Viertes Capitel.
Worin Clovis Dardentor Dinge ausspricht, die sich Jean Taconnat zunutze zu machen gedenkt.

[47] »Welche Lücken an unserm Tische, lieber Kapitän, rief Clovis Dardentor, während der Restaurateur das Herumgehen der Schüsseln überwachte, ohne dabei seine gewohnte Würde abzulegen.

– Vielleicht ist zu erwarten, daß die Lücken sich noch vermehren, wenn wir noch gröbere See bekommen, bemerkte Marcel Lornans.

– Gröbere?... Ein Meer aus Oel! entgegnete der Kapitän Bugarach. Der »Argeles« war nur in eine Gegenströmung gerathen, wo etwas stärkere Wellen standen. Das kommt zuweilen vor. –

– Meist zur Zeit des Frühstücks und des Mittagessens, bemerkte Jean Taconnat mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt.

– In der That, setzte Clovis Dardentor so hingeworfen hinzu, das hab' ich auch schon bemerkt. und wenn die verteufelten Seefahrtsgesellschaften dabei ihr Pfeifchen schneiden...

– Könnten Sie so etwas glauben? rief der Doctor Bruno.

– Ich glaube nur Eines, erwiderte ihm Clovis Dardentor, daß ich mir deshalb noch keinen Bissen habe entgehen lassen, und wenn auch kein Mensch mehr an der Tafel bleibt...


So und so viele andre folgten ihm. (S. 45.)
So und so viele andre folgten ihm. (S. 45.)

– Sie halten daran aus! vervollständigte Jean Taconnat seine Worte.

– Wie Sie sagen, Herr Taconnat.«

Unser Perpignaneser nannte ihn schon beim Namen, als wären sie bereits seit achtundvierzig Stunden mit einander bekannt.

»Es wäre indeß möglich, nahm jetzt Marcel Lornans das Wort, daß sich einzelne unsrer Tischgenossen wieder hier einfänden.... Das Schiff rollt jetzt bedeutend weniger...

– Das sagte ich ja vorher, bestätigte der Kapitän Bugarach, es war nur vorübergehend... wohl nur die Folge einer Nachlässigkeit des Steuermanns... Herr Restaurateur, sehen Sie doch nach, ob unter den andern Herrschaften..[47]

– Unter andern Dein armes Väterchen, Agathokles!« bemerkte Clovis Dardentor.

Der jüngere Désirandelle schüttelte jedoch den Kopf; er wußte recht wohl, daß der Urheber seiner Tage in den Speisesalon nicht zurückzurufen sein werde, und so verlor er darüber keine Worte.

Der Restaurateur wendete sich, von der Nutzlosigkeit des Versuchs im voraus überzeugt, der Thür zu. Hat ein Passagier die Tafel erst einmal verlassen, so ist es, selbst wenn die Ursache davon weggefallen war, sehr selten,daß er sich entschließt, wieder daran zu erscheinen. Auch hier füllten sich die Lücken am Tische nicht wieder, worüber sich der würdige Kapitän und der vortreffliche Doctor sehr betrübt zu erscheinen bemühten.

Eine leichte Ruderwendung hatte den Dampfer wieder in den richtigen Curs gebracht; der Seegang traf ihn nicht mehr von vorn und das schwache Dutzend von Tischgästen, die nicht davon gelaufen waren, hatte nun Ruhe.


 »Ihr Wohlsein, meine Herrn!« (S. 54.)
»Ihr Wohlsein, meine Herrn!« (S. 54.)

Es ist übrigens besser, wenn nicht zu viele bei Tische sitzen, wie Clovis Dardentor behauptete. Die Bedienung gewinnt dadurch ebenso, wie die Vertraulichkeit und die Unterhaltung wird mehr allgemein.

Das traf denn auch hier ein. Der Held unsrer Geschichte führte dabei natürlich das große Wort.

Der Doctor Bruno fand, so flüssig es ihm sonst vom Munde ging, nur mit Mühe Gelegenheit, eine Bemerkung einzuflechten, Jean Taconnat ging es nicht besser, doch letztrer amüsierte sich weidlich, dem Redeschwalle zu lauschen. Marcel Lornans begnügte sich zu lächeln, und Agathokles damit, daß er immer aß, ohne auf etwas zu hören. Herr Eustache Oriental schnalzte vergnüglich bei den besten Stücken, die er mit einer Flasche Pommard begoß, welche ihm der Restaurateur in einem breiten und sicher stehenden Weinkübel vorgesetzt hatte. Die noch übrigen Tischgäste können wir hier außer Betracht lassen.

Da schwirrte es nun durcheinander, von den Vorzügen des Südens gegenüber dem Norden, den unbestreitbaren Verdiensten der Stadt Perpignan, von der Stellung, die eines seiner – hier handgreiflichen – Kinder einnehme, von Clovis Dardentor in höchsteigner Person, von der Beachtung, die ihm sein ehrlich erworbnes Vermögen zulenkte, den Reisen, die er schon gemacht oder noch geplant hatte, von seiner Absicht, Oran zu besuchen, das die Désirandelle's vor ihm stets im Munde führten, von seiner Absicht, die schöne algerische Provinz zu bereisen... kurz, er war nun abgefahren und kümmerte sich gar nicht darum, wann er heimkehren würde.

Man würde stark irren in dem Glauben, daß dieses Gedräng von Sätzen, das von den Lippen Clovis Dardentor's floß, es verhindert hätte, daß der Inhalt seines Tellers nach seinem Munde gelangte. Nein, das ging alles gleichmäßig bequem hinein und heraus. Der merkwürdige Mann sprach und aß zu derselben Zeit und vergaß auch nicht, sein Glas zu leeren, um diese doppelte Operation zu erleichtern.[51]

»Das ist aber eine menschliche Maschine, sagte sich Jean Taconnat, die fungiert ausgezeichnet! Dieser Dardentor ist eins der vollendetsten Muster von Südländern, dem ich je begegnet bin!«

Der Doctor Bruno bewunderte ihn nicht minder. Genanntes Muster hätte gewiß ein herrliches Sectionsobject abgegeben, und wie würde die Physiologie sich durch Ergründung der Geheimnisse eines solchen Organismus bereichert haben! Da jener es sich jetzt aber doch verbeten haben würde, ihm den Leib aufzuschlitzen, begnügte sich der Doctor Herrn Dardentor zu fragen, ob er denn mit seiner Gesundheit stets gut hausgehalten habe.

»Mit der Gesundheit, lieber Doctor?... Ja, was verstehen Sie denn unter diesem Worte?

– Nun, dasselbe, was die ganze Welt darunter versteht, erwiderte der Doctor, nach der allgemein angenommenen Definition, den dauernden und leichten Verlauf aller Functionen der Körperökonomie...

– Und indem wir uns dieser Definition anschließen, ließ Jean Taconnat sich vernehmen, möchten wir wissen, ob bei Ihnen, Herr Dardentor, diese Functionen so leicht...

– Und so ungestört verlaufen, setzte Marcel Lornans hinzu.

– Ganz ungestört, denn ich bin niemals krank gewesen, erklärte unser Perpignaneser, indem er kräftig auf seinen Brustkasten loshämmerte, und leicht, weil sie von statten gehen, ohne daß ich etwas davon bemerke.

– Nun, mein lieber Herr, fragte der Kapitän Bugarach, sind Sie jetzt darüber, was man unter dem Worte Gesundheit versteht, soweit aufgeklärt, daß es uns gestattet ist, auf die Ihrige zu trinken?

– Wenn das dazu nöthig ist, so gesteh' ich ein, darüber völlig aufgeklärt zu sein, und wirklich scheint es mir nun an der Zeit, in Erwartung des Desserts eingen »Weißköpfen den Hals zu brechen«!«

Im Süden ist dieser Ausdruck für »Champagnertrinken« allgemein gebräuchlich, und von Clovis Dardentor ausgesprochen, erhielt er gewiß die richtige südländische Klangfarbe.

Der Röderer wurde also aufgetischt, die Kelchgläser füllten sich, mit weißer Schaumkrone bedeckt, und die Unterhaltung ertrank darin keineswegs... im Gegentheil!

Der Doctor Bruno war es, der das Feuer mit folgenden Worten wieder eröffnete:[52]

»Nun, Herr Dardentor, möchte ich Sie um Beantwortung einer zweiten Frage bitten: Haben Sie sich zur Bewahrung dieses ungetrübten Gesundheitszustandes von jedem Exceß ferngehalten?

– Was verstehen Sie unter dem Worte Exceß?

– Alle Kuckuck! fiel Marcel Lornans lachend ein, das Wort Exceß ist in den Ostpyrenäen also ebenso unbekannt, wie das Wort Gesundheit?

– Unbekannt... nein, Herr Lornans, doch offen gestanden, weiß ich nicht recht, was es bedeuten soll.

– Herr Dardentor, nahm Doctor Bruno wieder das Wort, einen Exceß begehen, das bedeutet, seinen Leib wie seinen Geist unbedacht mißbrauchen, indem man unmäßig, ungestüm, achtlos dahinlebt und sich vorzüglich den Tafelfreuden zu viel hingiebt... einer bedauerlichen Leidenschaft, die den Magen über kurz oder lang ruiniert...

– Was haben sie wieder... den Magen?... fragte Clovis Dardentor im ernsthaftesten Tone.

– Sie wissen nicht, was das ist? rief Doctor Bruno. Sapperment, ein Organ, das dazu dient, die Gastratgien, Gastriten, Gastrocellen, Gastroenteriten, die Endogastriten und die Exogastriten zu fabricieren!«

Während er so diesen Rosenkranz von Ausdrücken abbetete, die alle das (griechische) Wort »Gaster« zum Stamme haben, schien er ganz glücklich zu sein, daß der Magen zu so vielen Specialkrankheiten Veranlassung gebe.

Kurz, Clovis Dardentor blieb bei der Behauptung, daß ihm alles, was eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes bedeutete, ganz unbekannt sei, und da er sich weigerte zuzugestehen, daß jene Worte überhaupt eine Bedeutung hätten, richtete Jean Taconnat, dem die Sache viel Spaß machte, an den Starrkopf noch die Frage:

»Sie hätten also niemals eine flotte Zecherei1 mitgemacht?

– Nein... weil ich mich niemals verheiratet2 habe!«

Die Trompetenstimme dieses Originals ging dabei in ein so lautes Lachen über, daß die Gläser auf dem Tische erklangen, als würden sie von einer Schlingerbewegung des Schiffes gerüttelt.

Es schien also unmöglich zu erfahren, ob dieser unfaßbare Dardentor das Prototyp der Nüchternheit gewesen sei oder nicht, ob er die unerschütterte[53] Gesundheit, deren er sich erfreute, seiner gewohnten Mäßigkeit oder einer eisernen Constitution, die kein Mißbrauch zu zerstören vermochte, zu verdanken habe.

»Aha, mein Herr Dardentor, bekannte der Kapitän Bugarach, ich sehe, daß die Natur Sie aufgebaut hat, um einen unsrer zukünftigen Hundertjährigen zu schaffen!

– Und warum denn nicht, Herr Kapitän?

– Ja, warum das nicht? wiederholte Marcel Lornans.

– Wenn eine Maschine solid construiert, gut ausbalanciert ist, reichlich geölt und nach Gebühr in Stand gehalten wird, fuhr Clovis Dardentor fort, begreif' ich nicht, warum sie nicht für immer aushalten sollte.

– Gewiß, erklärte Jean Taconnat zustimmend, und wenn es Einem nie an dem nöthigen Heizmaterial fehlt...

– Daran wird mir's niemals fehlen!« rief Clovis Dardentor, indem er an seiner Hosentasche schüttelte, die einen metallnen Klang von sich gab. Und nun, meine Herren, sind Sie damit fertig, mir blauen Dunst vorzumachen?

– Nein!« erklärte der Doctor Bruno.

Er versteifte sich darauf, den Perpignaneser an die Wand zu drücken.

»Weit gefehlt, lieber Herr, weit gefehlt! Es giebt keine Maschine, die sich nicht abnützte, und keinen so guten Mechanismus, daß er nicht zuletzt einmal entzwei ginge...

– Das hängt vom Maschinisten ab! entgegnete Clovis Dardentor, der sein Glas wieder bis zum Rande füllte.

– Am letzten Ende, fuhr der Doctor fort, mein' ich, Sie werden doch einmal sterben.

– Warum soll ich denn sterben, da ich doch niemals einen Arzt consultiert habe?... Ihr Wohlsein, meine Herrn!«

Und in der allgemeinen Heiterkeit stieß er, sein Glas erhebend, lustig mit den Tischgenossen an und leerte es auf einen Zug. Die laute, erhitzte, betäubende Unterhaltung zog sich so bis zum Nachtisch hin, dessen Vielgestaltigkeit an Stelle der frühern Zwischenspeisen trat.

Der lustige Lärm von der Tafel mochte wohl die unglücklichen Passagiere nicht wenig belästigen, die in den Cabinen neben dem Salon ausgestreckt lagen und deren Beschwerden jene übermüthige Nachbarschaft gewiß nicht zu lindern geeignet war. Wiederholt hatte sich Herr Désirandelle auf der Schwelle des Speisesalons gezeigt. Da das Essen für ihn und seine Gattin im Fahrpreise[54] inbegriffen war, kam es ihm schwer an, seinen Theil davon nicht verzehren zu können. Kaum hatte er aber die Thür geöffnet, da überfiel ihn vom Magen aus wieder der Schwindel und er eilte über Hals über Kopf nach dem Verdeck zurück.

Sein einziger Trost bestand darin, daß er sich sagte:

»Na, zum Glück ist unser Agathokles dabei, für drei Mann zu essen!«

Der junge Mann that wirklich sein möglichstes, die Ausgaben des Vaters wenigstens einseitig wieder hereinzubringen.

Nach Clovis Dardentor's letzter Antwort schweifte das Gespräch nun nach andern Gebieten ab. Sollte man denn die Achillesferse des Bonvivants, des guten Essers und tüchtigen Trinkers nicht treffen können? Daß seine Gesundheit ausgezeichnet, seine Constitution vortrefflich, sein Organismus von erster Güte wären, das unterlag keinem Zweifel. Trotzalledem mußte er doch einmal aus dieser Welt scheiden, wie alle Sterblichen... sagen wir, wie fast alle, um ängstliche Gemüther nicht zu erregen. Und wenn nun diese Schicksalsstunde schlug, wem würde sein großes Vermögen zufallen? Wer würde Besitz nehmen von seinen Häusern, von den Mobilien des alten Küfermeisters von Perpignan, da ihm die Natur keinen directen, ja nicht einmal einen seitlichen Nachkommen, der erbberechtigt gewesen wäre, geschenkt hatte?

Auf diese Andeutung hin begann Marcel Lornans:

»Warum haben Sie nicht daran gedacht. sich Erben zu sichern?

– Ja... wie denn?

– Wie man das gewöhnlich macht, Sapperment! rief Jean Taconnat, indem Sie der Mann einer jungen, hübschen, gesunden, Ihrer würdigen Frau wurden.

– Ich?... Mich verheiraten?...

– Natürlich!

– Wahrlich, auf einen solchen Gedanken bin ich noch nie verfallen!

– Das wäre aber Ihre moralische Pflicht gewesen, Herr Dardentor, meinte der Kapitän Bugarach, and da es noch Zeit ist...

– Sind Sie denn verheiratet, lieber Kapitän?

– Nein.

– Und Sie, Doctor?

– Auch nicht!

– Aber Sie, meine Herrn?[55]

– Keineswegs, antwortete Marcel Lornans, doch in unserm Alter ist das nicht zu verwundern.

– Schön, und wenn Sie Alle nicht verheiratet sind, warum wollen Sie denn, daß ich es wäre?

– Einfach, damit Sie eine Familie hätten, belehrte ihn Jean Taconnat.

– Und mit der Familie die davon unzertrennlichen Sorgen...

– Damit Sie Kinder... später Enkelchen hätten...

– Mit allen den Belästigungen, die sie verursachen.

– Kurz, um Nachkommen zu haben, die einst Ihr Ableben betrauern....

– Oder sich darüber freuen!

– Glauben Sie denn, fuhr Marcel Lornans fort, daß der Staat sich nicht freuen werde, wenn er Sie einmal beerbt?

– Der Staat... mein Vermögen erben... das er als Verschwender doch nur bald durchbrächte?...

– Das ist keine Antwort, Herr Dardentor, sagte Marcel Lornans; der Mensch hat einmal die Bestimmung, sich eine Familie zu gründen, in seinen Kindern und Kindeskindern fortzuleben...

– Zugegeben; die kann der Mensch aber haben, ohne sich zu verehelichen.

– Wie verstehen Sie das? fragte jetzt der Doctor.

– So wie es zu verstehen ist, meine Herren, und ich für meinen Theil würde die vorziehen, die schon da sind.

– Adoptivkinder?... warf Jean Taconnat ein.

– Natürlich! Ist das nicht hundertmal besser? Ist das nicht weit klüger? Da hat man doch die Wahl! Man kann Kinder nehmen, die an Leib und Seele gesund und über das Alter hinaus sind, wo sie noch von Keuchhusten, Scharlach und Masern bedroht werden; kann solche haben, die blond oder braun, dumm oder gescheidt sind. Man kann sich, je nach dem Geschlecht, das man wünscht, Knaben oder Mädchen zulegen, kann eines, zwei, drei, vier oder ein Dutzend davon bekommen, je nachdem man Sinn für Adoptivvaterschaft hat. Kurz, man ist völlig frei, sich eine Familie von Erben unter den besten Bedingungen für körperliches und geistiges Gedeihen zuzulegen, ohne darauf warten zu müssen, daß der Himmel seine Ehe segnete. Man segnet sich einfach selbst, wann und wie es Einem beliebt.


Man athmete die reine, sanft bewegte Seeluft. (S. 62.)
Man athmete die reine, sanft bewegte Seeluft. (S. 62.)

– Bravo, Herr Dardentor, bravo! rief Jean Taconnet. Auf das Wohlergehen Ihrer Adoptivengel!«[56]

Und noch einmal erklangen die Gläser aneinander. Wieviel die Tischgenossen im Speisesalon des »Argeles« verloren hätten, wenn ihnen die letzten Phrasen der Tirade des mittheilsamen Perpignanesers entgangen wären, kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Er war in seiner Art prächtig gewesen!

»Ihre Methode, verehrter Herr, glaubte der Kapitän Bugarach jedoch hinzufügen zu müssen, mag an sich ja ganz gut sein. Wenn aber alle Welt ebenso dächte, wenn es nur noch Adoptiveltern gäbe, so vergessen Sie nicht, daß sich dann bald keine zu adoptierenden Kinder mehr finden würden.[57]

– O nein, lieber Kapitän, so schlimm ist's nicht, entgegnete Clovis Dardentor. Es wird nie an braven Leuten mangeln, die sich heiraten... Tausende... Millionen...

– Und das ist ein wahres Gluck, schloß Doctor Bruno, denn sonst würde es mit der Herrlichkeit der Welt bald zu Ende sein.«

Das Gespräch ging lebhaft noch weiter fort, ohne daß es weder Herrn Eustache Oriental störte, der jetzt am andern Ende der Tafel seinen Kaffee schlürfte, noch Agathokles Désirandelle abhielt, vollends die Dessertschüsseln zu plündern.

Da leitete Marcel Lornans, der sich eines gewissen Titels VIII vom Civilgesetzbuch erinnerte, die Frage auf das Gebiet des Rechts hinüber.

»Wenn jemand adoptieren will, Herr Dardentor, sagte er, so ist es unumgänglich, gewissen Bedingungen zu entsprechen.

– Das weiß ich wohl, Herr Lornans, und ich glaube, schon einige erfüllt zu haben.

– Mag sein, fuhr Marcel Lornans fort. Die erste lautet, daß Sie Franzose des einen oder andern Geschlechts sein müssen...

– Und ich speciell gehöre mit Ihrer Erlaubniß zum männlichen Geschlecht, meine Herrn!

– Ja, ja, das wollen wir Ihnen aufs Wort glauben, versicherte Jean Taconnat, und das setzt uns auch nicht in besondres Erstaunen.

– Des weitern verlangt das Gesetz, fuhr Marcel Lornans fort, von der Person, die adoptieren will, daß sie selbst weder Kinder noch legitime Descendenten habe...

– Ganz mein Fall, Herr Rechtsanwalt, und ich füge noch hinzu, daß mir auch Ascendenten abgehen...

– Ascendenten sind doch nicht verboten.

– Na, ich habe aber auch solche nicht.

– Eine nothwendige Eigenschaft, Herr Dardentor, fehlt Ihnen aber dennoch...

– Welche denn?

– Das Alter von fünfzig Jahren. Man muß wenigstens fünfzig Jahre zählen, um einen andern adoptieren zu dürfen.

– Das werd' ich in fünf Jahren erreicht haben, wenn Gott mir das Leben läßt, und warum sollte er es nicht thun?...[58]

– Ja, das wäre unrecht, fiel Taconnat ein; besser könnte er ein solches Geschenk gar nicht anlegen.

– Das mein' ich auch, Herr Taconnat. Ich werde also die Vollendung meines fünfzigsten Lebensjahres abwarten und dann zu einer Adoption schreiten, wenn sich Gelegenheit, eine gute Gelegenheit, wie man im Geschäftsleben sagt, dazu bietet....

– Unter der Bedingung, docierte Marcel Lornans weiter, daß das männliche oder weibliche Individuum, das Sie dafür im Auge haben, nicht älter als fünfunddreißig Jahre ist, denn das Gesetz verlangt, daß der Adoptant mindestens fünfzehn Jahre älter ist, als der Adoptierte.

– Aber glauben Sie denn, rief Herr Dardentor, ich würde mir einen alten Knaben oder eine alte Jungfer aufhalsen wollen? – Behüte der Himmel! Ich werde weder fünfunddreißig- noch dreißigjährige, sondern Personen wählen, die eben mündig geworden sind, weil das Civilgesetzbuch das vorschreibt.

– Das ist alles recht schön, Herr Dardentor, antwortete Marcel Lornans. Ich gebe zu, daß Sie alle bisher genannten Bedingungen erfüllen, indeß – es thut mir wegen Ihrer geplanten Adoptivvaterschaft sehr leid – einer, ich möchte darauf wetten, entsprechen Sie doch nicht....

– Ich will hoffen, sie geht nicht darauf hinaus, daß ich mich keines guten Leumunds erfreute! Sollte es jemand wagen, die Ehre Clovis Dardentor's aus Perpignan, Ostpyrenäen, irgendwie anzutasten?...

– O, niemand! rief Kapitän Bugarach.

– Kein Mensch, setzte der Doctor Bruno hinzu.

– Nein... keine Seele! versicherte Jean Taconnat.

– Unbedingt niemand! erklärte Marcel Lornans noch obendrein. Von so etwas hab' ich auch gar nicht sprechen wollen.

– Und wovon denn? fragte Clovis Dardentor.

– Von einer gewissen, im Civilgesetzbuch ausdrücklich festgelegten Bedingung, die Sie bisher jedenfalls unbeachtet gelassen haben....

– Nun, und die wäre?...

– Die, die da vorschreibt, daß der Adoptant für den Adoptierten, so lange dieser noch unmündig war, ununterbrochen schon sechs Jahre lang gesorgt habe.

– Das schriebe das Gesetz vor?...

– Ganz ausdrücklich![59]

– Und wer ist das Schaf gewesen, das eine solche Bedingung in das Gesetzbuch eingeflickt hat?...

– Auf das betreffende »Schaf« kommt ja nichts an.

– Nun also, Herr Dardentor, fragte der Doctor Bruno dringlicher, haben Sie in dieser Weise für einen Unmündigen aus Ihrer Bekanntschaft Sorge getragen?

– Daß ich nicht wüßte!

– Dann, erklärte Jean Taconnat, bleibt Ihnen nichts anders übrig, als Ihr Vermögen zur Gründung einer, Ihren Namen führenden Wohlthätigkeitsanstalt zu verwenden.

– Das verlangte das Gesetz? fragte der Perpignaneser etwas kleinlauter.

– Ja, ganz unzweideutig,« versicherte Marcel Lornans.

Clovis Dardentor hatte die Enttäuschung, die ihm diese gesetzliche Forderung bereitete, gar nicht zu verhehlen gesucht. Es wäre ihm etwas so Leichtes gewesen, sechs Jahre lang für die Bedürfnisse und die Erziehung eines Minderjährigen einzutreten. Daß er sich darum nicht bekümmert hatte! Freilich, wie konnte er sich vergewissern, eine gute Wahl zu treffen, wenn er sich an junge Leute halten mußte, die für die Zukunft noch keine Garantie boten!... Kurz, er hatte mit keiner Silbe daran gedacht!... Doch war das unabweislich und führte ihn Marcel Lornans nicht etwa hinters Licht?...

»Sie versichern mir also, daß das Civilgesetzbuch...? fragte er noch einmal.

– Ich versichre es Ihnen, antwortete Marcel Lornans. Lesen Sie doch selbst nach... Titel von der Adoption, Artikel 345. Dort ist diese Bedingung als ausschlaggebend hingestellt, wenn das betreffende Individuum nicht etwa...

– Nicht etwa... was?« wiederholte Clovis Dardentor.

Sein Gesicht klärte sich etwas auf.

»Nun vorwärts... schnell! rief er. Sie quälen mich mit Ihren Hinterthüren, mit solchen »wenn nicht etwa's«...

– Nun, fuhr Marcel Lornans fort, wenn das Individuum, das adoptiert werden soll, nicht etwa das Leben des Adoptanten, sei es im Kampfe, sei es aus dem Wasser oder den Flammen, gerettet hatte, wie es im Gesetzbuche heißt.

– Ich bin aber noch nie ins Wasser gefallen und werde auch niemals hineinfallen, antwortete Clovis Dardentor.[60]

– Das kann Ihnen ebensogut wie jedem Andern widerfahren, erklärte Jean Taconnat.

– Ich hoffe, in meinem Hause bricht niemals Feuer aus!

– Ihr Haus kann ebensogut wie jedes andre abbrennen, und wenn nicht grade Ihr eignes Haus, so doch zum Beispiel ein Theater, worin Sie sich befänden, ja sogar dieser Dampfer, wenn an Bord Feuer ausbräche....

– Gut, meine Herrn, bezüglich des Feuers und des Wassers mögen Sie Recht haben; doch was einen Kampf betrifft, so würde es mich verwundern, dabei jemals Hilfe nöthig zu haben. Noch besitz' ich ein paar tüchtige Arme und Beine, die Hilfe und Unterstützung von niemand brauchen.

– Wer weiß?« antwortete Jean Taconnat.

Jedenfalls hatte Marcel Lornans im Laufe dieses Gesprächs die Vorschriften, die der Titel VIII des Civilgesetzbuchs enthält, klar dargelegt. Von einigen andern hatte er als zunächst nutzlos geschwiegen. So ließ erz. B. unerwähnt, daß in dem Falle, wo der Adoptant verheiratet ist, der andre Theil seine Zustimmung zur Adoption geben müsse – Clovis Dardentor war ja Junggeselle – ebenso. daß die Einwilligung der Eltern nachgewiesen sein müsse, wenn der zu Adoptierende noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt war.

Es erschien zur Zeit übrigens schwierig, daß Clovis Dardentor seinen Traum, sich eine Familie von Adoptivkindern zu gründen, verwirklichen könnte. Ohne Zweifel konnte er sich zwar einen älteren Knaben aussuchen, sechs Jahre lang für ihn sorgen und ihn sorgfältig erziehen lassen, um ihm schließlich seinen Namen und seine Berechtigung als legitimer Erbe zu verleihen. Doch wie vielerlei Gefahren setzte er sich dabei aus! Entschied er sich dafür aber nicht, so kamen nur die drei, vom Gesetze angeführten Fälle noch in Frage, er mußte aus einem Kampfe, aus dem Wasser oder den Flammen gerettet werden. Lag denn nun eine Wahrscheinlichkeit vor, daß dergleichen einem Mann wie Clovis Dardentor widerfahren könnte?... Er selbst glaubte es nicht, und kein Andrer hätte es geglaubt.

Die Tischgäste wechselten noch einige Worte, die reichlich mit Champagner begleitet wurden. Unser Perpignaneser war die Zielscheibe für manchen Witz, worüber er selbst am meisten lachte. Wollte er nicht, daß sein Vermögen verfiel, lehnte er es ab, den Staat zum einzigen Erben desselben zu machen, so mußte er wohl oder übel dem Rathe Taconnat's folgen und sein Hab und Gut einer milden Stiftung überweisen. Uebrigens stand es ihm ja frei, seine Hinterlassenschaft[61] noch bei Lebzeiten dem ersten Besten schenkungsweise zuzusichern. Doch nein... er bestand auf seinen Ideen!... Kurz, nach Beendigung dieses denkwürdigen Mahles begaben sich die Tafelgenossen nach dem Oberdeck.

Es war kurz vor sieben Uhr, denn das Essen hatte sich über Gebühr ausgedehnt. Ein schöner Abend, der eine schöne Nacht versprach. Das Zeltdach war eingezogen worden. Man athmete die reine, sanft bewegte Seeluft. Das von der Dämmerung umhüllte Land hob sich nur als ungewisser Schatten vom westlichen Horizonte ab.

Plaudernd lustwandelten Clovis Dardentor und seine neuen Bekannten hin und her und rauchten köstliche Cigarren dazu, womit der Perpignaneser reichlich versehen war und die er mit liebenswürdiger Freigebigkeit anbot.

Um halb zehn Uhr trennte sich die Gesellschaft mit dem Versprechen, sich morgen wieder zusammenzufinden.

Nachdem Clovis Dardentor Herrn Désirandelle noch unterstützt hatte, nach der Cabine der Frau Désirandelle zu gelangen, begab er sich nach der seinigen, wo kein Lärm und keine Bewegung auf dem Schiffe seinen Schlummer stören sollte.

Da sagte Jean Taconnat zu seinem Vetter:

»Marcel, ich habe eine Idee!

– Und die wäre?...

– Wenn wir uns nun von dem guten Manne adoptieren ließen!...

– Wir?...

– Du und ich... oder auch Du oder ich.

– Du bist toll, Jean!

– Ueber Nacht kommt Rath, Marcel, und den Rath, der mir da zu Theil geworden sein wird, den sollst Du morgen erfahren!«[62]

Fußnoten

1 Im Original ein im Deutschen nicht wieder zu gebendes Wortspiel, da »la noce« »ein lustiges Zechgelage«, doch auch »die Hochzeit« bedeutet.

Der Uebers.


2 Im Original ein im Deutschen nicht wieder zu gebendes Wortspiel, da »la noce« »ein lustiges Zechgelage«, doch auch »die Hochzeit« bedeutet.

Der Uebers.


Quelle:
Jules Verne: Clovis Dardentor. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 63.
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