Sechzehntes Capitel.

[165] Kaschgarien ist das östliche Turkestan, das sich allmählich in das russische Turkestan verwandelt.

Mitarbeiter der »Neuen Revue« äußerten darüber:

»Central-Asien wird ein großes Land erst an dem Tage sein, wo die moskowitische Regierung ihre Hand auf Tibet gelegt hat oder die Russen in Kaschgar zur Herrschaft kommen.«

Nun, das ist schon halb geschehen! Die Durchbrechung des Pamirgebietes hat es ermöglicht, die russische Eisenbahn mit der, die das Himmlische Reich von einer Grenze zur andern durchzieht, unmittelbar zu verknüpfen. Die Hauptstadt Kaschgariens ist jetzt ebensoviel russisch wie chinesisch. Die slavische und die gelbe Rasse berühren sich hier und leben friedlich nebeneinander. Wie lange das andauern werde? Ja, in die Zukunft mögen Andre blicken, ich beschränke mich auf die Gegenwart.

Um viereinhalb Uhr angekommen, um elf Uhr weiter gefahren. Die Groß-Transasiatische Bahn hat sich edelmüthig gezeigt. Ich werde Muße haben, Kaschgar zu besichtigen, natürlich nur unter Abschneidung einer Stunde von der uns gegebenen Zeit.

Was an der Grenze unterblieb, sollte in Kaschgar nachgeholt werden. Handelt es sich um Scheerereien bei nichtsnutzigen Formalitäten, um Beglaubigung von Papieren, um Durchsicht von Pässen u. dergl., da leisten die Chinesen nicht weniger als die Russen. Da giebt es dieselbe kleinliche und peinliche Schnüffelei, der wir uns unterwerfen müssen. Hier darf man die schreckliche,[165] bedrohliche Mahnung nicht in den Wind schlagen, die jeder Beamte des Himmlischen Reiches unter alle von ihm ausgefertigten Papiere setzt – »Zittert und gehorcht!« lautet sie. Ich bin entschlossen, zu gehorchen und werde auch wieder vor den Grenzbehörden erscheinen. Dabei erinnere ich mich auch der von Kinko geäußerten Befürchtungen, und höchstens hätt' ich um seinetwillen zu zittern, wenn sich die Untersuchung hier von den Reisenden auch auf deren Gepäckstücke ausdehnen sollte.

Vor der Ankunft in Kaschgar hatte mir der Major Noltitz noch gesagt:

»Glauben Sie ja nicht, daß sich das chinesische Turkestan von dem russischen wesentlich unterscheidet. Wir sind hier nicht im Lande der Pagoden, der Dschonken, der Blumenschiffe, Yamens, Hongs oder der Porzellanthürme. Ganz wie Bukhara, Merv und Samarkand ist auch Kaschgar eine Zwillingsstadt. Es verhält sich mit diesen Ortschaften Centralasiens wie mit gewissen Doppelsternen – nur daß sie einander nicht umkreisen.«

Diese Bemerkung des Majors ist ganz richtig. Jetzt ist die Zeit vorbei, wo die Emire in Kaschgarien herrschten, wo die Monarchie Mohammed-Yakub's ganz Turkestan in der Gewalt hatte, wo die Chinesen, die daselbst zu bleiben beabsichtigten, ihren Glauben an Buddha und Confucius abschwören und dafür Mohammedaner werden mußten, wenn sie ihr Leben gesichert sehen wollten. Leider kommen wir jetzt an des Jahrhunderts Ende für Alles zu spät, und die Wunder des asiatischen Kosmoramas, die merkwürdigen Sitten und Gebräuche, die Meisterwerke asiatischer Kunst sind nur noch in der Erinnerung oder in Ruinen vorhanden.

Die Eisenbahnen drücken das Land noch auf ein allgemein gleiches Niveau hinab – damit wird die Gleichheit, vielleicht auch die Brüderlichkeit, ihren Einzug halten. In der That ist Kaschgar schon gar nicht mehr die Hauptstadt Kaschgariens, sondern nur noch eine Station der Groß-Transasiatischen Bahn, der Verbindungspunkt zwischen den russischen und den chinesischen Linien, das eiserne Band, das vom Caspisee bis zu dieser Stadt mehr als dreitausend Kilometer mißt und sich von hier aus noch um weitere viertausend bis zur Hauptstadt des Himmlischen Reiches fortsetzt.

Ich komme jetzt auf die Doppelstadt zurück. Die neue ist Yangi-Chahr; die alte, gegen zwölf Kilometer entfernt liegend, ist das eigentliche Kaschgar. Ich fand Gelegenheit, beide zu besuchen, und muß sagen, daß eine der andern würdig ist.[166]

Erste Beobachtung: die alte und die neue Stadt sind mit einer erbärmlichen Lehmmauer eingefaßt, die ihnen gerade nicht zum Vortheil ist. Zweite Beobachtung: vergeblich würde man irgend welche alte Baudenkmäler suchen, denn das Material, das dazu verwendet wurde, war für Paläste und Hütten das nämliche. Nichts als Lehm, und nicht einmal gebrannter! Bei solchem an der Sonne gedörrten Schlamme aber erhalten sich keine regelmäßigen Linien, keine reinen Profile, keine sein ausgearbeiteten Sculpturen. Die schöne Architektur braucht Stein oder Marmor, gerade diese fehlen aber im chinesischen Turkestan völlig.

Ein kleiner, rasch dahinrollender Wagen hat uns, den Major und mich, nach Kaschgar befördert, das einen Umfang von etwa sechs Kilometern hat. Der Kizil-Su, das heißt der »Rothe Fluß«, der jedoch weit mehr ein gelber ist, wie sich das für einen chinesischen Wasserlauf geziemt, durchströmt dasselbe mit zwei überbrückten Armen. Will man einige interessantere Ruinen aufsuchen, so muß man sich ein Stück weiter über die Stadtmauer hinaus begeben, wo sich noch Ueberreste alter Festungswerke vorfinden, die je nach der Einbildungskraft der Archäologen fünfzehnhundert bis zweitausend Jahre alt sind. Viel mehr außer Zweifel ist, daß Kaschgar den furchtbaren Ansturm Tamerlan's hat aushalten müssen, und gestehen wir es nur zu, ohne die Unternehmungen des schrecklichen Hinkers würde die Geschichte Centralasiens höchst eintönig und langweilig sein. Nach jener Zeit regierten hier manche grausame Sultane – unter andern jener Uali-Khan-Tulla, der 1857 Schlagintweit, den gelehrtesten und kühnsten Forscher des asiatischen Festlandes, erdrosseln ließ. Zwei Bronzetafeln, Geschenke der geographischen Gesellschaften von Paris und von St. Petersburg, schmücken jetzt sein Denkmal.

Kaschgar ist ein wichtiger Platz für den Handel, der fast gänzlich in den Händen der Russen liegt. Seidenzeuge aus Khotan, Baumwolle, Filze, Wollenteppiche und Tuche bilden die Hauptartikel, die nach den Provinzialmärkten geschafft werden, doch zwischen Taschkend und Kulha selbst, auch über die Grenze nach dem Norden von Turkestan zur Ausfuhr gelangen.

Nach Mittheilungen des Majors ist es hier, wo Sir Francis Trevellyan ganz besonders Ursache gehabt hätte, seiner übeln Laune Luft zu machen. In den Jahren 1873 bis 1874 wurde nämlich eine von Chapman und Gordon geführte Gesandtschaft über Khotan und Yarkand von Kaschmir nach Kaschgar geschickt. Jener Zeit konnten die Engländer hoffen, daß sich Handelsbeziehungen[167] zu ihrem Vortheile entwickeln würden.


Der Bruch der Kuppelung ist nicht auf eine Frevelthat zurückzuführen. (S. 163.)
Der Bruch der Kuppelung ist nicht auf eine Frevelthat zurückzuführen. (S. 163.)

Statt an die indischen Bahnen anzuschließen, haben aber die russischen Bahnen mit dem chinesischen Schienenwege Fühlung bekommen, und der Erfolg dieser Verbindung nöthigte die Engländer, ihre Bemühungen gegenüber dem russischen Einfluß einzustellen.


Herr und Frau Caterna vor einer Gesellschaft musicirender Derwische. (S. 170.)
Herr und Frau Caterna vor einer Gesellschaft musicirender Derwische. (S. 170.)

Die Einwohnerschaft von Kaschgar ist turkmenisch mit starker Beimischung von Söhnen des Himmlischen Reiches, die hier gern als Diener, Handwerker oder öffentliche Träger thätig sind. Weniger glücklich als Chapman und Gordon, haben wir, der Major und ich, die kaschgarische Hauptstadt nicht sehen können als[168] die Truppen des Emirs ihre geräuschvollen Straßen erfüllten, wir haben nichts mehr gesehen von den Reitertänzen der Djigults, noch von denen der Sarbaz, die ohne Pferde sind. Verschwunden sind jene prächtigen Heerhaufen der Taisurchis, die nach chinesischer Art bewaffnet und eingeübt waren, jene stolzen Lanzenreiter, jene kalmükischen Bogenschützen, die ihre fünf Fuß langen Bogen spannten, jenen »Tigern« mit ihren bemalten Schilden und den Luntenflinten, die als Scharfschützen dienten. Alles ist verschwunden, das malerische Kriegsvolk der kaschgarischen Armee, und mit ihr auch der Emir selbst![169]

Um neun Uhr sind wir wieder in Yangi-Chahr zurück. Da entdecken wir am Ausgange einer der Straßen in der Nähe der Citadelle Herrn und Frau Caterna in höchster Bewunderung vor einer Gesellschaft musicirender Derwische.

Wer Derwisch sagt, sagt damit auch Bettler, und wer Bettler sagt, erweckt die deutlichste Vorstellung von Schmutz und Faulenzerei. Doch mit welcher Verschwendung von Gesten, welchen Haltungen beim Spielen langsaitiger Guitarren, welchen akrobatischen Verrenkungen beim Tanzen begleiten sie das Absingen ihrer Legenden und höchst nüchternen Lieder! In unserm Comödianten erwacht der Instinct des alten Künstlers. Er kann sich nicht mehr an der Stelle halten, das ist »stärker als er!«

So ahmt er denn jene Gesten, Haltungen und Verrenkungen mit dem Eifer eines alten Schiffsmaat, in dem noch ein erster Komiker steckt, für sich nach, und ich seh' es schon kommen, daß er sich in die Quadrillen der heulenden Derwische hineindrängt.

»O, Herr Claudius, spricht er mich an, es ist ja gar nicht schwer, die Uebungen dieser braven Leute nachzuahmen. Schreiben Sie mir eine turkestanische Operette, darin für mich eine Rolle als Derwisch, und Sie werden sehen, daß ich ganz in die Haut eines solchen Männchens schlüpfe!

– Daran zweifle ich gar nicht, mein lieber Caterna, hab' ich darauf geantwortet, ehe Sie aber in diese Haut schlüpfen, schlüpfe ich lieber in das Restaurant des Bahnhofs, um der turkmenischen Küche Valet zu sagen, denn wir werden nun bald nur auf die chinesische angewiesen sein.«

Dem Angebot wird um so lieber entsprochen, da der Ruf der kaschgarischen Küche, wie schon der Major gesagt hatte, mit Recht ein guter ist.

In der That sind wir alle, Herr und Frau Caterna, der junge Pan-Chao und ich, verwundert und entzückt sowohl über die Menge als auch über die Qualität der uns vorgesetzten Schüsseln. Süße Speisen wechseln dabei beliebig mit gebratenen und gerösteten ab; was aber der Komiker und die Soubrette niemals vergessen werden – so wenig, wie die Pfirsiche in Khodjend – das sind gewisse Gerichte, deren Erinnerung die englische Gesandtschaft wach erhalten wollte, denn sie hat in ihrem Reisebericht die Zusammensetzung wiedergegeben: Mit Zucker überpuderte Schweinsfüße, die mit schwachem Zusatz von Marinade in Fett geröstet sind, und gebackene Nierenstücken mit einer Sauce von Zucker und einer Art kleiner Pfannkuchen.

Frau Caterna langt zweimal von den ersteren und dreimal von den letzteren zu.[170]

»Ich sehe mich vor, sagt sie, wer weiß, was die Speisekammer des Dining-car auf den chinesischen Bahnen uns liefern wird! Vor Haifischflossen, die etwas zähe, und vor Schwalbennestern, die nicht besonders frisch sein dürften, hab' ich schon vorher meine Angst!«

Es ist zehn Uhr, als ein Gongschlag uns den Beginn der polizeilichen Untersuchung ankündigt. Wir verlassen den Tisch, nachdem das letzte Glas Wein aus Chao-Hing geleert war, und sehen uns bald Alle im »Saale der Reisenden« versammelt.

Alle meine Nummern waren anwesend – natürlich mit Ausnahme Kinko's, der unserm Frühstück gewiß die Ehre angethan haben würde, wenn er nur daran hätte theilnehmen können. Hier befanden sich der Doctor Tio-King mit seinem Cornaro unter dem Arme; Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett, die ihre Haare und Zähne vermengen – natürlich nur bildlich; Sir Francis Trevellyan unbeweglich und stumm, unzugänglich und hochnäsig, der auf der Schwelle seine Cigarre schmaucht; der Seigneur Farusklar in Begleitung Ghangir's, russische, turkmenische und chinesische Reisende – Alles in Allem sechzig bis achtzig Personen. Jeder muß einzeln an einen Tisch herantreten, an dem zwei Himmlische in Nationaltracht sitzen: ein Beamter, der ganz geläufig russisch spricht, und ein Dolmetscher für die deutsche, französische und englische Sprache.

Der Sohn das Himmlischen Reiches ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit kahlem Schädel, dickem Schnurrbart, langem Zopfe auf dem Rücken und großer Brille auf der Nase. Bekleidet mit einem rankengeschmückten Rocke und fettleibig, wie es einer Persönlichkeit von hohem Range in diesem Lande zukommt, hat er gerade keine sehr angenehmen Züge. Es handelt sich ja aber nur um Prüfung und Visirung von Papieren, und da die unsrigen in Ordnung sind, verschlägt es wenig, ob das Gesicht des Beamten anziehend oder widerwärtig aussieht.

»Wie der Mann aussieht! flüstert Frau Caterna.

– Ganz wie ein Chinese, antwortet ihr Gatte, und offen gesagt, beneiden wird ihn darum Keiner!«

Ich bin einer der Ersten, der seinen Paß vorzeigt, welcher die Visa des Consuls von Tilsit und der russischen Behörden von Uzun-Ada trägt. Der Beamte besichtigt ihn aufmerksam. Bei dem Verfahren der mandarinischen Regierung muß man immer auf Alles gefaßt sein. Die Prüfung ergiebt aber[171] keine Schwierigkeiten, und der Siegelabdruck mit dem grünen Drachen erklärt mich für »gut zum Reisen«.

Mit dem Komiker und der Soubrette geht es ebenso. Doch während seine Papiere besichtigt werden, verlohnt es sich der Mühe, Herrn Caterna zu beobachten. Er nimmt die Haltung eines ertappten Uebelthäters an, der seine Richter zu erweichen sacht; er macht die sanftesten Au gen, seine Lippen dehnen sich zum Lächeln, und doch hätte auch der schnüffligste Chinese keinen Einwand gegen ihn erheben können.

»In Ordnung, sagt der Dolmetscher.

– Ich danke, mein Fürst!« antwortet Herr Caterna mit dem ganzen Tone eines lustigen Parisers.

Was Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett angeht, so werden diese schnell wie ein Eilbrief abgefertigt. Wenn bei einem amerikanischen Handelsreisenden und bei einer englischen Händlerin nicht Alles in schönster Ordnung wäre, bei wem sollte es dann der Fall sein? Onkel Sam und John Bull, das ist ja dasselbe.

Andre russische und turkmenische Reisende unterliegen der Prüfung, ohne daß eine Einwendung er folgt. Ob sie der ersten oder der zweiten Wagenclasse angehören, sie sind in den von der chinesischen Regierung verlangten Verhältnissen, und diese erhebt für ihre Mühewaltung eine ziemlich hohe Abgabe, die in Rubeln, Taëls oder Sapeken zu entrichten ist.

Unter den Reisenden bemerke ich auch einen Geistlichen aus den Vereinigten Staaten, der so gegen fünfzig Jahre zählen mag und sich nach Peking begiebt; es ist der Reverend Nathaniel Morse aus Boston, einer jener eifrigen Bibelvertreter, jener Yankeemissionäre, der als Kaufmann verkleidet und in seinen Geschäften sehr bewandert ist. Auf jeden Fall hin geb' ich ihm in meinem Notizbuche die Nummer 13.

Die Durchsicht der Papiere des jungen Pan-Chao und des Doctor Tio-King giebt zu keiner Weiterung Anlaß, und diese wechseln »zehntausend guten Tag« in liebenswürdigster Weise mit dem Vertreter der chinesischen Regierung.

Als der Major Noltitz an die Reihe kommt, ereignet sich ein kleiner Zwischenfall. Sir Francis Trevellyan, der sich gleichzeitig mit ihm vorgestellt hat, scheint nicht gewillt, ihm Platz zu machen. Alles beschränkt sich jedoch auf hochmüthige und herausfordernde Blicke. Der Gentleman giebt sich gar nicht die Mühe, den Mund aufzuthun. Es scheint also in den Sternen geschrieben[172] daß ich seine Stimme nicht kennen lernen soll! ... Der Russe und der Engländer erhalten Jeder sein regelrechtes Visum und die Sache hatte keine weiteren Folgen.

Da erscheint der Seigneur Farusklar, begleitet von Ghangir, vor dem bebrillten Sohn des Himmlischen Reiches, der ihn mit einer gewissen Aufmerksamkeit ansieht. Major Noltitz und ich bemerken das. Wie wird er dieses Examen bestehen? ... Vielleicht werden wir uns jetzt über ihn klar ....

Wie groß aber ist unser Erstaunen und selbst unsre Verblüffung gegenüber dem Theatercoup, der sich in diesem Augenblicke abspielt!

Nachdem er nur einen Blick in die von Ghangir überreichten Papiere geworfen, springt der chinesische Beamte empor und verneigt sich ehrfurchtsvoll vor dem Seigneur Farusklar unter den Worten:

»Möge mich der Verwalter der Groß-Transasiatischen Bahn würdigen, meine zehntausend Ehrerbietungen anzunehmen!«

Bahnverwalter, das ist er also, dieser Seigneur Farusklar! Jetzt erklärt sich Alles! Während unsrer Fahrt durch das russische Turkestan hat er vorgezogen, sein Incognito zu wahren, wie es ein großer Herr in fremdem Lande liebt; jetzt aber auf chinesischen Bahnen weigert er sich nicht, die Stellung anzunehmen, die er ausfüllt, und die Huldigungen, auf die er ein Recht hat.

Und ich – freilich mehr im Scherze – ich hab' ihn für den Straßenräuber Ki-Tsang angesehen! Und der Major Noltitz, der ihn so lange voll Verdacht im Auge behielt. Doch, ich wollte ja eine »hervorragende Persönlichkeit« in unserm Zuge haben .... Jetzt hab' ich sie, das ist eine; ich werde des Mannes Bekanntschaft machen, werde ihn cultiviren wie eine seltene Pflanze, und da er ja russisch spricht, werd' ich ihn bis auf's Mark interviewen!

Gut! Da bin ich mir nun so klar über Alles, daß ich nur die Achseln zucken kann, als der Major mir zuraunt:

»Das kann deshalb doch ein alter Räuberhauptmann sein, mit dem sich die Gesellschaft der Transasiatischen Bahn abgefunden hat, um sich seiner guten Dienste zu versichern!«

Aber Major, seid doch ernsthaft!

Die Untersuchung der Reisenden naht sich ihrem Ende, und schon sollten die Thüren wieder geöffnet werden, als der Baron Weißschnitzerdörfer erscheint. Er ist außer Athem, ganz verwirrt, höchst unruhig, scheint ganz außer sich und zittert wie im Fieber. Warum erhitzt er sich, warum schüttelt, bückt und[173] erhebt er sich, und sieht sich rings um, wie Einer, der etwas besonders Werthvolles verloren hat? ...

»Ihre Papiere? fragt der Dolmetscher auf deutsch.

– Meine Papiere, erwidert der Baron, ich suche sie eben ... ich habe sie nicht mehr ... sie waren in meiner Brieftasche ...«

Dabei durchwühlt er alle Taschen seiner Beinkleider, der Weste, des Rockes und des Ueberziehers ... zusammen gegen zwanzig – findet aber nichts!

»Schnell!.. keinen Aufenthalt! drängt der Dolmetscher, der Zug kann nicht warten! ...

– Ich erhebe Einspruch, daß er ohne mich abgeht! ruft der Baron. Die Papiere ... wie können sie nur abhanden gekommen sein? ... Gewiß hab' ich meine Brieftasche fallen lassen ... 's wird sie schon Jemand wiederbringen ...«

Da hallt ein lauter Gongschlag durch den ganzen Bahnhof Binnen fünf Minuten soll der Zug abgehen. Der unglückliche Baron schreit aber ganz außer sich:

»Warten! ... Noch warten! ... Donnerwetter! Man wird wohl um eines Mannes willen, der in neununddreißig Tagen um die ganze Erde fährt, noch ein paar Minuten halten können ....

– Die Groß-Transasiatische Bahn wartet auf Niemand,« antwortet der Dolmetscher-Beamte.

Wir Uebrigen bekümmern uns nicht weiter um die Sache und begeben uns nach dem Perron, während der Baron sich noch immer gegen die unerbittliche chinesische Staatsgewalt auflehnt.

Ich besichtige den Zug und finde eine Veränderung an demselben insofern, als er von Kaschgar nach Peking nur noch eine geringe Anzahl von Reisenden befördern wird. Statt zwölf Wagen zählt er deren jetzt nur noch zehn und zwar in folgender Ordnung: Locomotive und Tender, Vorderpackwagen, zwei Waggons erster Classe, Restaurationswagen, zwei Waggons zweiter Classe, Wagen des todten Mandarinen und Schlußgepäckwagen. Die russischen Maschinen, die uns von Uzun-Ada bis hierher gebracht haben, werden jetzt durch chinesische ersetzt, auch nicht mehr mit Naphta, sondern mit Steinkohle geheizt, wovon in Turkestan große Lager vorkommen und an jeder Station starke Vorräthe aufgehäuft sind.[174]

Meine erste Sorge ist es nun, mich nach dem Vorderpackwagen zu begeben. Gerade jetzt sind die Beamten dabei, diesen zu untersuchen, und ich zittere nicht wenig für Kinko ...

Entdeckt ist der Betrug bestimmt noch nicht, denn das hätte eine allgemeine Aufregung verursacht. Wenn man nur mit dem Kasten vorsichtig umgegangen ist! Vielleicht ist er an eine andre Stelle gesetzt, vielleicht die Vorderwand nach hinten und der Obertheil nach unten gekehrt worden! ... dann könnte Kinko nicht mehr heraus und das würde seine Lage verschlimmern ....

Da ... jetzt verlassen die Beamten schon den Packwagen, dessen Thür sie wieder schließen, ohne daß es mir möglich wurde, einen Blick hineinzuwerfen. Das Wichtigste bleibt es doch, daß Kinko nicht auf frischer That ertappt worden ist! Sobald es möglich wird, begebe ich mich in den Packwagen, und werde, wie man in den Bankhäusern sagt, einmal »mein Dépôt« darin controliren.

Ehe wir den Waggon wieder besteigen, bittet mich der Major Noltitz, ihm nach dem Ende des Zuges zu folgen.

Was wir da sehen, entbehrt nicht eines gewissen Interesses; es ist die Uebergabe der sterblichen Ueberreste des Mandarinen Yen-Lou, die von den persischen Wächtern an eine Rotte Soldaten der Grünen Standarte – diese bildet die chinesische Gendarmerie – erfolgt. Der Entseelte wird nun von etwa zwanzig Chinesen gehütet werden, die in dem, jenem Leichenwagen vorhergehenden Waggon zweiter Classe Platz nehmen sollen. Sie sind mit Revolvern und Gewehren bewaffnet und von einem Officier befehligt.

»Alle Tausend, sag' ich zum Major, das maß entschieden eine sehr hoch stehende Person gewesen sein, da der Sohn des Himmels dem Todten noch eine Ehrenwache sendet.

- Oder eine Schutzwache,« erklärt der Major.

Der Seigneur Farusklar und Ghanghir haben der Uebergabe ebenfalls zugesehen, was ja nicht zu verwundern ist. Hat der »Verwalter« nicht sogar die Verpflichtung, über den der Sorge der Beamten von seiner Bahngesellschaft anvertrauten hohen Verstorbenen zu wachen?

Jetzt erklang der Gong zum letztenmale; Alle beeilen sich, in ihre Waggons zu kommen.

Und was ist aus dem Baron geworden?..[175]

Der kommt gleich einem Sturmwind auf dem Perron hergejagt. In der neunzehnten Tasche hat er seine Papiere wiedergefunden und auch das nöthige Visum erhalten .... Es war auch die höchste Zeit.

»Die Passagiere nach Peking, einsteigen!« ruft Popof mit lauter Stimme.

Der Zug bewegt sich und rollt mit zunehmender Schnelligkeit weiter.

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 165-176.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon