[95] Am folgenden Tage, dem 19. Juli, legte der »Kaukasus« am Landungsplatze in Perm an, der letzten Station, die er an der Kama berührte.
Das Gouvernement, dessen Hauptstadt Perm bildet, ist eines der umfänglichsten in ganz Rußland und greift über das Uralgebirge hinweg bis nach Sibirien hinüber. Marmorbrüche, Salinen, Platin- und Goldlager, sowie Steinkohlengruben werden dort in großem Maßstabe ausgebeutet. Perm mag allen Umständen nach dereinst eine Stadt ersten Ranges werden; vorläufig aber ist es wenig anziehend, schmutzig und bietet keinerlei Hilfsquellen. Für Diejenigen, welche von Rußland nach Sibirien gehen, fällt jener Mangel in Comfort nicht allzu sehr in's Gewicht, denn Diese sind gewöhnlich mit allem Nöthigen hinlänglich versehen; den Ankömmlingen aus Centralasien dagegen würde es nach ihrer langen und beschwerlichen Reise gewiß recht angenehm sein, die erste europäische Stadt des Reiches an der asiatischen[95] Grenze reichlicher mit den verschiedensten Gegenständen des Bedarfs versorgt zu sehen.
In Perm pflegen die Reisenden ihre bei der langen Fahrt durch die Steppen meist mehr oder weniger beschädigten Wagen zu veräußern; andererseits kauft hier, wer von Europa nach Asien gehen will, im Sommer Wagen, im Winter Schlitten, bevor er sich für mehrere Monate in die verlassenen Steppenwüsten wagt.
Michael Strogoff hatte schon sein umfassendes Reiseprogramm entworfen und durfte dasselbe nur erfüllen.
Gewöhnlich besteht zwar ein Postverkehr, der die Uralkette ziemlich schnell überschreitet; unter dem Druck der augenblicklichen Verhältnisse hatte man diesen aber einstellen müssen. Auch ohnedem hätte Michael Strogoff, dem es auf die größte Eile ankam, auf dieses Beförderungsmittel verzichtet, und würde er es, um von Niemanden abhängig zu sein, vorgezogen haben, selbst einen Wagen zu kaufen und auf jeder Station die Pferde zu wechseln, wobei er durch splendide »na vodku« (Trinkgelder) den Eifer der Postillone anzuspornen hoffen durfte.
Zum Unglück hatten in Folge der gegen die Fremden asiatischer Herkunft beliebten Maßnahmen schon sehr viele Reisende Perm verlassen, in Folge dessen Transportmittel sehr selten geworden waren. Michael Strogoff kam also in die Lage, sich mit dem von Anderen Verschmähten zu begnügen. Bezüglich der Spannkraft konnte der Courier des Czaren außerhalb Sibiriens wohl seinen Podaroshna in's Treffen führen, auf welchen hin ihn die Postmeister ohne Widerspruch und vor allen Uebrigen befriedigen würden. Einmal außer dem europäischen Reiche aber sah er sich gleich jedem Anderen auf die Hilfe der blinkenden Silberrubel beschränkt.
An welche Art Wagen sollten aber die Pferde gespannt werden, an einen Tarantaß oder einen Teleg?
Der Teleg ist ein vollkommen offenes, vierräderiges Wägelchen und durchweg aus Holz construirt. Räder, Achsen, Schlußnägel, Sitze und Deichsel, alles stammt von den Bäumen der Nachbarschaft her, wobei die Verbindung der einzelnen Theile eines solchen Teleg nur durch haltbare Stricke hergestellt ist. Es giebt nichts Primitiveres, Nichts, was so sehr alles Comforts entbehrt, aber auch Nichts, was unterwegs im Fall einer Beschädigung leichter wieder in Stand zu setzen wäre. An Tannen fehlt es längs der russischen[96] Grenze nicht, und die Schlußnägel wachsen in den Wäldern. Mittels solcher Telegs, denen alle Wege gut sind, werden die unter dem Namen »Perekladnoï« bekannten Extraposten befördert. Manchmal reißen zwar die Seile, welche das Ganze zusammenhalten, und während der Hintertheil irgend wo ruhig stecken bleibt, kommt nur der Vordertheil des Fuhrwerks bei dem nächsten Relais auf zwei Rädern an; aber man ist auch mit dieser Errungenschaft schon zufrieden.[97]
Michael Strogoff hätte sich ebenfalls zu einem solchen Teleg bequemen müssen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch einen Tarantaß aufzutreiben.
Es glaube aber Niemand, daß ein derartiges Gefährt auf der obersten Staffel der Wagenbaukunst stehe. Federn z.B. gehen ihm ebenso ab, wie dem Teleg; wegen Mangels an Eisen ist auch bei ihm das Holz nicht gespart; aber seine am Ende jeder Achse acht bis neun Fuß von einander entfernten Räder sichern ihm wenigstens auf den holperigen und oft sehr unebenen Straßen ein gewisses Gleichgewicht. Ein Schirm schützt die Insassen vor dem aufspritzenden Kothe des Weges, eine starke Lederdecke, welche herabgezogen das Gefährt fast hermetisch verschließt, vor dem Sonnenbrande und den nicht seltenen Windstößen im Sommer. Im Uebrigen ist der Tarantaß ebenso solid gebaut und leicht reparirbar, wie der Teleg, und andererseits weniger dem Unfall ausgesetzt, einen Theil im Schlamme stecken zu lassen.
Michael Strogoff gelang es nur mit großer Mühe, einen solchen Tarantaß aufzufinden; vielleicht gab's in der ganzen Stadt Perm jetzt keinen zweiten mehr. Trotzdem feilschte er der Form wegen bei dessen Einkaufe nicht wenig, um seiner Rolle als einfacher Kaufmann Nikolaus Korpanoff auch hier treu zu bleiben.
Nadia folgte ihrem Reisegefährten bei seinen Nachsuchungen nach einem Fuhrwerke. Trotz ihres verschiedenen Zweckes hatten doch Beide dieselbe Eile, an das Ziel zu gelangen, und demnach baldigst abzureisen. Man könnte sagen, daß sie ein und derselbe Wille drängte.
»Schwester, begann Michael Strogoff, ich hätte für Dich gerne eine bequemere Fahrgelegenheit gesucht.
– Du sagst das zu mir, Bruder, zu mir, die ich im Nothfalle auch zu Fuß aufgebrochen wäre, um meinen Vater zu finden.
– An Deinem Muthe, Nadia, zweifele ich nicht, aber es giebt physische Anstrengungen, denen ein Weib nicht gewachsen ist.
– Ich würde sie aber ertragen, welcher Art sie auch seien! entgegnete das junge Mädchen. Wenn Du eine Klage über meine Lippen kommen hörst, so verlaß mich und setze Deinen Weg allein fort!«
Eine halbe Stunde später standen, nach Vorzeigung des Podaroshna, drei Postpferde vor dem Tarantaß angeschirrt. Diese langhaarigen Thiere[98] ähnelten fast den Bären. Sie waren, wie die sibirische Race überhaupt, klein, aber feurig. Der Postillon, der Jemschik, hatte sie folgendermaßen angespannt: das eine, etwas größere, stand zwischen einer Gabeldeichsel mit einem Bogen am vorderen Ende, der mit Schellen und Glöckchen behangen war, d.i. der russische »duga«; die beiden anderen waren einfach mittels Seilen an das Fußgestell des Tarantaß gekoppelt. Von Zaum und Gebiß keine weitere Spur; als Zügel diente einfache Hanfschnur.
Weder Michael Strogoff noch die junge Liefländerin führten vieles Gepäck mit sich. Die Hauptbedingung der Schnelligkeit, mit der der Eine reisen mußte, und die mehr als bescheidenen Mittel der Anderen hatten jede Ueberlastung mit Collis von vornherein verhindert. Jetzt kam ihnen das sehr zu Statten, denn der Tarantaß hätte entweder das Gepäck oder die Reisenden nicht aufnehmen können. Er war, den Postillon ungerechnet, nur für zwei Personen eingerichtet, und Jener hielt sich auf seinem Sitze auch nur wie durch ein Wunder von Gleichgewicht aufrecht.
Dieser Jemschik wechselt übrigens bei jedem Relais. Der Führer des Tarantaß auf der ersten Strecke war ein geborener Sibirier, gleich seinen Rossen, auch nicht minder behaart wie diese, und trug die im Uebrigen langen Haare über der Stirn viereckig beschnitten, einen breitkrempigen Hut, rothen Gürtel und einen Capot mit kreuzweisen Schnüren an Knöpfen mit dem kaiserlichen Abzeichen.
Als der Jemschik mit seiner Bespannung ankam, musterte er die Reisenden des Tarantaß erst mit prüfendem Blicke. Kein Gepäck! – Aber wo zum Teufel hätte er solches unterbringen wollen? – Magere Aussichten! Er machte eine nicht mißzudeutende Bewegung.
»Ein Paar Raben, sagte er halb für sich und unbekümmert darum, ob er verstanden wurde oder nicht, Raben für sechs Kopeken die Werst.
– Nein, Adler, antwortete Michael Strogoff, der seinen Postillonsjargon recht wohl verstand, Adler, hörst Du, zu neun Kopeken die Werft, ohne das Trinkgeld!«
Ein lustiger Peitschenknall antwortete ihm. Der »Rabe« bedeutet in der Sprache der russischen Postillone den geizigen und unbemittelten Reisenden, der bei den Bauernrelais die Pferde nur mit zwei oder drei Kopeken per Werst bezahlt. Ein »Adler« dagegen ist der Reisende, der auch vor hohen Preisen nicht zurückschreckt und reichlich Trinkgelder wegwirft. Deshalb kann[99] auch der Rabe nicht Anspruch machen, ebenso schnell dahin zu fliegen, wie der König der Vögel.
Nadia und Michael Strogoff nahmen sofort ihre Plätze in dem Tarantaß ein. Einiger wenig umfänglicher Proviant, der in den Sitzkästen untergebracht wurde, gewährte ihnen die Sicherheit, auch eine Verzögerung erleiden zu können, wenn sie einmal die durch Fürsorge des Staates wohlversehenen Posthäuser nicht sogleich erreichen sollten. Die Wagendecke wurde übergezogen zum Schutz gegen die unausstehliche Hitze, und gegen Mittag verließ der Tarantaß, von drei schnaubenden Rossen gezogen, Perm, und flog in eine dichte Staubwolke gehüllt dahin.
Die Manier, wie der Jemschik seine Pferde im Gang hielt, hätte jeden Reisenden, der nicht geborener Russe oder Sibirier ist, höchlichst verwundern müssen. Das etwas größere Pferd in der Gabel hielt ungestört, wie abschüssig der Weg auch war, einen gestreckten Trab von untadelhafter Regelmäßigkeit ein. Die beiden Seitenpferde schienen eine andere Gangart als Galop gar nicht zu kennen und sprangen ganz nach Laune nebenher. Der Jemschik schlug sie niemals, sondern trieb sie nur durch den scharfen Knall seiner Peitsche an. Wie viele Schmeichelnamen verschwendete er aber, wenn sie sich als gelehrige und einsichtige Thiere erwiesen, die Namen der Heiligen gar nicht zu rechnen, welche er für sie borgte! Die Schnur, die ihm als Zügel diente, wäre gegenüber den ausgelassenen Thieren wohl ganz nutzlos gewesen, aber »na pravo« rechts, oder »na levo« links, diese, von einer rauhen Kehlstimme gesprochenen Worte thaten hier mehr Wirkung als Zügel und Zaum.
Und welche Liebesnamen gebrauchte gelegentlich der würdige Rosselenker!
»Vorwärts, meine Tauben! rief der Jemschik, vorwärts, meine artigen Schwalben! Fliegt zu, meine Turteltäubchen! Immer dran, mein Vetter zur Linken! Greif' aus, Väterchen zur Rechten!«
Wenn sie aber nachließen im Laufe, traten an diese Stelle ebenso vielseitige Verwünschungen, deren Werth die Thiere recht wohl zu kennen schienen.
»Lauf zu, Du Höllenschnecke, Du! Weh Dir, Du Blindschleiche! ich erwürge Dich bei lebendigem Leibe, Du Schildkröte! Du sollst noch in jener Welt verdammt sein!«
Was man aber auch denken möge über diese Art der Pferdeführung, welche mehr die Solidität der Kehle als die Kraft der Arme des Kutschers[100] in Anspruch nahm, jedenfalls flog der Tarantaß nur so dahin und bewältigte zwölf bis vierzehn Werst in der Stunde.
Michael Strogoff war ebenso an diese Art Wagen, wie an dessen Beförderung gewöhnt. Weder das Schütteln noch das Hüpfen des Gefährtes belästigte ihn. Er wußte, daß ein russisches Gespann weder Feldsteine, noch Gleise oder tiefe Löcher vermeidet, so wenig wie umgestürzte Baumstämme oder Gräben, die den Weg sperren. Ihm war das nicht neu. Seine Gefährtin freilich lief Gefahr, durch dieses Stoßen des Tarantaß verletzt zu werden, doch sie beklagte sich nicht.
Die erste Zeit der Fahrt verhielt sich Nadia, als sie so schnell dahin gerissen wurde, ganz stumm. Endlich, immer von dem Gedanken: Ankommen, nur ankommen! verfolgt, begann sie.
»Von Perm nach Jekaterinenburg rechnete ich 300 Werst, Bruder. Habe ich mich geirrt?
– Gewiß nicht, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und in Jekaterinenburg werden wir den Fuß des jenseitigen Uralabhanges erreicht haben.
– Wie lange wird die Fahrt durch die Berge dauern?
– Achtundvierzig Stunden, da wir Tag und Nacht reisen, – ich sage Tag und Nacht, denn ich darf keinen Augenblick verlieren und muß ohne Säumen nach Irkutsk eilen.
Ich werde Dich nicht aufhalten, Bruder, nicht eine Stunde; wir wollen Tag und Nacht fahren.
– Nun, Nadia, wenn uns der Einfall der Tartaren nicht die Wege verlegt, so können wir vor Verlauf einer Woche angekommen sein.
– Du hast diese Reise schon einmal gemacht?
– Schon mehrere Male.
– Im Winter würden wir schneller und sicherer vorwärts kommen, nicht wahr?
– Schneller gewiß, doch würdest Du von der Kälte und dem Schnee schwer gelitten haben.
– Warum? Der Winter ist ja des Russen Freund.
– Ja wohl. Nadia aber es gehört doch ein gewisses Temperament dazu diese Freundschaft auszuhalten. Wiederholt habe ich die Kälte in den Steppen Sibiriens bis unter vierzig Grad herabgehen sehen. Ich habe trotz[101] meiner Kleidung aus Rennthierfell1 mein Herz sich mit Eis überziehen, meine Glieder sich zusammen krümmen, meine Füße unter dreifacher wollener Umhüllung erfrieren sehen! Ich sah die Pferde meines Schlittens bedeckt mit einem Eispanzer und ihren Athem vor den Nüstern erstarren. Ich sah es, wie der Branntwein in meiner Kürbisflasche zu Stein wurde, so daß kein Messer ihn schneiden konnte! ... Mein Schlitten aber flog dahin wie ein Orkan! Da gab es keine Hindernisse auf der geglätteten und unübersehbaren weißen Ebene! Keine Wasserläufe, durch die man sonst eine passirbare Furth suchen mußte! Keine Seen, welche Schiffe nöthig machten! Allüberall das harte Eis, die freie, sichere Straße. Aber um den Preis welcher Leiden, Nadia! Die allein könnten sie melden, welche nicht wiederkamen und deren Leichname der wehende Schnee begrub!
– Und doch bist Du zurück gekehrt, Bruder! sagte Nadia.
– Ja, aber ich bin Sibirier, und schon als Kind, wenn ich meinem Vater bei seinen Jagdzügen folgte, gewöhnte ich mich an all diese harten Proben. Als Du, Nadia, mir aber sagtest, daß der Winter Dich nicht zurückgehalten hätte, daß Du abgereist wärest mit dem Vorsatze, gegen das fürchterliche, unwirthbare Klima Sibiriens anzukämpfen, da sah ich Dich schon im Geiste verloren im Schnee niedersinken, um niemals wieder aufzustehen!
– Wie oft bist Du im Winter durch die Steppe gekommen? fragte die junge Liefländerin.
– Dreimal, Nadia, wenn ich nach Omsk ging.
– Und was thatest Du in Omsk?
– Ich besuchte meine Mutter, welche mich erwartete.
– Und ich, ich gehe nach Irkutsk, wo mein Vater meiner harrt. Ich will ihm die letzten Worte meiner Mutter bringen! Glaubst Du nun, Bruder, daß mich Nichts hätte zurückhalten können?
– Du bist ein braves Kind, Nadia, antwortete Michael Strogoff, und Gott würde Dir geholfen haben!«
Diesen Tag über wurde der Tarantaß durch die bei jedem Relais wechselnden Jemschiks sehr schnell weiter befördert. Die Adler der Berge[102] hätten ihren Namen durch jene »Adler« der Landstraße nicht als entehrt ansehen können. Der hohe Preis für jedes Pferd, die reichlich gespendeten Trinkgelder dienten den Reisenden als ganz besonders wirksame Empfehlung. Den Postmeistern mochte es nach Veröffentlichung jener Verordnung wohl auffallen, daß ein junger Mann nebst seiner Schwester, beide offenbar Russen, dennoch frei durch Sibirien reisen konnten; indeß waren ihre Papiere in Ordnung und gaben ihnen das Recht, zu passiren. So standen denn auch die Kilometer- (Werst-)Pfähle bald im Rücken des Tarantaß.
Uebrigens waren Michael Strogoff und Nadia nicht die einzigen Reisenden auf der Straße von Perm nach Jekaterinenburg. Schon von den ersten Relais ab hatte der Courier des Czar bemerkt, daß ein Wagen ihm vorausging, ohne sich, da an Pferden kein Mangel eintrat, darüber besondere Sorge zu machen.
Im Verlaufe dieses Tages ward nur einige Male angehalten, um die nöthigen Mahlzeiten einzunehmen. Die Posthäuser boten Unterkunft und Stärkungsmittel; auch wenn man kein Relais erreicht hätte, wäre das Haus jedes russischen Bauern nicht minder gastlich geöffnet gewesen. In diesen, einander überaus ähnlichen Dörfern mit ihren weißen steinernen Capellen und grünlichen Dächern kann der Reisende wohl an jede Thür klopfen; sie wird sich gewiß öffnen. Dann erscheint der Musik lächelnden Gesichts und giebt seinem Gaste die Hand. Man bietet ihm Brod und Salz an, rückt den, »Samowar« über's Feuer und er wird sich bald ganz heimisch fühlen. Die Familie würde im Nothfalle das Haus räumen, um ihm Platz zu machen. Der ankommende Fremdling ist der Verwandte Aller; er ist der, »den Gott selber sendet«.
Bei der Ankunft gegen Abend fragte Michael Strogoff, von einem unbestimmbaren Instincte getrieben, den betreffenden Postmeister, vor wie viel Stunden der ihm vorausgehende Wagen das Relais passirt habe.
»Vor zwei Stunden, Väterchen, berichtete der Postmeister.
– Es ist eine Berline?
– Nein, ein Teleg.
– Wie viel Reisende?
– Zwei.
– Sie haben es eilig?
– Es sind Adler!
– Laßt schleunigst anspannen.«
Michael Strogoff und Nadia, entschlossen, sich keine Stunde lang aufzuhalten, fuhren die ganze Nacht hindurch.[103]
Noch hielt sich die Witterung zwar gut, doch fühlte man, daß die drückender gewordene Luft sich allmälig mit Elektricität sättigte. Kein Wölkchen unterbrach die Strahlen der Sonne, und es schien, als stiege ein warmer
Dunst aus dem Erdboden auf. Es stand zu befürchten,[104] daß in den Bergen ein dort meist sehr heftiges Unwetter ausbrechen werde. Michael Strogoff, der gewöhnt war, alle atmosphärischen Vorzeichen zu deuten, fühlte einen nahen Kampf der Elemente voraus, der ihn mit einiger Besorgniß erfüllte. Die Nacht verging ohne Zwischenfall. Trotz der Stöße des Tarantaß vermochte Nadia einige Stunden zu schlummern. Die halb zurückgeschlagene Wagendecke[105] gestattete etwas Luft zu schöpfen, nach der die Lungen in dieser erstickenden Atmosphäre begierig verlangten.
Michael Strogoff durchwachte die ganze Nacht; er mißtraute den Jemschiks, weil sie so leicht auf ihrem Sitze einschlafen. Keine Stunde wurde auf den Relais verloren, keine Stunde unterwegs.
Am folgenden Tage, dem 20. Juli, zeigten sich gegen acht Uhr Morgens die ersten Wellenlinien der Uralberge im Osten. Diese mächtige Kette, die Grenzmauer zwischen dem europäischen Rußland und Sibirien, lag jedoch noch in weiter Ferne und vor Ende des Tages durfte man sie kaum zu erreichen hoffen. Die Ueberschreitung der Berge konnte also voraussichtlich erst während der folgenden Nacht stattfinden.
Im Laufe dieses Tages blieb der Himmel durchgängig bedeckt und in Folge dessen auch die Luftwärme erträglicher, doch wurde die Witterung immer gewitterschwüler.
Mit solchen Aussichten erschien es eigentlich rathsamer, sich nicht mitten in der Nacht in die Berge zu wagen, und Michael Strogoff würde es gewiß unterlassen haben, wenn er Zeit zum Verweilen gehabt hätte; als ihn der Jemschik des letzten Relais aber auf einen fern im Gebirge verrollenden Donner aufmerksam machte, fragte er nur:
»Ein Teleg fährt uns noch immer voraus?
– Ja.
– Welchen Vorsprung mag es jetzt etwa haben?
– Ungefähr eine Stunde.
– Vorwärts! – Das dreifache Trinkgeld, wenn wir morgen Früh in Jekaterinenburg sind.«[106]
1 Dieses Kleidungsstück heißt »dakha«; es ist sehr leicht und doch für Kälte fast undurchdringlich.
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro