewog, seinen Künstlern Genügsamkeit zu predigen.


Der Polarkreis wurde mit einer guten Flasche Branntwein begossen. (Seite 276.)
Der Polarkreis wurde mit einer guten Flasche Branntwein begossen. (Seite 276.)

Der Polarkreis wurde mit einer guten Flasche Branntwein begossen. (Seite 276.)


»Kinder, hütet euch vor dem Fettwerden!...« sagte er wiederholt. »Das Fett ist der Ruin für die Gelenkigkeit!... Es ist die Geißel des Akrobaten!... Ihr eßt zu viel!... Was Teufel, Mäßigkeit!... Xander, mir scheint, du wirst korpulent!... Pfui!... In deinem Alter!... Daß du dich nicht schämst!«

»Vater, ich versichere dir...«

»Versichere mir nichts!... Ich habe große Lust, dich allabendlich zu messen und gegebenen Falls fasten zu lassen... Clou macht es ebenso!... Er wird zusehends fetter!«

»Ich, Herr Direktor?«

»Ja, du, und es schickt sich nicht, daß ein Hanswurst dick sei... am allerwenigsten, wenn er Clou heißt!... Du wirst schließlich so rund wie ein Bierfaß werden...«

»Wenn ich nicht etwa auf meine alten Tage zur Hopfenstange zusammenschrumpfe!« antwortete Clou, seinen Gürtel fester anziehend.

Bald darauf hatte die Belle-Roulotte den Tas, der seine Fluten in die Jeniseibucht ergießt, ungefähr an dem Punkte zu passieren, wo die Marschroute den nördlichen Polarkreis durchschnitt, um in die gemäßigte Zone hinüberzugehen. Man sieht, welch schräge Linie sie seit der Abfahrt von der Liakhossinselgruppe gen Südwesten beschrieben hatte.

Aus diesem Anlasse glaubte der stets als Autorität betrachtete Herr Sergius, seinem gewohnheitsmäßigen Auditorium erklären zu sollen, was der Polarkreis sei, jenseits dessen die Sonne sich im Sommer niemals auf mehr als dreiundzwanzig Grad über dem Horizont erhebe.

Jean, der bereits einen Begriff von der Kosmographie hatte, verstand die von Herrn Sergius gegebene Erklärung. Aber Herr Cascabel spannte vergeblich alle Federn seiner Intelligenz an, es gelang ihm nicht, sich das eigentliche Wesen des Polarkreises vorzustellen.

»Was Kreise betrifft,« sagte er, »so kenne ich nur die Reisen, durch welche Kunstreiter und Reiterinnen zu springen pflegen. Aber schließlich ist dies kein Grund, jenen Kreis nicht anzufeuchten!«

Und der Polarkreis wurde mit einer Flasche guten Branntweins angefeuchtet, wie die Matrosen an Bord der Fahrzeuge, welche von einer Hemisphäre in die andere fahren, den Äquator anzufeuchten pflegen.

Der Übergang über den Tas wurde nicht ohne einige Schwierigkeiten[276] zuwege gebracht. Der Verkehr zwischen den beiden Ufern dieses Flüßchens wurde durch keine Fähre erleichtert und so mußte man eine passierbare Furt suchen, was mehrere Stunden in Anspruch nahm. Die beiden Russen legten großen Eifer an den Tag; zu wiederholten Malen mußten sie bis an den Gürtel ins Wasser steigen, um die Räder des Fuhrwerks frei zu machen.

Mit weit weniger Mühe setzte man am sechzehnten Mai über den Pur, einen schmalen Fluß, der weder reißend noch tief ist.

Zu Anfang Juni war die Hitze überaus groß geworden – was immer anormal erscheint, wenn es sich um Gegenden unter so hohen Breitegraden handelt. Während der zweiten Hälfte des Monats Mai zeigte das Thermometer fünfundzwanzig bis dreißig Grad. Da es in der Steppe absolut keinen Schatten gab, so litten Herr Sergius und seine Gefährten sehr unter dieser Temperatur. Selbst die Nacht mildert die Tagesglut nicht sonderlich, da die Sonne in dieser Jahreszeit kaum unter den Horizont jener langen Ebenen hinabsinkt. Nachdem sie denselben fast im Norden gestreift hat, steigt ihre weißglühende Scheibe sogleich wieder empor, um ihren täglichen Lauf von neuem zu beginnen.

»He!... Diese verwünschte Sonne!« sagte Cornelia immer wieder, indem sie ihr Gesicht mit einem nassen Schwamme betupfte. »Welch ein Ofenloch!... Und wenn es noch im Winter wäre.«

»Wenn es im Winter wäre,« antwortete Herr Sergius, »so würde der Winter eben zum Sommer.«

»Richtig!« versetzte Herr Cascabel. »Aber was mir schlecht kombiniert erscheint, das ist, daß wir kein einziges Stückchen Eis zu unserer Erfrischung haben, nachdem wir Monate lang solchen Überfluß daran gehabt!«

»Sehen Sie, Freund Cascabel, wenn wir Eis hätten, so hätten wir's infolge von Kälte, und wenn es kalt wäre...«

»So wäre es nicht warm!... Alles sehr richtig...«

»Wenn die Luft nicht etwa die Mitte hielte,« glaubte Clou-de-Girofle hinzufügen zu sollen.

»Immer richtiger!« antwortete Herr Cascabel; »aber darum ist es doch verteufelt heiß!«

Indessen hatten die Jäger ihren Sport nicht aufgegeben. Nur zogen sie sehr früh zu Felde und hatten es nicht zu bedauern. Eines Tages wurde sogar ein schöner Schuß abgegeben, welcher Jean zur Ehre gereichte. In der That wurde das von ihm erlegte Wild nicht ohne Mühe heimgebracht. Es war ein Tier mit kurzem, vorn rötlichem Haar, das aber während der Winterperiode grau gewesen sein mußte. Über seinen Rücken lief ein gelblicher Streif, wie man deren bei Maultieren sieht. Seine langen Hörner bogen sich zierlich über[277] seinem Haupte, was darauf hinwies, daß es ein männliches Exemplar dieser Art von Wiederkäuern sei.

»Ist das ein schönes Renntier!« rief Xander.

»O!« sagte Napoleone vorwurfsvoll zu ihrem älteren Bruder, »warum hast du ein Renntier getötet?...«

»Um es zu essen, Schwesterchen!«

»Ich liebe sie doch so sehr!«

»Nun, wenn du sie so sehr liebst,« versetzte Xander, »so kannst du dir daran gütlich thun, denn es wird für uns alle reichen.«

»Tröste dich, mein Herzchen!« sagte Herr Sergius. »Dieses Tier ist kein Renntier.«

»Was ist es denn?« fragte Napoleone.

»Es ist ein Argalischaf.«

Herr Sergius täuschte sich nicht; diese Tiere, welche im Winter in den Bergen und im Sommer auf der Ebene hausen, sind in Wahrheit nur ungeheure Schafe.

»Nun denn, Cornelia,« bemerkte Herr Cascabel; »da es ein Schaf ist, so wirst du uns seine Koteletten auf dem Roste braten!«

So geschah es, und da das Fleisch des Argali äußerst schmackhaft ist, so steht zu vermuten, daß Cäsar Cascabel an jenem Tage selber etwas mehr Fleisch ansetzte, als es sich mit den Erfordernissen seines Berufes vertrug.

Von hier aus hatte die Belle-Roulotte eine lange Strecke durch ein fast unfruchtbares Land zurückzulegen, um den Lauf des Ob zu erreichen. Die Ostjakendörfer wurden immer seltener; kaum daß man noch einigen wandernden Trupps begegnete, die nach den östlichen Provinzen zogen. Überdies hatte Herr Sergius seine Gründe, die mindest bevölkerten Teile des Bezirkes zu durchreisen. Es war geraten, die bedeutende Stadt Berezów zu umgehen, welche in geringer Entfernung jenseits des Ob liegt.

Von einem herrlichen Cedernwalde umrahmt, staffelweise auf einem steilen Hügel erbaut, von den Glockentürmen ihrer beiden Kirchen beherrscht, von der Sosva bespült, durch welche Kähne und Handelsschiffe unaufhörlich Furchen ziehen, ist diese Stadt mit ihren zweihundert Häusern der Mittelpunkt eines sehr lebhaften Handels, ein Sammelplatz für die Produkte Nordsibiriens.

Offenbar hätte die Ankunft der Belle-Roulotte in Berezow die öffentliche Neugier rege gemacht und die Polizei würde sich die Familie Cascabel sehr genau angesehen haben. Es war also besser, Berezow und sogar den gleichnamigen Bezirk zu umgehen. Gendarmen sind immer Gendarmen; und namentlich wenn sie Kosaken sind, ist es gescheiter, nichts mit ihnen zu schaffen zu haben.[278]

Bei dieser Gelegenheit merkten Ortik und Kirschef sehr wohl, daß es Herrn Sergius nicht paßte, Berezow zu berühren. Das bestärkte sie in ihrer Vermutung, daß dieser Russe insgeheim nach Rußland zurückzukehren wünsche.

Es war in der zweiten Juniwoche, daß die Marschroute eine kleine Abänderung erfuhr, um sich nördlich vom Bezirk Berezow hinzuziehen. Es war das ein Umweg von höchstens zehn Meilen, und am sechzehnten Juni lagerte die kleine Truppe am rechten Ufer eines mächtigen Stromes, neben dem sie eine Zeit lang thalwärts gefahren war.

Dieser Strom war der Ob.

Vom Purthale bis hierher hatte die Belle-Roulotte ungefähr hundertachtzig Meilen zurückgelegt. Sie befand sich jetzt nur mehr hundert Meilen weit von der europäischen Grenze. Die Uralkette, welche zwischen diesen beiden Weltteilen emporragt, würde bald den Horizont begrenzen.

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 269-279.
Lizenz:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon