Zwanzigstes Capitel.
Ein Ausruf Franzens. – Welche Küste mag das sein? – Die Insassen der Schaluppe. – Das Land im Nebel verschwunden. – Drohende Witterung. – Das Land wieder sichtbar. – Windstöße aus Süden. – An der Küste.

[294] »Land! Land!« erscholl es plötzlich. Franz war es, der diesen Ruf wie eine Verheißung der Rettung ausstieß. Auf dem kleinen Deck am Bug stehend, hatte er durch eine Lichtung in den Nebelmassen die Umrisse einer Küste unbestimmt zu erkennen geglaubt. Sofort ergriff er ein Stagseil, kletterte zur Mastspitze empor und starrte, auf der Gaffel sitzend, von hier aus in der Richtung wie vorher hinaus.

Zehn Minuten mochten verstrichen sein, ehe er im Norden wiederum Spuren eines Landes wahrnehmen konnte, und darauf glitt er am Mast herunter.

»Du hast eine Küste gesehen? fragte ihn Fritz.

– Ja... dort draußen... unter dem Rande jener dicken Wolke, die über dem Horizonte schwebt.

– Sie haben sich doch nicht getäuscht, Franz? sagte John Block.

– Nein, Obersteuermann, gewiß nicht! Die Wolke hat sich jetzt auf den Horizont herabgesenkt, hinter ihr liegt aber das Land. Ich hab' es gesehen, ich bleibe dabei, es genau erkannt zu haben!«[294]

Jenny hatte sich eben erhoben und ergriff den Arm ihres Gatten.

»Wir dürfen getrost glauben, was Franz sagt, erklärte sie. Er hat ein sehr scharfes Gesicht und wird sich nicht getäuscht haben.

– Nein, ich habe mich nicht getäuscht, versicherte Franz nochmals. Glaubt mir, wie mir Jenny glaubt! Ganz deutlich habe ich dort eine Anhöhe unterscheiden können, sie war in einem Wolkenspalt wohl eine Minute lang sichtbar, doch ob sie sich nach Osten und nach Westen hier weiter fortsetzte, war nicht zu erkennen. Doch gleichviel: Insel oder Continent... da draußen liegt das Land!«

Die so bestimmten Behauptungen Franzens ließen keinen Zweifel an ihrer Richtigkeit zu. Da man ja so gern glaubt, was man sehnlich wünscht, klammerten sich auch jetzt alle hoffnungsvoll an die Rettung verkündende Botschaft. und die Unglücklichen vereinigten sich gern mit Franz in dem Gebete, das dieser zum Allmächtigen schickte.

Welchem Lande jene Küste angehörte, das würde ja vielleicht klar werden, wenn die Schaluppe sie erst erreicht hatte. Jedenfalls wollten ihre Insassen, fünf Männer – Fritz, Franz, James, der Kapitän Gould und der Obersteuermann John Block – und drei Frauen – Jenny, Doll und Suzan nebst ihrem Kinde – an dem Ufer, mochte es sein. welches es wollte, zu landen versuchen. Bot es keinerlei Hilfsquellen, war es unbewohnbar oder durch wilde Eingeborene gefährdet, so sollte die Schaluppe, nachdem sie, so gut es anging, frisch mit Wasserproviant versehen war, wieder abfahren.

Harry Gould wurde sofort von allem unterrichtet, und trotz seiner Schwäche und seiner schmerzhaften Leiden verlangte er doch, nach dem Hintertheile des Fahrzeuges geschafft zu werden.

In Bezug auf das in Sicht gekommene Land äußerte Fritz sich noch folgendermaßen:

»In erster Linie interessiert uns augenblicklich offenbar dessen Entfernung. Bei der geringen Höhe, von der aus es gesehen wird, und unter Berücksichtigung der dunstigen Luft glaub' ich, daß sie kaum mehr als fünf bis zehn Lieues betragen wird.«

Der Kapitän Gould stimmte dieser Schätzung zu, der Obersteuermann schüttelte dagegen den Kopf.

»Mit einer guten Brise aus Süden, fuhr Fritz fort, müßten wir es also binnen zwei Stunden erreichen können.[295]

– Leider ist der Wind, sagte Franz, nicht recht stetig und scheint eher nach Norden umlaufen zu wollen. Wenn er sich nicht gänzlich legt, fürchte ich, er werde uns mehr hinderlich als nützlich sein.

– Da giebt es ja noch Ruder, antwortete Fritz. Können wir denn nicht nach diesen greifen, lieber Bruder, während der Obersteuermann seines gewohnten Amtes waltet?... Ein paar Stunden tüchtig ausgegriffen zu haben, wird uns auch noch nicht die letzten Kräfte rauben!

– An die Ruder also!« commandirte Harry Gould, doch mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte.

Es war unangenehm, daß der Kapitän seines geschwächten Zustandes wegen nicht steuern konnte, denn zu Vieren arbeitend, wären die Passagiere weit schneller ans Ziel gekommen.

Fritz, Franz und James, obwohl im Alter voller Jugendkraft, ebenso der noch sehr rüstige Obersteuermann, waren, wenn auch an anstrengende Thätigkeit gewöhnt, jetzt durch Entbehrung und und Mühsal doch stark erschöpft. Schon waren acht Tage verflossen, seit man sie von der »Flag« ausgesetzt hatte. Von ihrem mit äußerster Sparsamkeit verbrauchten Proviant war nur ein Rest, etwa der Bedarf für vierundzwanzig Stunden übrig. Drei- oder viermal war es mittels nachgeschleppter, langer Angelschnüre gelungen, einige Fische zu fangen. Ein kleiner Ofen, ein Kasserol und ein Kochtopf – das waren die sämmtlichen Geräthschaften, die sie nebst ihren Messern besaßen. Und wenn jenes Land nur eine felsige Insel war, wenn die Schaluppe noch viele Tage lang wieder hinausfahren mußte, um ein Festland oder eine bewohnbare Insel zu suchen, was sollte dann aus den unglücklichen Verlassenen werden?

Als Franz den Ruf »Land! Land!« ausstieß, war jedoch bei allen die Hoffnung neu erwacht. Man muß nur derartige Prüfungen durchgekostet haben, um zu begreifen, an welches Nichts sich menschliche Geschöpfe klammern können! Der Schiffbrüchige hält sich ja krampfhaft an dem kleinsten Stück einer treibenden Planke! Statt des von Windstößen bedrohten, von den Wellen umhergeworfenen und von übergenommenem Wasser halb angefüllten Bootes sollte ihr Fuß ja wieder festen Boden betreten. Sie dachten hier in einer Höhle Zuflucht gegen schlechte Witterung zu suchen, sie fanden vielleicht fruchtbares Erdreich, erquickendes Grün, eßbare Wurzeln und mancherlei Früchte, von denen es in der Tropenzone ja so unendlich viele giebt. Dort konnten sie, ohne Hunger und Durst zu erleiden, das Erscheinen eines Schiffes abwarten. Dieses Schiff würde ihre Signale[296] wahrnehmen... wurde den Verlassenen zu Hilfe kommen... alles das sahen sie bereits im Spiegel ihrer tröstlichen Hoffnung.

Gehörte die unbestimmt gesehene Küste wohl zu einer Gruppe der jenseit des Wendekreises des Steinbockes gelegenen Inseln? Das war eine Frage, worüber Fritz und der Obersteuermann mit gedämpfter Stimme eben verhandelten.


 »Können wir denn nicht nach diesen greifen?...« (S. 296.)
»Können wir denn nicht nach diesen greifen?...« (S. 296.)

Jenny und Doll hatten ihre alten Plätze wieder eingenommen, und der kleine Knabe schlummerte in den Armen der Frau Wolston. Den vom Fieber geschüttelten Kapitän hatte man wieder unter das kleine Verdeck schaffen müssen, wo Jenny[297] seine Kopfumschläge fleißig mit frischem Wasser anfeuchtete. Fritz verlor sich inzwischen in einem wenig beruhigenden Gedankengange. Er bezweifelte nicht, daß die »Flag« nach der an Bord ausgebrochenen Meuterei binnen acht Tagen eine weite Strecke nach Osten hin zurückgelegt haben werde. Traf das zu, so wäre die Schaluppe auf dem Theile des Großen Oceans ausgesetzt worden, wo auf den Karten nur vereinzelte Inseln, wie Amsterdam und St. Paul, oder, weiter im Süden, die Gruppe der Kerguelen verzeichnet waren. Schließlich erschien aber ja auch auf diesen zum Theil öden, zum Theil bewohnten Inseln ihr Los gesichert, ihre Rettung gewiß und vielleicht winkte ihnen dort früher oder später die Heimkehr nach dem ersehnten zweiten Vaterlande.

War die Schaluppe dagegen seit dem 27. September durch die südlichen Winde mehr nach Norden getrieben worden, so konnte jener Küstenstrich auch dem australischen Festlande, im glücklichen Falle vielleicht Tasmanien oder den Provinzen Victoria oder Südaustralien angehören. Trafen sie auf Hobart-Town, Melbourne oder Adelaide, so war ihre Rettung gesichert. Landete das Fahrzeug aber am südwestlichen Theile des fünften Continentes, etwa in der König Georgs-Bai oder am Cap Leuwin, wo nur wilde Volksstämme hausen, so war ihre Lage eher noch verschlimmert. Hier auf freiem Meere war freilich auch kaum Aussicht, einem nach Australien oder nach den Inseln des Großen Oceans bestimmten Schiffe zu begegnen.

»Auf jeden Fall, liebe Jenny, sagte Fritz zu seiner Gattin, die neben ihm Platz genommen hatte, sind wir von der Neuen Schweiz weit, gewiß mehrere hundert Lieues weit, entfernt.

– Das mag sein, antwortete Jenny, es ist aber schon etwas werth, daß wir Land vor uns haben. Was Deine Angehörigen auf Eurer Insel gethan haben, was mir auf dem Rauchenden Felsen gelungen ist, warum sollte uns das hier unmöglich sein? Nachdem wir so schwere Prüfungen erlitten, mein Lieber, haben wir das Recht, auf unsere Thatkraft, unsere Entschlossenheit zu vertrauen. Nein, nein, zwei Söhne Jean Zermatt's können nimmer an sich selbst verzweifeln.

– Wahrlich, mein herziges Weib, sollte mich je eine Schwäche anwandeln, so braucht' ich nur Deinen Worten zu lauschen. Gewiß, wir werden nicht ermatten, zumal da wir noch recht wirksame Hilfe haben. Auf den Obersteuermann ist in jeder Lage zu zählen; unser armer Kapitän freilich...

– Mit ihm wird's auch noch besser gehen, er wird schon wieder genesen, lieber Fritz, versicherte Jenny. Das Fieber, das ihn jetzt verzehrt, muß doch[298] einmal nachlassen. Dort drüben auf dem Lande können wir ihn auch besser pflegen, dort wird er wieder zu Kräften kommen, wird wieder unser Haupt und Führer sein!

– Ach, meine Jenny, rief Fritz, der die muthige junge Frau an sein Herz drückte, gebe nur der Himmel. daß jenes Land uns wenigstens die nothdürftigsten Hilfsmittel biete! Ich verlange ja gar nicht so viel. wie uns in der Neuen Schweiz geboten wurde. Das Land hier liegt nicht in einer Erdengegend, wo man von der Natur, ohne eigene Anstrengung, fast alles erwarten könnte. Das schlimmste wär' es für uns, mit Wilden zusammenzutreffen, gegen die wir ohnmächtig wären, und daß die Schaluppe, ohne mit neuem Proviant versorgt zu sein, wieder weitersegeln müßte. Lieber an einer menschenleeren Küste landen, und wär' es die der kleinsten Insel! Da gäb' es im Wasser doch Fische, am Strande jedenfalls eßbare Muscheln und vielleicht auch Schaaren von Vögeln, wie wir solche am Uferlande von Felsenheim antrafen. Dann könnten wir uns mit frischen Vorräthen versehen und nach ein oder zwei Wochen, wenn wir uns von den jetzigen Mühsalen erholt hätten und der Kapitän wieder zu Kräften gekommen wäre. zur Aufsuchung einer gastlicheren Küste weiterfahren. Diese Schaluppe ist ja fest gebaut und wir haben einen erfahrenen Seemann zu ihrer Führung. Die schlechte Jahreszeit naht heran. Nachdem wir schon manchen harten Windstoß ausgehalten haben, werden wir auch über weitere solche hinwegkommen. Möge uns das Land da draußen, welches es auch sein mag, nur Nahrungsmittel bieten, mit Gottes Hilfe hoff' ich dann...

– Lieber Fritz, antwortete Jenny, die Hand ihres Gatten in den ihrigen drückend, alles das müssen wir unseren Leidensgefährten vorstellen; es wird ihnen gewiß frischen Muth einflößen.

– An Muth hat es ihnen ja keinen Augenblick gefehlt, mein herziges Weibchen, sagte Fritz, und wenn sie ihn verlieren sollten, wirst Du, die entschlossenste, die thatkräftigste, die junge Engländerin vom Rauchenden Felsen es sein, die in ihnen neue Hoffnung erweckt!«

Was Fritz hier aussprach, das dachten auch alle Uebrigen von der tapferen Jenny. Als die Frauen in ihrer Cabine eingeschlossen waren, hatte sie allein durch ihren ermuthigenden Zuspruch Doll und Suzan vor drohender Verzweiflung bewahrt.

Das hier nahe liegende Land hatte auch noch einen anderen Vorzug; es lag nicht. wie die Neue Schweiz, in einer Weltgegend, die von Handelsschiffen[299] kaum jemals berührt wurde. Im Gegentheil mußte es voraussichtlich, ob es nun die Südküste Australiens oder Tasmaniens, oder auch nur eine zu den pacifischen Archipelen gehörige Insel war, doch wohl auf den Seekarten eingetragen sein.

Doch zugegeben, daß der Kapitän Gould und seine Schicksalsgenossen die Hoffnung hegten, hier einmal von einem Schiffe aufgenommen zu werden, mußte sie der Gedanke an die weite Entfernung bis zur Neuen Schweiz immerhin recht traurig stimmen... jedenfalls betrug die Entfernung ja hunderte von Lieues, die die »Flag« auf achttägiger Fahrt nach Osten zurückgelegt hatte. Und wenn das Unglück sie verurtheilte, hier ebensolange zu leben, wie die Familie Zermatt auf ihrer Insel, wenn die Schaluppe sich für eine längere Seefahrt unzureichend erwies, wenn ihr Vertrauen, trotz der schon überstandenen Prüfungen doch dahinschwinden sollte, wie verzweifelt mußten erst die sein, die in weiter Enfernung auf sie warteten!

Dieser Gedanke beschäftigte unablässig Fritz und Jenny, Franz, James und dessen Frau und Schwester, ja sie vergaßen sogar den Ernst der sie bedrohenden Gefahren, um nur an ihre Eltern und Freunde zu denken.

Jetzt war schon der 13. October. Vor fast einem Jahre war die »Licorne« von der Insel abgesegelt, an der sie um diese Zeit hatte wieder landen sollen. In Felsenheim zählten die beiden Zermatts, Ernst und Jack, Herr und Frau Wolston und deren Tochter sehnsüchtig die Tage... die Stunden...

Alle wollten bei dem Eintreffen der Corvette gegenwärtig sein, wenn diese, das Cap der Getäuschten Hoffnung umsegelnd, sich mit Kanonenschüssen meldete, auf die die Batterie der Haifischinsel antworten sollte. Was würden sie aber nach einem, nach zwei Monaten sagen! Zunächst wahrscheinlich, daß widrige Winde die »Licorne« zurückhielten, daß sie nicht zur vorausbestimmten Zeit von England habe abfahren können, vielleicht daß ein Seekrieg ihre Fahrt störte... nie würden sie aber annehmen, daß das Fahrzeug etwa mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sein könnte.

Nach einigen Wochen, und nach ihrer Ausbesserung in Capetown erschien die »Licorne« jedenfalls in den Gewässern der Neuen Schweiz. Die Familien Zermatt und Wolston erfuhren dann, daß die Abwesenden sich auf der »Flag« eingeschifft hatten, die an ihrem Bestimmungsort nicht eingetroffen war. Wäre es dann möglich zu bezweifeln, daß dieses Fahrzeug bei einem der so häufigen Stürme im Indischen Ocean untergegangen wäre?...[300]

Das betraf indeß die Zukunft; die Gegenwart aber drohte noch mit so vielerlei ernsten Zwischenfällen, daß man sich mehr mit diesen beschäftigte.

Seitdem Franz Land in Sicht gemeldet hatte, war Block bemüht gewesen, nach Norden zu steuern, obwohl das ohne Compaß seine Schwierigkeiten hatte. Die von Franz angegebene Lage des Landes beruhte ja nur auf einer Schätzung. Wenn die Dunstmassen sich auflösten oder der Horizont sich wenigstens auf seiner nördlichen Seite aufhellte, mußte es leichter werden, auf die Küste zuzuhalten. Leider verbarg aber der dichte Nebelschleier noch immer die Uferlinie, die für Beobachter auf der Meeresoberfläche vier bis fünf Lieues entfernt liegen mochte.

Inzwischen waren die Riemen jedoch ausgelegt worden und Fritz, Franz und James ruderten aus Leibeskräften. Bei ihrer Erschöpfung konnten sie die schwer belastete Schaluppe jedoch nicht gerade schnell vorwärts treiben, und es nahm deshalb den ganzen Tag in Anspruch, die Strecke, die sie von der Küste trennte, zu überwinden.

Wenn sie nur nicht obendrein noch von widrigen Winden betroffen wurden! Da wäre es doch besser, daß die jetzige vollkommene Ruhe der Luft bis zum Abend anhielte. Eine nördliche Brise hätte ja das kleine Fahrzeug wieder weit vom Lande weg verschlagen.

Zu Mittag betrug die seit dem Morgen zurückgelegte Strecke kaum eine Lieue; der Obersteuermann glaubte daraus schließen zu dürfen, daß daran eine Gegenströmung schuld sein werde, wenn es sich nicht einfach um eine Wirkung der Ebbe handelte. Bestand hier wirklich eine dauernde Gegenströmung, so mußten sie wohl davon absehen, gegen diese anzukämpfen.

Gegen zwei Uhr Nachmittag rief da John Block, der einmal aufgestanden war:

»Es springt wieder eine Brise auf... ich fühle es! Da wird uns das Klüversegel allein bald mehr nützen, als unsere Ruder!«

Der erfahrene Seemann täuschte sich nicht. Nach wenigen Minuten begann die Meeresfläche von Südosten her sich leicht zu kräuseln und kleine Wellen klatschten an die Längswand der Schaluppe.

»Da... da... die Bestätigung Ihrer Prophezeiung, Block! sagte Fritz. Die Brise ist nur leider so schwach, daß wir trotzdem noch werden rudern müssen.

– Ja freilich, Herr Zermatt, antwortete der Obersteuermann, immer noch tüchtig auslegen, bis wir mit dem Segel allein nach der Küste kommen können.[301]

– Wo aber ist sie denn? fragte Franz, dessen Augen vergeblich die dichte Dunstwand zu durchschauen suchten.

– Dort vor uns... ohne jeden Zweifel!

– Ist das wirklich so gewiß, Block? fragte Franz auf einmal.

– Ja, wo in aller Welt soll sie denn sonst sein, als hinter der verwünschten Nebelbank im Norden?

– Das wünschen wir freilich, sagte James Wolston, doch wünschen allein genügt leider nicht!«

Klarheit konnte hierüber freilich nur erlangt werden, wenn der Wind mehr auffrischte.

Das verzögerte sich noch eine Zeitlang und es wurde drei Uhr, ehe die halb aufgegeiten Segel erkennen ließen, daß sie benützt werden konnten.

Jetzt wurden die Riemen eingezogen. Fritz und Franz machten das Focksegel klar und hißten es dann mit aller Kraft, während der Obersteuermann die Schote hielt.

Noch wußte freilich niemand, ob die Brise stetig genug bleiben werde, den Nebel wirklich zu zerstreuen.

Zwanzig Minuten verstrichen in dieser Ungewißheit, dann nahmen die Wellen ein wenig zu und schlugen an die Seite der Schaluppe, so daß der Obersteuermann diese mit dem Wrickruder in eine günstigere Lage bringen mußte. Nun schwellten auch Fock- und Klüversegel an, daß sich ihre Schoten spannten.

Vorläufig und bis der Wind den Horizont reingefegt hatte, wurde der Curs nach Norden beibehalten.

Der Ausblick mußte sich ja klären, wenn die Brise bis zum Horizonte fortgeschritten war. Voller Erwartung blickten alle nach dieser Seite hinaus. Zeigte sich das Land nur einen Augenblick, so genügte das John Block vollkommen, sicher darauf zuzusteuern.

Der Dunstvorhang theilte sich jedoch nicht, obgleich der Wind beim weiteren Sinken der Sonne an Stärke zu gewinnen schien. Das Fahrzeug glitt jetzt ziemlich schnell dahin. Fritz und der Obersteuermann legten sich schon die Frage vor, ob sie nicht über die Insel – wenn es eine solche war – hinausgefahren wären, oder ob sie nicht im Osten oder Westen ein Festland umschifft hätten, wenn es sich hier um ein Festland handelte.

Nun tauchten auch wieder allerlei Zweifel auf. Vielleicht hatte sich Fritz doch getäuscht, und es war gar kein Land, was er im Norden gesehen hatte.[302]

Dagegen verwahrte er sich freilich mit aller Bestimmtheit. Habe er es auch nur allein sehen können, so habe er es doch gesehen... mit den eigenen Augen gesehen...

»Es war ein hohes Vorland, erklärte er von neuem, eine Art Steilufer mit fast ebenem Kamme, das ich unmöglich mit einer Wolke verwechseln konnte.

– In der Zeit, wo wir nun darauf zuhalten, warf Fritz ein, müßten wir das Land aber erreicht haben; es sollte ja kaum mehr als fünf bis sechs Lieues von uns entfernt liegen.

– Sind Sie Ihrer Sache sicher, John Block, ließ sich Franz vernehmen, daß die Schaluppe immer darauf zu, immer genau nach Norden hin segelte?

– Ja... es ist immerhin möglich. daß wir einen falschen Weg eingeschlagen haben, erklärte der alte Seemann. Ich halte es überhaupt für richtiger, abzuwarten, bis der Horizont klar geworden ist, müßten wir auch die ganze Nacht über hier liegen bleiben.«

Das war vielleicht das klügste. Befand sich die Schaluppe schon in der Nähe einer Küste, so durfte man sich mit ihr jetzt nicht zwischen die Klippen wagen, die jene höchst wahrscheinlich umrahmten. Gespannt lauschend, bemühten sich auch alle, etwas von dem Donner einer Brandung zu hören, denn das schlimmste wäre es doch gewesen, von einer solchen ans Ufer geschleudert zu werden.

Nichts... man vernahm nichts von dem langen, dumpfen Grollen der Wellen, wenn sie sich an einem Felsgewirr brechen oder schäumend über einen sanft abfallenden Strand auslaufen.

Hier galt es aber immerhin, mit Klugheit vorzugehen. Der Obersteuermann ließ deshalb gegen fünf Uhr die Focksegel einziehen, während das Klüversegel gehißt blieb, um die Wirkung des Steuers zu erhöhen.

Gewiß war es das beste, die Fahrgeschwindigkeit der Schaluppe zu vermindern, bis ihre Lage mit Sicherheit erkannt war, und das konnte nur eintreten, wenn das Land deutlich sichtbar geworden war.

Nach Einbruch der Nacht mußte das Fahrzeug ja ernsthaft Gefahr laufen, wenn es sich einer unbekannten Küste zu weit näherte. Bei mangelndem Winde hätte es ja auch eine Strömung darauf zutreiben können. Unter solchen Umständen würde ein Schiff nicht bis zum Abend gezögert haben, sich auf freiem Wasser in Sicherheit zu bringen. Was einem größerem Fahrzeuge leicht ausführbar erscheint, ist es freilich nicht für ein einfaches Boot. Gegen den auffrischenden[303] Südwind anzukreuzen, damit hätte man sich, abgesehen von der dadurch bedingten schweren Arbeit, der Gefahr ausgesetzt, zu weit von der jetzigen Stelle abzukommen.

Die Schaluppe trieb also unter ihrem Klüversegel kaum merkbar nach Norden weiter.

Jeder Irrthum, jeder Zweifel wurde jedoch glücklich beseitigt, als sich die Sonne gegen sechs Uhr Abends vor dem Untertauchen ins Meer noch für kurze Zeit zeigte.

Am 21. September ging ihre Scheibe genau im Westpunkte unter, und am 13. October, dreiundzwanzig Tage nach der Tagundnachtgleiche, versank sie auf der südlichen Halbkugel etwas weiter nach Süden zu. In diesem Augenblicke, wo die Dünste vor der Schaluppe sich etwas zerstreut hatten, konnte Fritz sehen, wie sie sich dem Horizonte näherte. Zehn Minuten später berührte die glühende Scheibe schon die Linie zwischen Himmel und Wasser.

»Dort... dort ist Norden!« rief Fritz, wobei er mit der Hand noch einem Punkte wies, der von der bisher eingehaltenen Richtung der Schaluppe etwas links lag.

Fast gleichzeitig antwortete ihm ein Jubelruf, den alle miteinander ausstießen:

»Land! Land!«

Die Dunstwand war allmählich verschwunden und das Ufer zeigte sich in einer Entfernung von kaum einer halben Lieue. Von einem hohen Steilufer überragt, ließ es sich aber nicht erkennen, ob es sich weit nach Osten oder Westen hin ausdehnte.


Alle wollten bei dem Eintreffen der Corvette gegenwärtig sein. (S. 300.)
Alle wollten bei dem Eintreffen der Corvette gegenwärtig sein. (S. 300.)

Der Obersteuermann hielt gerade darauf zu. Das wieder gehißte Focksegel blähte sich noch einmal unter dem letzten Wehen der Brise auf.

Eine halbe Stunde später hatte die Schaluppe einen sandigen Strand angelaufen und wurde hinter einer vorspringenden Felsenspitze gegen die Brandung geschützt festgelegt.[304]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 294-305,307.
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