Sechsundzwanzigstes Capitel.

[259] »Peking! Alles aussteigen!« ruft Popos.

Herr Caterna antwortet mit richtig schnarrendem Parisisch:

»Glaub's Dir, alter Junge!«

Alle Welt hat die Wagen geräumt.

Es ist um vier Uhr Nachmittags.

Für Leute, die durch eine dreihundertzwölf Stunden lange Fahrt erschöpft sind, ist's jetzt nicht an der Zeit, durch die Stadt – was sag' ich? ... durch die vier ineinander geschachtelten Städte zu laufen. Dazu hab' ich ja Muße genug, da sich mein Aufenthalt in dieser Hauptstadt auf mehrere Wochen erstrecken wird.

Vorläufig empfiehlt es sich, ein Hôtel auszuspähen, in dem ich einigermaßen erträglich wohnen kann. Nach eingeholter Erkundigung heg' ich die Hoffnung, daß das in der Nähe des Bahnhofs gelegene »Hôtel der Zehntausend Träume« ein Unterkommen bieten dürfte, das unsre abendländischen Gewohnheiten nach Möglichkeit befriedigt.

Die dem Fräulein Zinca Klork zugedachte Visite denk' ich am folgenden Tage abzustatten. Ich werde mich zu ihr noch eher begeben, als der Kasten in ihre Wohnung geschafft worden ist, und ach! immer zu zeitig, weil das nur den Zweck hat, ihr das Ableben ihres Verlobten mitzutheilen.

Der Major Noltitz wird mit mir dasselbe Hôtel bewohnen. Ich brauche von ihm nicht Abschied zu nehmen, so wenig wie von Herrn und Frau Caterna, die vor ihrer Weiterreise nach Shangaï ebenfalls vierzehn Tage hier zu verweilen denken. Pan-Chao und der Doctor Tio-King werden von einem Wagen abgeholt,[259] der sie nach dem, von der Familie des jungen Chinesen bewohnten Yamen entführt. Wir werden uns jedoch wiedersehen. Freunde scheiden nicht mit einem einfachen Lebewohl von einander, und der Händedruck, den ich mit ihm beim Verlassen der Waggons gewechselt, wird nicht der letzte gewesen sein.

Herr und Frau Ephrjuell wollen eiligst vom Bahnhof verschwinden, um sich ins Geschäft zu stürzen, was sie zur Aufsuchung eines Hôtels im Handelsviertel der Stadt, innerhalb der chinesischen Umfassungsmauer, nöthigt. Sie werden aber nicht fortkommen, ohne daß ich mich von ihnen empfohlen habe.

So treten wir, der Major Noltitz und ich, auf das liebenswürdige Paar zu, wobei es zum Austausche der landläufigen Höflichkeiten kommt.

»Endlich, red' ich Fulk Ephrjuell an, sind die zweiundvierzig Frachtstücke des Hauses Bulbul and Co. im sichern Hafen angelangt! Freilich hätte nicht viel daran gefehlt, daß die Explosion unsrer Locomotive Ihre künstlichen Zähne zerstörte ....

– Ganz richtig, Herr Bombarnae, antwortet der Amerikaner, meine Zähne sind bei der Geschichte gut weggekommen. Was haben wir seit der Abfahrt von Tiflis für Abenteuer erlebt! ... Wahrlich, die Fahrt war weniger eintönig, als ich voraussetzte ....

– Und dann haben Sie sich, fällt der Major ein, wenn ich nicht irre, unterwegs auch noch verheiratet!

– Wait a bit! erwidert der Yankee in merkwürdigem Tone. – Um Verzeihung ... wir haben Eile ....

– Und wir wollen Sie auch nicht aufhalten, Herr Ephrjuell, antworte ich, Sie werden uns aber doch gestatten, der Frau Ephrjuell und Ihnen selbst ein Auf Wiedersehen! zuzurufen.

– Auf Wiedersehen!« stößt die amerikanisirte Engländerin hervor, die mir bei der Ankunft hier noch trockner erscheint als bei der Abfahrt.

Dann wendet sie sich schnell um.

»Ich habe keine Lust zu warten! Herr Ephrjuell ....

– Ich auch nicht, Madame,« erwidert der Yankee.

Herr ... Madame! ... Was der Kuckuck, sie nennen sich schon nicht mehr Fulk und Horatia!

Ohne daß er ihr den Arm geboten hätte, begeben sich dann Beide nach dem Ausgange. Er geht sogar an der rechten Seite und läßt die schönere Hälfte zur Linken einhertrotten. Doch, das ist ja ihre Sache.[260]

Blieb noch meine Nummer 8, die stumme Persönlichkeit, die im ganzen Stücke ... während der ganzen Reise, wollt' ich sagen, kein Wort gesprochen hat. Und doch möcht' ich den Ton seiner Stimme, wär's auch nur auf eine Secunde ... einmal hören.

Täusche ich mich nicht, so wird sich jetzt dazu Gelegenheit bieten.

Da steht der phlegmatische Gentleman und läßt den verächtlichen Blick über die Wagenreihe schweifen. Er hat seinem gelben Maroquin-Etuis eine Cigarre entnommen. Doch beim Schütteln des Schächtelchens mit Zündhölzern bemerkt er, daß keines mehr darin ist.

Meine Cigarre – eine vorzügliche Londres – brannte dagegen und ich rauche mit der glücklichen Befriedigung des Liebhabers und auch mit dem Bedauern des Mannes, der diese Sorte in ganz China nicht wieder finden wird.

Sir Francis Trevellyan hat den Glutschein an der Spitze meiner Cigarre bemerkt und kommt auf mich zu.

Ich denke, er wird mich um Feuer bitten oder vielmehr um »Licht«, wie die Engländer sagen, und ich erwarte das herkömmliche »some light«.

Der Gentleman begnügt sich aber den Arm auszustrecken, und mehr maschinenmäßig reich' ich ihm meine Cigarre hin.

Er nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, klopft das weiße Aschenköpfchen ab, zündet die seinige an, und nun bild' ich mir doch ein, statt des nicht gehörten »some light« wenigstens ein »thank you, Sir!« zu hören.

Nichts dergleichen! Nachdem er einige Züge aus seiner Cigarre gethan, wirst Sir Francis Trevellyan die meinige achtlos auf den Perron. Dann wendet er sich, steif wie ein echter Londoner, nach links und verläßt gemessenen Schrittes den Bahnhof.

Wie? Und da haben Sie dazu geschwiegen? ... Ja, ich war gar zu verblüfft, ich konnte kein Wort hervorbringen und mich nicht von der Stelle rühren .... Ich war wie vom Donner gerührt durch diese ultra-britannische Unverfrorenheit, während der Major Noltitz vor Lachen bersten wollte.

Ah, wenn ich ihn wieder treffe, diesen Herrn .... Ich habe aber Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire, niemals wiedergesehen!

Eine halbe Stunde später sind wir im »Hôtel der Zehntausend Träume« einquartiert. Hier setzt man uns ein Diner vor, das nach den ganz unglaublichen Vorschriften der chinesischen Kochkunst zugerichtet ist. Nach eingenommenem[261] Mahle, zur Zeit der zweiten Wache – um mich der chinesischen Bezeichnung zu bedienen – schlummern wir trotz der schmalen Betten in den wenig comfortabeln Zimmern dennoch – nicht den Schlaf der Gerechten, doch den der Erschöpften, und das ist am Ende ebenso gut.

Vor zehn Uhr bin ich nicht wieder erwacht, und vielleicht hätt' ich den ganzen Vormittag verschlafen, wenn ich mich nicht der Erfüllung meiner Pflicht erinnerte. Und welcher Pflicht! Mich nach der Cha-Chuastraße zu begeben, ehe der traurige Kasten an seine Adressatin, Fräulein Zinca Klork, abgeliefert worden war.

Ich stehe also auf. Ja, wenn Kinko nicht umgekommen wäre, hätt' ich mich nach dem Bahnhofe zurückbegeben, ihm, wie versprochen, bei der Entladung des kostbaren Collos beigestanden ... ich hätte darüber gewacht, daß er vorschriftsmäßig auf den Rollwagen gesetzt wurde ... hätte ihn bis zur Cha-Chuastraße begleitet ... ihn sogar ins Zimmer des Fräulein Zinca Klork hinaustragen helfen! ... Und dann, welcher Jubel, wenn der Verlobte durch die Vorderseite des Kastens herausgesprungen und der wunderhübschen Rumänin in die Arme gestürzt wäre ....

Doch nein! Wenn dieser Kasten ankommt, wird er leer sein, gleich einem Herzen, aus dem jeder Blutstropfen entflohen ist.

Ich verlasse das »Hôtel der Zehntausend Träume« um elf Uhr, winke mir einen jener chinesischen Wagen heran, die mehr einer auf Räder gesetzten Sänfte gleichen, gebe die Adresse des Fräulein Zinca Klork an – und nun bin ich zu ihr auf dem Wege.

Von den achtzehn Provinzen Chinas ist bekanntlich die Provinz Petchili die nördlichst gelegene. Aus neun Kreisen bestehend, hat sie Peking zur Hauptstadt, das frühere Chim-Kin-Fo, eine Bezeichnung, die »dem Himmel gehorchende Stadt ersten Ranges« bedeutet.

Ich weiß nicht, ob diese Stadt jemals dem Himmel besonders unterthan war, dagegen aber, daß sie den Gesetzen der gradlinigen Geometrie gehorcht. Sie besteht aus vier quadratischen oder doch rechtwinkligen Einzelstädten: der Chinesenstadt, die die Tatarenstadt, die wiederum die Gelbe Stadt oder Hung-Tching, welch' letztere endlich die Rothe Stadt oder Tseu-Kai-Tching, d.h. die »verbotene Stadt«, umschließt.

In diesem Gesammtgebiete von über vierundzwanzig Kilometer Umfang zählt man zwei Millionen Bewohner, Tataren oder Chinesen, die als »die[262] Germanen des Orients« bezeichnet werden, und daneben einige Tausend Mongolen und Tibetaner.

Daß auf den Straßen ein sehr lebhafter Verkehr herrscht, erkenne ich an den Hindernissen, die meinen Wagen bei jeder Radumdrehung aufhalten. Da wimmelt es überall von wandernden Händlern, schwerbelasteten Karren und von Mandarinen mit lärmendem Gefolge. Dabei rede ich noch gar nicht von den herrenlosen Hunden, die halb Wölfen, halb Schakals gleichen, zottiges Haar, bedrohliche Augen und furchtbare Zähne haben, sich nur von zahlreichen Abfällen nähren und vorzüglich die Fremden in Schrecken setzen. Zum Glück bin ich nicht zu Fuß, habe in der Rothen Stadt, die man nicht durchqueren darf, nichts zu schaffen, und brauche mich auch weder in die Gelbe noch in die Tatarenstadt zu wagen.

Die chinesische Stadt bildet ein rechtwinkliges Parallelogramm, das von Norden nach Süden durch die vom Thore Hung-Ting bis zum Thore Tien reichende Große Allee getheilt und von Westen nach Osten von der Cha-Chua-Alleestraße durchschnitten wird, die sich vom gleichnamigen Thore bis zum Thore Chuan-Tsa erstreckt. Bei dieser einfachen Anordnung ist es sehr leicht, die Wohnung des Fräulein Zinca Klork zu finden, bei dem Straßengewühle hier aber freilich schwierig, sich dahin zu begeben.

Endlich, kurz vor Mittag, gelange ich ans Ziel. Der Wagen hält vor einem Hause mit bescheidenem Aeußern, das von kleineren Handwerkern und, wie ein Schild daran erkennen läßt, meist von Fremden bewohnt wird.

In der ersten Etage, mit den Fenstern nach der Straße zu, siedelt die junge Rumänin, die, wie früher erwähnt, in Paris als Putzmacherin gelernt hat, jetzt dieses Geschäft in Peking betreiben will und sich auch schon einiger Kundschaft erfreut.

Ich steige nach dem ersten Stockwerke hinaus. An einer Thür les' ich den Namen Zinca Klork. Ich klopfe. Man öffnet.


Ich gebe die Adresse des Fräulein Zinca Klork an. (S. 262.)
Ich gebe die Adresse des Fräulein Zinca Klork an. (S. 262.)

Da steh' ich denn vor einem wirklich reizenden Mädchen, ganz wie Kinko gesagt hat. Es ist eine Blondine von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren, mit den dunkeln Gluthangen der Rumänen, von schönem Wuchs und mit einnehmenden, freundlichen Zügen. Wär' es ihr unbekannt geblieben, daß der fällige Zug der Groß-Transasiatischen Bahn trotz der Hindernisse während der Fahrt gestern Nachmittag in Peking eingelaufen ist, und erwartet sie denn nicht ihren Verlobten von Minute zu Minute?[263] Und ich ... ich soll nun mit einem einzigen Worte diese Freude dämpfen, dieses Lächeln auslöschen ....


Die unglückliche Zinca sinkt auf einen Stuhl. (S. 267.)
Die unglückliche Zinca sinkt auf einen Stuhl. (S. 267.)

Fräulein Zinca Klork ist höchst verwundert, einen Fremdling ihre Schwelle überschreiten zu sehen. Da sie mehrere Jahre in Frankreich gelebt hat, erkennt sie in mir sofort den Franzosen und fragt, was ihr die Ehre meines Besuches verschaffe.

Ich muß meine Zunge hüten, denn ich riskire sonst, das arme Kind auf der Stelle zu tödten.[264]

»Fräulein Zinca ... beginne ich zögernd.

– Wie, Sie kennen meinen Namen? ruft sie.

– Ja, mein Fräulein; ich bin gestern mit dem Zuge der Groß-Transasiatischen Bahn eingetroffen ....«

Das junge Mädchen erbleicht, ihre schönen Augen verschleiern sich. Offenbar hat sie vor etwas Angst, wahrscheinlich, ob wohl Kinko in seinem Kasten entdeckt, verhaftet und ins Gefängniß geworfen sei.

Ich beeile mich hinzuzufügen:[265]

»Fräulein Zinca ... gewisse zufällige Umstände ... haben mir ... von der Reise eines jungen Rumänen Kenntniß gegeben ....

– Kinko ... mein armer Kinko ... ist entdeckt worden? ... stammelt sie erzitternd.

– Nein ... nein ... antworte ich zögernd. Außer mir hat Niemand etwas davon erfahren. Ich habe ihn im Packwagen – und während der Nacht – oft aufgesucht .... Wir sind Bekannte ... sind Freunde geworden. Ich hab' ihn mehrfach mit dem Nöthigsten versorgt ...

– O, ich danke Ihnen, mein Herr! unterbricht mich Fräulein Zinca Klork, indem sie meine Hände ergreift. Von einem Franzosen konnte sich's Kinko ja versehen, nicht verrathen zu werden, sondern sogar Unterstützung zu finden! ... Dank! ... Tausend Dank!«

Ich bin in peinlichster Verlegenheit bezüglich der Mittheilung, die ich dem jungen Mädchen zu machen gekommen bin.

»Niemand hat also die Anwesenheit meines geliebten Kinko geargwohnt? fragt sie.

– Niemand!

– Sie müssen wissen, geehrter Herr, daß wir nicht reich sind ... Kinko war ohne Geldmittel ... da unten ... in Tiflis ... und ich hatte auch noch nicht genug erübrigt, um ihm das Reisegeld zu schicken ... doch, nun ist er ja hier ... wird sich durch seiner Hände Fleiß ernähren – o, er ist ein tüchtiger Arbeiter! – und sobald wir der Bahngesellschaft unsre Schuld berichtigen können ...

– Ja, ich weiß ... ich weiß.

– Dann wollen wir heiraten, mein Herr ... Er liebt mich so innig und ich ihn nicht weniger! ... In Paris war's, wo wir uns kennen lernten ... zwei Länder, wie man dort zu sagen pflegt. – Er war gegen mich stets so aufmerksam! – Als er sich dann nach Tiflis zurückbegeben, bat ich ihn so sehr, hierher zu kommen, daß er sich zu dieser Kastenreise entschloß. – Der arme Junge, was wird er ausgestanden haben!

– Nicht doch, Fräulein Zinca ... nicht doch ...

– Wie glücklich werd ich sein, den Frachtschein über meinen armen Kinko einzulösen ....

– Ja, die Fracht zu bezahlen.

– Das muß doch sehr bald geschehen können?

– Nein ... und am Nachmittage ... jedenfalls wird dann ...«[266]

Ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte.

»Mein bester Herr, fährt Zinca fort, wir – Kinko und ich – müssen uns heiraten, sobald die nöthigen Formalitäten erfüllt sind, und wenn ich Ihre Gefälligkeit nicht mißbrauche, erlaub ich mir, Sie um Ihre Anwesenheit bei unsrer Trauung zu bitten ...

– Bei Ihrer Trauung ... natürlich ... das hab' ich meinem Freunde Kinko versprochen ....«

Armes Kind! Ich kann sie nicht länger in dieser Lage lassen ... maß ihr Alles sagen ... Alles.

»Fräulein Zinca, Ihr Kinko ...

– Ja, ja, er selbst hat Sie ersucht, mir sein Eintreffen anzumelden ....

– Gewiß ... Fräulein Zinca ... doch Sie begreifen ... Kinko ist ... sehr ermüdet ... nach einer so langen Fahrt ...

– Ermüdet? ...

– O, erschrecken Sie nicht!

– Wär' er vielleicht gar krank? ...

– Ja ... ein wenig ...

– Dann geh' ich auf der Stelle ... Ich muß ihn sehen ... Sie, mein Herr, werden die Güte haben, mich nach dem Bahnhofe zu begleiten ....

– Nein! Das wäre eine Unklugheit, Fräulein Zinca! ... Bleiben Sie hier! ... Bleiben Sie!«

Zinca Klork sieht mich verwundert an.

»Die Wahrheit, mein Herr, die Wahrheit! ruft sie. Verheimlichen Sie mir nichts ... Kinko ...

– Ach ja, ich habe Ihnen ... eine traurige Mittheilung zu machen ....«

Zinca Klork schwankt ... ihre Lippen zittern .... Kaum vermag sie ein Wort hervorzubringen.

»Er ist entdeckt worden! schreit sie auf. Sein Betrug ist bekannt! ... Sie haben ihn verhaftet ....

– Ach, wenn es nur das wäre! ... Mein Fräulein ... wir wurden von Unfällen betroffen ... unterwegs ... der ganze Zug wäre beinahe zertrümmert worden .... Eine entsetzliche Katastrophe ...

– Er ist todt! ... Kinko ist todt?«

Die unglückliche Zinca sinkt auf einen Stuhl, und – um mich der bilderreichen Sprache der Chinesen zu bedienen – »ihre Thränen fließen wie der[267] Regen in der Herbstnacht«. Ich habe in meinem Leben noch keinen so erschütternden Anblick gehabt! ... Ich darf sie aber nicht in diesem Zustande zurücklassen, das arme Mädchen! ... Sie wird bewußtlos werden .... Ich weiß mir nicht zu helfen ... ergreife ihre Hände ... und rufe wiederholt:

»Fräulein Zinca ... Fräulein Zinca ...«

Da entsteht vor dem Hause ein Heidenlärm. Man hört Schreien und Johlen aus der Menge, und zwischen durch eine Stimme ...

Gerechter Gott ... ich täusche mich nicht ... das ist die Stimme Kinkos! ... Ich habe sie gleich wiedererkannt! ... Bin ich denn recht bei Sinnen? ...

Zinca Klork, die jetzt aufgesprungen ist, stürzt nach dem Fenster ... sie reißt es auf ... wir sehen Beide hinaus ...

Vor der Hausthür hält ein Rollwagen. Der Kasten mit seinen vielen Aufschriften: »Oben, Unten, Zerbrechlich, Spiegelglas, Vor Nässe zu schützen« ist da unten ... halb zerbrochen. Der Rollwagen hatte, eben als der Kasten abgeladen werden sollte, von einem Karren einen tüchtigen Stoß bekommen ... der Kasten gleitet herunter ... er geht aus den Fugen ... und hervor springt Kinko, wie ein Teufel aus dem Zauberapparat ... aber lebend ... frisch und munter! ...

Ich kann meinen Augen nicht trauen! ... Wie? Mein junger Rumäne ist bei der Explosion nicht umgekommen?.. Nein, wie ich das sehr bald aus seinem Munde höre, ist er grade im Augenblicke, wo der Kessel platzte, auf das Geleis herunter geschleudert worden und zuerst regungslos liegen geblieben; später, und als er sich unverletzt sah – ein wahres Wunder! – hat er sich abseits gehalten, bis er wieder unbemerkt in den Packwagen schlüpfen konnte. Ich selbst hatte diesen bereits verlassen, und da ich ihn darin vergeblich gesucht hatte, mußte ich annehmen, daß er das erste Opfer der Katastrophe geworden sei.

Nein, diese Ironie des Schicksals! – Eine Fahrt von sechstausend Kilometern auf der Groß-Transasiatischen Bahn in einem Kasten unter Gepäckstücken zurückgelegt zu haben, so vielen Gefahren, einem Ueberfalle durch Räuber und einer Explosion der Maschine entgangen zu sein, und dann hier durch den dümmsten Unfall, durch den Anprall eines Karrens in einer Straße von Peking, den armen Kinko um die ganze Frucht seines Wagnisses, seiner ... nun ja ... betrügerischen Reise zu bringen ... nein, ich finde nicht das richtige Wort, um diese Niedertracht des Schicksals zu brandmarken!

Der Rollwagenführer hat einen Schrei ausgestoßen, als er das lebende Geschöpf hervorspringen sah. Sofort strömt die Menge zusammen, der Betrug ist[268] entdeckt, Polizisten erscheinen auf dem Platze ... und was soll nun der junge Rumäne beginnen, der kein Wort chinesisch kann und sich nur durch eine unzulängliche Zeichensprache auszudrücken vermag? Natürlich wird er auch nicht verstanden, und welche Erklärung hätte er für diesen Vorgang wohl geben können? ...

Zinca Klork und ich, wir eilen an seine Seite.

»Meine Zinca ... meine geliebteste Zinca! ruft er und drückt das junge Mädchen aus Herz.

– Mein Kinko ... mein einzig geliebter Kinko! schluchzt sie, während ihre Thränen sich mit den seinigen mischen.

– Herr Bombarnae!, sagt der arme Bursche, der seine ganze Hoffnung einzig auf mich setzt.

– Kinko, antworte ich, verzweifeln Sie nicht und rechnen Sie auf mich! ... Sie leben ja, Sie, den wir für todt hielten ....

– Ja, doch jetzt ist es auch nicht viel besser!« murmelt er ....

Unsinn! Alles ist besser, als todt zu sein – selbst wenn man die Aussicht hat, ins Gefängniß, und wäre es auch nur ein chinesisches, wandern zu müssen. So geschieht es denn auch, trotz der Bitten des jungen Mädchens, denen die meinen sich anschließen, ohne daß es mir gelingt, mich verständlich zu machen, während Kinko unter dem Gelächter und dem Geheul der Menge von der Polizei abgeführt wird.

Ich werd' ihn aber nicht im Stiche lassen ... nein, und müßt' ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, ich verlasse ihn nicht!

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 259-269.
Lizenz:

Buchempfehlung

Dulk, Albert

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.

30 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon