Neuntes Capitel.

[116] Die Familie der Grafen von Telek, eine der ältesten und berühmtesten Rumäniens, nahm hier schon eine hervorragende Stellung ein, ehe sich das Land gegen Anfang des sechzehnten Jahrhunderts seine Unabhängigkeit erkämpft hatte. Verknüpft mit allen politischen Vorkommnissen, die die Geschichte dieser Gebiete bilden, leuchtete darin der Name der gräflichen Familie schon lange in fleckenreinem Glanze.

Heute, minder begünstigt als die vielgenannte Buche des Karpathenschlosses, der ja noch drei Zweige übrig geblieben waren, sah sich der Stammbaum der Telek's auf einen einzigen Zweig beschränkt, den der Telek's von Krajowa, dessen letzter Sproß in dem jungen Edelmanne blühte, der eben im Dorfe Werst angelangt war.[116]

Während seiner Kindheit hatte Franz den Familienstammsitz, den der Graf und die Gräfin von Telek bewohnten, niemals verlassen. Die Nachkommen des Hauses genossen das größte Ansehen und machten von ihrem Vermögen freigebigen Gebrauch. Für gewöhnlich das sorglose und glatt verlaufende Leben des Landadels führend, verließen sie ihr Besitzthum bei Krajowa nur einmal jährlich, wenn Geschäfte sie nach dem Flecken gleichen Namens riefen, obgleich dieser nur wenige Meilen von ihrem Schlosse entfernt lag.

Diese Lebensweise äußerte selbstverständlich ihren Einfluß auf die Erziehung ihres einzigen Sohnes, und Franz sollte noch lange von der Umgebung, in der seine Jugend verstrichen war, gewisse Nachwehen fühlen. Als Lehrer hatte er nur einen alten italienischen Weltgeistlichen, der ihm nur beibringen konnte, was er selbst wußte, und das war verzweifelt wenig. Als man den Knaben schon mehr einen jungen Mann nennen konnte, besaß er nur sehr dürftige Kenntnisse der Wissenschaften, Künste und der herrschenden Literatur. Leidenschaftlich zu jagen, Tag und Nacht durch Wald und Feld zu streifen, Hirsche und Sauen zu hetzen, mit dem Messer in der Hand die wilden Thiere in den Bergen anzugreifen – das bildete so den gewöhnlichen Zeitvertreib des jungen Grafen, der, muthig und entschlossen, bei diesen rauhen Uebungen wahre Heldenthaten leistete.

Die Gräfin von Telek starb, als ihr Sohn kaum fünfzehn Jahre zählte, und dieser hatte erst die Zwanzig erreicht, als sein Vater durch einen Jagdunfall ums Leben kam.

Der Schmerz darüber schnitt Franz tief in die Seele. Wie er die Mutter beweint hatte, so beweinte er den Vater. Beide waren ihm im Laufe weniger Jahre entrissen worden. Seine ganze Zärtlichkeit, Alles, was sein Herz an liebevollen Regungen besaß, hatte sich bisher in jener kindlichen Anhänglichkeit vereinigt, die ja den Ansprüchen der Kindheit und der ersten Jugend vollständig Genüge leistet. Als diese Liebe ihm aber zu fehlen begann und er, da inzwischen auch sein Lehrer gestorben war, niemals einen Freund gehabt hatte, da fühlte er sich recht vereinsamt in der Welt.

Noch drei Jahre lang blieb der junge Graf auf dem Schlosse bei Krajowa, das er nie zu verlassen gedachte. Er lebte hier, ohne Verbindungen nach außen auch nur anzustreben. Höchstens begab er sich zwingender Geschäfte halber ein- oder zweimal im Jahre nach Bukarest. Auch dann kürzte er seine Abwesenheit so gut es anging, und eilte nach dem alten Familiensitze zurück.[117]

Ein solches Leben konnte aber doch nicht immer andauern; Franz begann schließlich das Bedürfniß nach einer Erweiterung seines Horizonts zu empfinden, den die rumänischen Gebirge doch gar zu eng begrenzten, und es verlangte ihn nun, auch einmal über diese hinauszufliegen.

Der junge Graf stand ungefähr im dreiundzwanzigsten Lebensjahre, als er den Entschluß zu reisen faßte. Sein Vermögen gestattete ihm, der neuen Liebhaberei unbeschränkt zu huldigen. So überließ er eines Tages das Schloß bei Krajowa der Sorge seiner alten Diener und verließ das walachische Vaterland.

Mit sich nahm er Rotzko, einen früheren rumänischen Soldaten, der schon seit zehn Jahren im Dienste der Familie von Telek stand und ihn bisher auf allen Jagdausflügen begleitet hatte. Das war ein kühner, thatkräftiger Mann, voller Ergebenheit gegen seinen jugendlichen Herrn

Die Absicht des jungen Grafen ging dahin, Europa zu besuchen, indem er einige Monate in den Residenzen und sonstigen Hauptplätzen des Erdtheiles zu verweilen gedachte. Nicht ohne Grund erwartete er, seine durch den Unterricht im Schlosse bei Krajowa doch nur mangelhaft entwickelte Ausbildung zu vervollkommnen durch die Erfahrungen bei einer längeren Reise, deren Plan er sich sorgsam zurechtgelegt hatte.

Italien wollte Franz von Telek in erster Linie besuchen, weil er die italienische Sprache, die ihm der alte Geistliche gelehrt hatte, am geläufigsten sprach. Der Zauber dieses an Erinnerungen so überreichen Landes, zu dem er sich vor Allem hingezogen fühlte, fesselte ihn daselbst vier volle Jahre. Er verließ nur Venedig, um nach Florenz, oder Rom, um nach Neapel zu gehen, und kehrte nach diesen Hauptsitzen der Künste, von denen er sich nicht losreißen konnte, immer wieder zurück. Frankreich, Deutschland, Spanien, Rußland, England u. s. w. wollte er später sehen und hoffte, diese Länder mit um so größerem Erfolge studiren zu können, wenn die Zeit seine geistige Auffassung weiter gereist hätte. Dagegen bedarf es der frischesten Eindrucksfähigkeit der Jugend, um die Reize der italienischen Großstädte voll zu genießen.

Franz von Telek war siebenundzwanzig Jahre alt, als er zum letztenmale nach Neapel kam. Er wollte hier vor seiner Abreise nach Sicilien nur wenige Tage verweilen. Mit einer Besichtigung der alten »Trinakria« gedachte er seine erste Reiseperiode abzuschließen, um sich dann einmal auf dem Schlosse Krajowa ein Jahr der Ruhe zu gönnen.[118]

Da sollte ein unvorhergesehener Zwischenfall nicht nur seine für die nächste Zukunft vorliegenden Pläne umwerfen, sondern über sein ganzes Leben entscheiden und diesem ein anderes Ziel geben.

Wenn der junge Graf während des mehrjährigen Aufenthaltes in Italien bezüglich seiner wissenschaftlichen Ausbildung – wofür es ihm an natürlicher Anlage gebrach – wenig gewonnen hatte, so war in ihm doch das Gefühl für das Schöne ebenso erweckt worden, wie etwa in einem früher Blinden das Verständniß für den Begriff des Lichtes. Für die Wunderpracht der Kunst jetzt in höchstem Maße empfänglich, begeisterte er sich im Anblick von Meisterwerken der Malerei, wenn er die Museen von Neapel, Venedig, Florenz und Rom besuchte. Gleichzeitig hatte er durch die Theater die dramatische Literatur der Zeit kennen gelernt und sich mit Leidenschaft in der Beurtheilung der Leistungen vieler Bühnenkünstler ausgebildet.

Da ereignete es sich während seines letzten Verweilens in Neapel und unter in Folgendem zu schildernden außergewöhnlichen Umständen, daß in sein Herz ein tieferes Gefühl, eine bisher ungekannte Theilnahme nicht für die Bühne allein einzog.

Gerade zu jener Zeit trat im San Carlo-Theater eine berühmte Sängerin auf, deren silberhelle Stimme, vollendeter Vortrag und vorzügliches Spiel die Bewunderung der Dilettanten erweckten. Bisher hatte la Stilla noch niemals nach dem Beifalle des Auslandes gestrebt und sang ausschließlich italienische Musik, die bezüglich der Compositionskunst die erste Stelle einnahm. Das Theater Carignan in Turin, die Scala in Mailand, das Theater Alsieri in Florenz, das Apollotheater in Rom und San Carlo in Neapel wechselten im zeitweiligen Besitz der Sängerin ab, und bei den hier geernteten Triumphen kam dieser niemals ein Bedauern an, auf den anderen großen Bühnen Europas noch nicht geglänzt zu haben.

Die jetzt fünfundzwanzigjährige Stilla war ein Weib von berückender Schönheit mit langem goldigen Haar, schwarzen, unergründlichen Augen, aus denen Flammen hervorzuzucken schienen, mit tadellos reinen Gesichtszügen, warmem Teint und einer Gestalt, die der Meißel eines Praxiteles nicht hätte vollkommener formen können. Und diese Frau erblühte zur seltensten Künstlerin, zu einer zweiten Malibran, von der Musset ebenfalls hätte sagen können:

»Auf deiner Töne Schwingen flog der Schmerz hinauf zum Himmel!«[119]

Eine solche Stimme aber, die der allbeliebte Dichter in seinen unsterblichen Stanzen gefeiert hat:

»... des Herzens eigne Stimme, die allein zum andren Herzen dringt«, eine solche Stimme war die la Stilla's in ihrer ganzen unbeschreiblichen Herrlichkeit.

Die große Künstlerin, die mit so unnachahmlicher Treue die Töne der zärtlichsten Liebe, der mächtigsten Seelenerregungen wiedergab, hatte – wie man allgemein behauptete – im eigenen Herzen doch noch nie deren himmlische Macht verspürt. Noch nie hatte sie geliebt, nie mit dem Auge einen jener Tausende von Blicken beantwortet, die auf der Bühne unausgesetzt an ihr hingen. Es schien, als lebte sie nur in ihrer Kunst, einzig und allein für diese.

Gleich zum erstenmale, wo Franz la Stilla sah, fühlte er sich von dem unwiderstehlichen Zwange einer ersten Liebe zu ihr hingezogen. Sofort beschloß er, unter Verzichtleistung auf sein Vorhaben, nach dem Besuche Siciliens Italien endgiltig zu verlassen, jetzt bis zum Schlusse der Saison in Neapel zu bleiben. Als ob ein unsichtbares Band, das er nicht zu sprengen vermochte, ihn an die Sängerin fesselte, wohnte er allen Vorstellungen bei, worin sie auftrat und die eine maßlose Begeisterung der Zuhörer stets zu wirklichen Triumphen gestaltete. Mehrmals, wenn er seine Leidenschaft nicht zu bemeistern im Stande war, hatte er versucht, bei la Stilla Zutritt zu erlangen; deren Thür blieb jedoch für ihn, wie für andere fanatische Anbeter der Künstlerin, unerbittlich geschlossen.

Der junge Graf verfiel hierdurch erklärlicherweise bald einem recht beklagenswerthen Zustande. Da er nur noch la Stilla's gedachte, nur lebte, um sie zu sehen und zu hören, ohne daß es ihm einfiel, in der Gesellschaft sonstige Verbindungen zu suchen, zu denen ihn Name und Geburt eigentlich fast verpflichteten, wurde seine Gesundheit in Folge jener unablässigen Spannung des Herzens und des Geistes bald ernsthaft erschüttert. Was würde er erst gelitten haben, wenn er gar noch einen Rivalen gehabt hätte! Doch er wußte ja, daß ein derartiger Verdacht grundlos wäre – sogar bezüglich einer seltsamen Persönlichkeit, die wir hier etwas eingehender zeichnen müssen, weil sie in den Verlauf dieser Erzählung bedeutungsvoll eingreift.

Es war das zur Zeit der letzten Reise Franz von Telek's nach Neapel ein Mann von fünfundfünfzig Jahren – für so alt schätzte man ihn wenigstens allgemein. Diese sehr verschlossene Persönlichkeit schien die in den höheren Classen geltenden gesellschaftlichen Forderungen gänzlich zu verachten.


Der Graf befand sich hinter der Bühne. (S. 127.)
Der Graf befand sich hinter der Bühne. (S. 127.)

Niemand erfuhr etwas von seiner Familie, von seiner Stellung oder Vergangenheit. Man sah den Mann heute in Rom und morgen in Florenz, doch wohl zu merken, nur je nachdem la Stilla in Rom oder in Flo renz auftrat. Man kannte von ihm nur eine Leidenschaft: die berühmte Primadonna zu hören, die damals den allerersten Platz in der Kunst des Gesanges einnahm.

Lebte Franz von Telek für la Stilla erst seit dem Tage, wo er sie in jenem Theater Neapels gesehen hatte, so lebte jener excentrische Kunstfreund schon seit sechs Jahren nur dafür, sie zu hören, und es schien wirklich, als sei die Stimme der Sängerin für seine Existenz ebenso nothwendig geworden, wie die Luft, die er athmete. Dabei hatte er ihr niemals anderswo zu begegnen gesucht als auf der Bühne; niemals sich ihr vorgestellt oder sich schriftlich an sie gewendet. Allemal aber, wenn la Stilla in einem beliebigen Theater Italiens singen sollte, sah man in das nämliche einen hochgewachsenen Mann mit langem dunklen Ueberrock und einem das Gesicht beschattenden Hute eintreten. Dieser Mann nahm schleunigst in einer vorher für ihn bestellten vergitterten Loge Platz. Hier blieb er abgeschlossen, einsam und schweigend während der ganzen Vorstellung sitzen. Sobald aber la Stilla's letzte Töne verklungen waren, eilte er davon, ohne daß irgend ein anderer Sänger oder eine andere Sängerin ihn hätte zurückhalten können; er hätte diesen überhaupt kein Ohr geliehen.

Vergebens hatte la Stilla zu erfahren gesucht, wer dieser übereifrige Bewunderer ihrer Leistungen wohl sein möge. Bei ihrer sehr empfindsamen Natur erschrak sie schließlich über die fortwährende Anwesenheit des wunderlichen Mannes – ein Schrecken, der übrigens ebenso grundlos war, wie sie sich dessen doch nicht zu erwehren vermochte. Obwohl sie ihn in seiner Loge, deren Gitter stets hochgezogen blieb, nicht selbst sehen konnte, wußte sie, daß er sich darin befand, fühlte sie seinen auf sie gerichteten durchbohrenden Blick und wurde dadurch so erregt, daß sie nicht einmal den Jubel der Zuschauer hörte, der sie bei ihrem Erscheinen begrüßte.

Wir erwähnten bereits, daß sich dieser Sonderling la Stilla niemals vorgestellt hatte. Unterließ er aber jeden Versuch, das »Weib« kennen zu lernen – wir legen hierauf besonderes Gewicht – so blieb doch Alles, was ihn an die »Künstlerin« erinnern konnte, das Endziel seiner nie erlahmenden Aufmerksamkeit. So besaß er eines der schönsten Porträts, die der große Maler Michel Gregorio von der Künstlerin hergestellt hatte, in dem sie mit ihrer ganzen[123] Leidenschaftlichkeit, selbst erbebend und doch erhaben und völlig in ihrer Rolle aufgegangen, wiedergegeben war, und dieses mit Gold aufgewogene Bild hatte in der That den von dem Kunstenthusiasten dafür bezahlten Werth.

Blieb dieser seltsame Mann stets allein, wenn er bei den Vorstellungen la Stilla's seine Loge einnahm, und verließ er sonst niemals seine Wohnung, außer um sich nach dem Theater zu begeben, so darf man daraus doch nicht schließen, daß er vollständig als Einsiedler dahinlebte. Nein, ein Gefährte, freilich nur ein nicht minder verschrobener Mann, theilte seine Gesellschaft.

Dieses Individuum nannte sich Orfanik. Wie alt er war, woher er kam und wo er das Licht der Welt erblickt hatte – das hätte kein Mensch sagen können. Wenn man ihn hörte – denn er plauderte recht gern – hielt man den Mann wohl für einen verkannten Gelehrten, dessen Licht unter dem Scheffel brennen mochte und der die Welt mit widerwilligem Auge ansah. Man vermuthete nicht ohne Grund, er werde so ein armer Teufel von Erfinder sein, der gemächlich auf Kosten der Börse des reichen Kunstfreundes lebte.

Orfanik war von Mittelgröße, hager, sah kränklich und abgezehrt aus und hatte eines jener bleichen Gesichter, die man in der Sprache früherer Zeit als die eines »Erzknickers« bezeichnete. Als besonderes Kennzeichen trug er eine künstliche schwarze Ohrmuschel an Stelle des rechten Ohres, das er bei irgend einem physikalischen oder chemischen Experimente verloren haben mochte, und auf der Nase eine mächtige Brille, deren einziges myopisches Glas für das in grünlichem Glanze leuchtende linke Auge diente. Während seiner einsamen Spaziergänge fuchtelte er mit den Armen umher, als spräche er mit einem unsichtbaren Wesen, das ihm wohl zuhörte, doch niemals antwortete.

Diese beiden Gestalten, der sonderbare Musiknarr und der nicht minder sonderbare Orfanik, waren, wenigstens, soweit das möglich war, sehr bekannt in allen italienischen Städten, wohin sie die jeweilige Theatersaison rief. Sie besaßen eine Art Vorzugsrecht, die öffentliche Neugierde zu erregen, und obgleich der Bewunderer la Stilla's alle Berichterstatter und indiscreten Interviewer sich vom Halse zu halten verstanden hatte, so wurde dessen Name und Nationalität schließlich doch bekannt. Er stammte danach aus Rumänien, und als Franz von Telek nach seinem Namen fragte, antwortete man ihm:

»Baron Rudolph von Gortz.«

So war die Sachlage zur Zeit, wo der junge Graf eben in Neapel eingetroffen war. Seit zwei Monaten schon wurde das Theater San Carlo niemals[124] leer, und die Erfolge la Stilla's steigerten sich nach jedem Abend. Noch nie hatte sie sich in den verschiedenen Rollen ihres Repertoirs so bewunderungswürdig erwiesen, nie mehr begeisterte Huldigungen entfesselt.

Bei jeder Vorstellung, der Franz von Telek auf seinem Parquetsitze nahe dem Orchester beiwohnte, vertiefte sich der in seiner Loge verborgene Baron von Gortz in diesen herrlichen Gesang und saugte die ergreifende Stimme förmlich in sich auf, ohne die er nicht bestehen zu können schien.

Da lief ein unerwartetes Gerücht durch ganz Neapel – ein Gerücht, dem anfangs Niemand Glauben schenken wollte, das schließlich aber die ganze kunstfreundliche Welt schwer beunruhigte.

Man erzählte sich, daß la Stilla nach Ablauf der Saison der Bühne entsagen werde. Wie? Im Vollbesitz ihres Talentes, in der Fülle kaum ausgereifter Schönheit, auf dem Gipfel des Künstlerruhmes – war es da möglich, daß sie schon an ein Zurückweichen nur denken konnte?

So unwahrscheinlich das erschien, war es doch begründet, und ohne daß er etwas davon ahnte, verschuldete diesen Entschluß zum Theil wenigstens der unselige Baron von Gortz.

Dieser Zuhörer mit seinem geheimnißvollen Verhalten, der, wenn auch in der vergitterten Loge unsichtbar, doch stets anwesend war, hatte in la Stilla endlich eine fortdauernde nervöse Ueberreizung erzeugt, der sich die Sängerin nicht mehr zu wehren vermochte. Von ihrem ersten Erscheinen auf der Scene fühlte sie sich von diesem, übrigens auch für die Zuschauer wahrnehmbaren Seelenleiden tief bedrückt, und das hatte allmählich ihre Gesundheit untergraben.

Ein Fortgehen von Neapel, eine Flucht nach Rom, Venedig oder einer anderen Stadt der Halbinsel hätte, das wußte sie, auch nicht genügt, den Baron von Gortz aus ihrer Nähe zu scheuchen. Sie wäre ihm auch sicherlich nicht entgangen, wenn sie sich von Italien aus etwa nach Deutschland, Rußland oder Frankreich begeben hätte. Er folgte ihr doch überall hin, wo ihre Stimme erklang, und so sah sie eine Befreiung von diesem lästigen Verfolger nur in dem gänzlichen Aufgeben ihrer Bühnenthätigkeit.

Schon zwei Monate, ehe sich das Gerücht von ihrem Rücktritte verbreitete, hatte Franz von Telek sich der Sängerin gegenüber zu einem Schritte entschlossen, dessen weitere Folgen unglücklicherweise die verderblichste Katastrophe herbeiführen sollten. Von Person völlig frei und Herr eines sehr beträchtlichen[125] Vermögens, hatte er einmal Zutritt bei ihr erlangt und ihr da angeboten, Gräfin von Telek zu werden.

La Stilla kannte übrigens schon seit einiger Zeit die Empfindungen, die sie dem jungen Grafen einflößte. Sie hatte sich auch gestanden, daß dieser ein Mann sei, dem jedes Weib – selbst aus den höchsten Kreisen – ihr Lebensglück getrost anvertrauen könne. Derartigen Gedanken hing sie eben nach, als Franz von Telek ihr seinen Namen anbot, und sie nahm das mit warmem Entgegenkommen an, das sie gar nicht zu verbergen suchte. Mit vollem Vertrauen auf seine Gefühle stimmte sie zu, die Gattin des Grafen Telek zu werden, ohne die Unterbrechung der künstlerischen Laufbahn zu beklagen.

Die große Neuigkeit bestätigte sich also, la Stilla sollte nach Schluß der Spielzeit im San Carlo auf keiner Bühne mehr erscheinen. Ihre Vermählung, die man bisher nur vermuthete, wurde jetzt als gewiß hingestellt.

Natürlich brachte das eine wunderbare Wirkung nicht nur in den Künstlerkreisen, sondern überhaupt in der vornehmen Welt Italiens hervor. Hatte man zuerst an die Verwirklichung eines solchen Vorhabens nicht glauben wollen, so mußte man sich nun der Thatsache fügen. Eifersucht und Haß erwachten gegen den fremden jungen Grafen, der die größte Sängerin der damaligen Zeit ihrer Kunst, ihren Erfolgen und der Vergötterung durch alle Theaterfreunde abwendig machte. Ja es kam sogar zu persönlichen Drohungen gegen Franz von Telek, um die sich der junge Mann indeß nicht im geringsten kümmerte.

Wenn eine solche Aufregung in weiteren Kreisen herrschte, kann man sich wohl vorstellen, was Rudolph von Gortz bei dem Gedanken empfinden mußte, daß la Stilla ihm entrissen werden, daß er damit Alles verlieren sollte, was ihn an das Leben fesselte. Man raunte sich schon zu, daß er mit Selbstmordgedanken umgehe. Gewiß war nur das Eine, daß man Orfanik nicht länger in den Straßen Neapels umherwandern sah. Er wich nicht mehr von Baron Rudolphs Seite, erschien dagegen sogar mehrmals mit in der Loge des San Carlo, die der Baron für jede Opernvorstellung belegt hatte – und das war dem Manne niemals begegnet, da dieser, wie so viele andere Gelehrte, für den Reiz der Musik jedes Verständnisses entbehrte.

Inzwischen verstrich ein Tag nach dem anderen, die Erregung beruhigte sich aber nicht, ja sie erreichte ihren Höhepunkt an dem Abend, wo la Stilla zum letzten Male auftreten sollte. In der prächtigen Rolle der Angelica, im »Orlando«, dem schönsten Werke des Maestro Arconati, gedachte sie den Zuhörern das letzte Lebewohl zu sagen.[126]

An dem betreffenden Abende erwies sich das San Carlo-Theater um das Zehnfache zu klein für alle die Schaaren, die sich vor seinen Pforten drängten und deren größter Theil unverrichteter Sache umkehren mußte. Man befürchtete Kundgebungen gegen den Grafen von Telek, wenn auch nicht während des Gesanges der Gefeierten, so doch, wenn nach dem fünften Acte der Oper der Vorhang herabsinken würde.

Der Baron von Gortz hatte in seiner Loge Platz genommen, und auch diesmal befand sich Orfanik an seiner Seite.

La Stilla erschien, aber aufgeregter als je. Sie wußte sich jedoch zu fassen, überließ sich ganz ihrer Eingebung und sang... sang mit solcher Vollendung, mit so unvergleichlicher Begabung, daß es jeder Schilderung spottet. Die unbeschreibliche Begeisterung, die sich der Zuhörer bemächtigte, steigerte sich fast bis zum Wahnwitz.

Während der Vorstellung befand sich der junge Graf hinter der Bühne; dort wartete er ungeduldig, nervös, fast fieberhaft erregt, verwünschte, seiner selbst nicht mehr Herr, die Länge der einzelnen Auftritte und ereiferte sich über die Verzögerungen durch den nie endenwollenden Beifall und die Hervorrufe aus allen Rängen des Hauses. O wie drängte es ihn, die Eine, die nun Gräfin von Telek werden sollte, dem Theater zu entreißen, sie weit, weit hinweg zu führen, so weit, daß sie ihm... nur ihm allein angehörte.

Endlich kam der tief ergreifende Auftritt, in dem die Heldin des »Orlando« stirbt. Niemals vorher erschien die prächtige Musik Arconati's packender, niemals verlieh ihr la Stilla einen so leidenschaftlichen Ausdruck. Ihre ganze Seele schien auf den Lippen der Künstlerin zu schweben... Und doch... es machte den Eindruck als ob diese, dann und wann kurz absetzende Stimme brechen wollte, diese Stimme, die nun für immer verstummen sollte.

In diesem Augenblick sank das Gitter vor der Loge des Barons von Gortz herunter. Ein merkwürdiger Kopf mit langem halbgrauen Haar und flammenden Augen wurde sichtbar, das Gesicht zeigte eine erschreckende Blässe, und Franz von Telek, dem das noch nie begegnet war, sah die Erscheinung von seinem Standpunkte hinter den Coulissen in vollem Lichte.


Ein merkwürdiger Kopf mit langem grauem Haar. (S. 127.)
Ein merkwürdiger Kopf mit langem grauem Haar. (S. 127.)

La Stilla ließ sich von dem begeisternden Feuer der unvergleichlichen Schlußarie mit hinreißen... Sie sang gerade mit überirdischem Ausdrucke die Worte:


Innamorata, mio cuore tremante,

Voglio morire...


Beide durchstreiften dann die Pässe. (S. 132.)
Beide durchstreiften dann die Pässe. (S. 132.)

[127] Plötzlich schweigt sie still. Das Gesicht des Barons von Gortz macht sie erstarren... Ein furchtbares Entsetzen lähmt sie... Sie führt die Hand nach dem Munde, der sich mit Blut röthet... sie strauchelt... sinkt zusammen...

Die Zuhörerschaft springt in die Höhe... bebend... verwirrt... sinnlos vor Angst...

Aus der Loge des Barons von Gortz dringt ein schriller Aufschrei hervor.

Franz stürmt auf die Scene, er nimmt la Stilla in die Arme... hebt sie auf... starrt sie an... ruft sie mit Namen...[128]

»Todt!... Todt!... schreit er, todt!«

La Stilla weilt nicht mehr unter den Lebenden... In ihrer Brust ist eine Ader gesprungen... Ihr Gesang verstummte mit ihrem letzten Seufzer!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der junge Graf wurde nach seinem Hôtel in einem Zustande geschafft, der für seinen Verstand fürchten ließ. Er war außer Stande, dem Begräbnisse la Stilla's beizuwohnen, das unter einem nie dagewesenen Zulauf aus allen Volksschichten Neapels stattfand.[129]

Auf dem Campo Santo Nuovo, wo die Sängerin beerdigt wurde, liest man auf einfachem weißen Marmorblocke nur den Namen


La Stilla.


Am Abende des Begräbnißtages erschien ein Mann auf dem Campo Santo Nuovo. Mit irrem Blick, herabgesunkenem Haupte und so fest geschlossenen Lippen, als hätte der Tod sie schon versiegelt, starrt er lange Zeit auf die Stelle, unter der la Stilla für immer schlummerte. Er scheint zu lauschen, als ob die Stimme der Künstlerin noch einmal aus dem Grabe herauftönen solle...

Rudolph von Gortz war der schweigsame Besucher.

Noch in derselben Nacht verließ der Baron von Gortz in Begleitung Orfanik's Neapel, und seit dieser Zeit hätte Niemand sagen können, was aus ihm geworden war.

Am folgenden Morgen aber erhielt der junge Graf einen an ihn gerichteten Brief eingehändigt.

Dieser Brief enthielt nur in kurzer drohender Fassung die Worte:

»Du bist es, der sie getödtet hat! Und Wehe über Dich, Graf von Telek!«


Rudolph von Gortz.«

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 116-121,123-130.
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