|
[166] Als der große Festtag vorüber war, ging man auf der Farm wieder an die gewohnte Feldarbeit. Pat merkte gewiß nichts davon, daß er einen Urlaub zur Erholung angetreten hatte. Die Seeleute sind ja immer tüchtige Arbeiter, auch wenn sie nicht draußen schwimmen. Pat war gerade zur Erntezeit eingetroffen, und nach dem Getreide war jetzt noch das Gemüse einzufahren. Findling wich fast niemals von der Seite Pats, der jenem eine aufrichtige Freundschaft entgegenbrachte... die Freundschaft des Matrosen für den Schiffsjungen. Nach beendetem Tagewerke und wenn sich alle zum Abendbrode[166] versammelt hatten, war es für Findling die größte Freude, den jungen Seemann erzählen zu hören, wenn dieser über seine Reisen, über allerlei Ereignisse, über die Stürme, die der »Guardian« bestanden, und über so manche schnelle und herrliche Fahrt berichtete. Am meisten interessierte er sich aber für die reiche, der Firma Marcuart zugeführte Fracht, für die Schätze, die der Dreimaster nach Europa heimgebracht hatte. Die Handelsangelegenheiten ließen in seinem praktischen Geiste eine darauf abgestimmte Saite erklingen. Seiner Ansicht nach stand der Rheder weit höher als der Capitän.
-Also das nennt man wohl Handelsgeschäfte treiben, Pat? fragte er.
– Ja; man holt die Erzeugnisse aus den Ländern, wo Natur oder Menschenhand sie hervorbringt, und verkauft sie da, wo das nicht der Fall ist.
– Und theurer, als man sie eingekauft hatte?...
– Natürlich... man muß doch etwas erübrigen. Dann führt man wieder die Erzeugnisse der andern Länder aus, um sie in der weiten Welt abzusetzen.
– Auch wieder theurer, Pat?
– Allemal etwas theurer, wenn das zu ermöglichen ist.«
Derartige Fragen des Knaben mußte Pat nun immer beantworten. Leider und zur großen Betrübniß aller nahte jetzt die Zeit heran, wo er in Liverpool wieder eintreffen mußte.
Am 30. September nahm er Abschied und als er sich von allen, die er liebte, trennte, wußte ja keiner, wie lange man ihn nicht wiedersehen würde. Er versprach jedoch, oft zu schreiben. Alle drückten ihn herzlich in die Arme. Der Großmutter standen die Augen voll Thränen, sie fürchtete ja bei ihrem hohen Alter, daß sie ihn vielleicht nicht mehr vor dem Spinnrade am Kamin und in der Mitte ihrer Kinder wiederfinden werde, wenn sie auch jetzt, ebenso wie die ganze Familie, gesund und wohlauf war. Für den Winter, dessen Vorboten sich bereits einstellten, war nach diesem sehr fruchtbaren Jahre auch nichts zu fürchten. Zu seinem älteren Bruder wendete sich Pat mit den Worten:
»Sei doch nicht immer so sorgenvoll und nachsinnend, Murdock! Mit Muth und gutem Willen ist alles zu überwinden....
– Gewiß, Pat, wenn man nur etwas Glück hat. Dem Glücke aber kann keiner befehlen. Sieh, Bruder, immerfort einen Boden zu bearbeiten, der nicht Dir eigen ist und es nie sein wird, und überdies sich gar so sehr vom Ausfall der Ernte abhängig zu wissen... daran werden Muth und guter Wille zuschanden!«[167]
Pat hätte nicht gewußt, was er dagegen anführen sollte, doch als er dem älteren Bruder zum letzten Male die Hand reichte, flüsterte er ihm noch zu:
»Verliere nur das Vertrauen nicht!«
Der junge Seemann wurde bis nach Tralee zu Wagen befördert, wobei sein Vater, seine Brüder und Findling ihm das Geleit gaben und letzterer sich recht traurig von jenem verabschiedete. Dann entführte ihn der Bahnzug nach Dublin, von wo aus er sich mit einem Dampfer nach Liverpool begeben wollte.
In den folgenden Wochen gab es auf der Farm noch tüchtig zu thun. Zunächst mußte die eingeheimste Ernte ausgedroschen werden und dann hatte Martin die Märkte der Nachbarschaft zu besuchen, um seine Vorräthe, unter Zurückbehaltung des Samengetreides, zu verkaufen.
Diese Verkäufe interessierten den Knaben ungemein und deshalb nahm ihn der Farmer auch dazu mit. Gierig nach Gewinn war Findling aber keineswegs, nur sein Instinct wies ihn immer und immer wieder auf den Handel hin. Im übrigen begnügte er sich mit dem Kieselstein, den ihm Martin nach Verabredung jeden Abend einhändigte, und er freute sich, seine Schätze wachsen zu sehen. Der irischen Rasse ist übrigens die Sucht nach Gewinn im allgemeinen angeboren. Die Bewohner des Grünen Erin verdienen einmal gerne Geld, wenn das in ehrlicher Weise möglich ist. Und wenn der Farmer etwa auf dem Markte in Tralee ein gutes Geschäft gemacht hatte, freute sich Findling ebenso herzlich darüber, als wenn das ihn selbst angegangen wäre.
October, November und December verliefen recht gut. Die Arbeiten waren längst beendigt, als sich der Einholer des Pachtzinses am Abende vor Weihnachten in der Farm von Kerwan einstellte. Das Geld für ihn lag bereit; doch als dieses erst gegen eine regelrechte Quittung ausgetauscht war, blieb auf der Farm fast keines mehr übrig. Um es nicht mit anzusehen, wie dieses mit saurem Schweiße gewonnene Geld aus dem Hause ging, hatte sich Murdock sofort zurückgezogen, als der Einholer nur sichtbar wurde. Immer hatte er die Unsicherheit der Zukunft vor den Augen. Zum Glück war für den Winter gesorgt und die Vorräthe gestatteten auch, die Arbeiten im Frühlinge ohne weitere Auslagen wieder aufzunehmen.
Mit dem neuen Jahr trat sehr strenge Kälte ein, die jeden ans Haus fesselte, wo es an Arbeit übrigens nicht fehlte. Mindestens war doch für die Pflege und die Ernährung der Thiere zu sorgen. Findling war vor allem[168] der Hühnerhof anvertraut, und auf ihn konnte man sich ja verlassen. Hühner und Küchlein wurden ebenso sorgsam gepflegt, wie über sie Buch geführt. Inzwischen vergaß der Knabe auch nicht, daß er ein Pathenkind hatte, und wie freute er sich allemal, Jenny in die Arme zu nehmen, sie lächeln zu machen, indem er die Kleine anlachte, und sie in der Wiege einzuschläfern, wenn ihre Mutter beschäftigt war.
Ein Pathe ist fast so viel wie ein Vater, und er betrachtete das zarte Kind als seine Tochter. Für sie entwarf er hochfliegende Pläne. Sie sollte keinen[169] andern Lehrer haben als ihn. Er wollte ihr erst reden, dann schreiben und endlich haushalten lehren.
Findling hatte von dem gelegentlichen Unterrichte Martins und seiner Söhne, vor allem Murdocks, viel profitiert. Jetzt war er weiter vorgeschritten als bis zu dem Punkte, wohin Grip ihn gebracht hatte... der arme Grip, der seine Gedanken unausgesetzt beschäftigte....
Der Frühling setzte nach recht hartem Winter nicht allzuspät ein. In Begleitung seines Freundes Birk gab sich der junge Schäfer wieder der gewohnten Beschäftigung hin.
Unter seiner Leitung zogen Schafe und Ziegen wieder auf die Weideplätze in einmeiligem Umkreis von der Farm. Immer schmerzte es ihn, sich an den andern Feldarbeiten, die freilich mehr Kräfte erforderten als er besaß, noch nicht betheiligen zu können. Zuweilen klagte er darüber gegen die Großmutter, und diese antwortete dann tröstend:
»Geduld... das wird auch noch kommen....
– Doch könnt' ich inzwischen nicht wenigstens ein Feld besäen?
– Würdest Du das so gern versuchen?
– O gewiß, Großmutter! Wenn ich Murdock oder Sim den Arm wiegend und regelmäßig fortschreitend die Samenkörner auf die Erde streuen sah, da trieb mich's immer, es ihnen nachzuthun. Es ist eine so schöne Arbeit und so interessant zu denken, daß aus diesen Körnern Halme, lange, lange Halme hervorgehen. Wie kann das nur zustandekommen?...
– Ich weiß es nicht, mein Kind; doch Gott weiß es ja, das muß uns genügen.«
Infolge dieses Gespräches sah man Findling wenige Tage darauf ein wohlvorgerichtetes Feld recht geschickt mit Hafer besäen, was ihm manchen Lobspruch Martin Mac Carthy's einbrachte.
Als dann die zarten Keime hervorsproßten, war er vom frühesten Morgen an zur Stelle, seine zukünftige Ernte gegen die diebischen Krähen zu vertheidigen, indem er diese mit Steinwürfen verjagte. Es sei auch nicht unerwähnt gelassen, daß er am Tage der Geburt Jennys mitten im Gutshofe eine kleine Tanne gepflanzt hatte, in der Hoffnung, beide, Bäumchen und Säugling, fröhlich aufwachsen zu sehen. Auch diese noch zarte Pflanze mußte er sorgsam gegen die Vögel schützen. Jedenfalls sollten Findling und die schädlichen Thiere nie gute Freunde werden.[170]
Im Sommer 1880 gab es auf den Fluren Westirlands überall recht harte Arbeit. Die Witterungsverhältnisse erwiesen sich für den Ertrag des Bodens höchst ungünstig. In den meisten Grafschaften blieb die Ernte hinter der des Vorjahrs weit zurück. Eine Hungersnoth war aber vollkommen ausgeschlossen, denn wenigstens versprachen die Kartoffelfelder einen reichen, wenn auch etwas verspäteten Ertrag, und damit mußten sich die Leute wohl zufrieden geben, denn Korn, Weizen, Gerste und Hafer erntete man kaum zur Deckung des Bedarfs im eignen Lande. Das schnellte zwar die Getreidepreise in die Höhe, die Pächter zogen davon aber keinen Vortheil, da sie nichts zu verkaufen hatten und kaum den Samen für das nächste Jahr übrig behielten. Selbst die, die früher einen Sparpfennig zurücklegen konnten, sahen diesen für die Staatsabgaben allein hinschwinden, und dann blieb wieder nichts übrig, um den schwerlastenden Pachtzins zu decken.
Die nationale Bewegung erhielt hierdurch fast überall einen neuen Anstoß, wie das stets der Fall war und ist, wenn sich eine Wolke des Unglücks über das irische Land senkte. An vielen Orten erhob man schwere Klage und lebten die Hetzereien der agrarischen Liga wieder auf. Gegen die Besitzer des Bodens wurden maßlose Drohungen laut, ob diese nun Fremde waren oder nicht, denn bekanntlich werden in Irland die englischen und schottischen Landlords als Fremdlinge betrachtet.
Im Juni dieses Jahres riefen die schon Hungernden in Westpoint: »Laßt Euch nicht von Euern Farmen vertreiben!« und die durch das Land gehende Parole lautete: »Den Grund und Boden für die Bauern!«
In den Gebieten von Donegal, Sligo und Galway kam es zu wirklichen Unruhen. Auch Kerry blieb davon nicht frei. Voller Angst sahen die Großmutter. Martine und Kitty Murdock mit Einbruch der Nacht gar zu oft die Farm verlassen, wo er dann erst, abgespannt von den Strapazen des Wegs, am frühen Morgen wieder erschien. Düstrer und verbitterter als vorher kam er von den in den Hauptorten veranstalteten Meetings zurück, wo man den hellen Aufruhr predigte, eine Erhebung gegen die Landlords und den allgemeinen Boycott empfahl, der die Besitzer zwingen würde, ihr Land brach liegen zu lassen.
Am meisten steigerte die Furcht der Familie wegen Murdocks der Umstand, daß der zu den strengsten Maßregeln entschlossene Lordlieutenant der Insel die Nationalisten durch seine Polizeiorgane aufs schärfste überwachen ließ.[171]
Stimmten Martin und Sim auch mit den Anschauungen Murdocks überein, so äußerten sie doch kein Wort, wenn dieser nach längerem Ausbleiben heimkehrte. Die Frauen dagegen flehten ihn an, vorsichtig zu sein und sich in Thaten und Worten in Acht zu nehmen. Sie versuchten ihm das Versprechen abzunöthigen, daß er sich einem Aufstand für Home rule, der doch nur Unheil bringen könne, nie anschließen werde.
Das reizte Murdock, der seinem Ingrimm nun laut Luft machte. Er sprach und gesticulierte, als ob er sich in einer Volksversammlung befände.
»Nichts als Elend, nach einem Leben voller Arbeit nichts als Elend!« wiederholte er.
Und während Martine und Kitty davor zitterten, daß er gehört werden könnte, wenn draußen gerade ein Polizist umherschlich, senkten die danebensitzenden Martin und Sim nur schweigend den Kopf auf die Brust.
Findling war tief ergriffen Zeuge dieser peinlichen Auftritte. Erschien es ihm dabei zuweilen doch, als sei er nach so vielen früheren Prüfungen auch in der Farm von Kerwan noch nicht ans Ende seiner Leiden gekommen und als sollte ihm die Zukunft noch schlimmere bringen.
Er zählte jetzt achteinhalb Jahre. Für sein Alter recht kräftig und den gewöhnlichen Kinderkrankheiten glücklich entgangen, hatten weder Trübsal und Leiden, noch schlechte Behandlung und mangelnde Pflege seinen Organismus zu erschüttern vermocht. Findling war »bis zum Maximum der Widerstandsfähigkeit geprüft worden« und zeigte eine erstaunliche physische und moralische Festigkeit. Das erkannte man an den gut entwickelten Schultern, der schon recht breiten Brust und seinen zwar schlanken, doch nervigen und muskulösen Gliedern. Sein Haar färbte sich dunkler und er trug es schlicht, statt der Locken, die ihm Miß Anna Walston hatte brennen lassen. Seine tiefblauen, glänzenden Augen verriethen eine außerordentliche Lebhaftigkeit, der leichtgeschlossene Mund und das etwas kräftige Kinn die Energie und Entschiedenheit seines Charakters. Alles das hatte die Aufmerksamkeit der Farmerfamilie wachgerufen. Diese ernsten und nachdenklichen Landleute Irlands sind meist recht gute Beobachter. Auch den Bewohnern der Farm von Kerwan hatte es nicht entgehen können, wie dieser Knabe sich durch seinen Sinn für Ordnung und durch regen Fleiß auszeichnete und daß er sich bestimmt emporarbeiten würde, wenn er nur Gelegenheit fand, seine natürlichen Anlagen zu bethätigen.[172]
Die Zeit der Heu- und Getreideernte war durch die Witterung weit weniger begünstigt, als im vorigen Jahre. Der Minderertrag an Körnerfrüchten erwies sich so bedeutend, wie man gefürchtet hatte, so daß heuer keine fremden Arbeitskräfte hinzugezogen zu werden brauchten. Dagegen war die Kartoffelernte gut und damit die Ernährung während der schlechten Jahreszeit gesichert. Woher freilich das Geld kommen sollte, um Pacht und Abgaben zu bezahlen, das wußte niemand.
Der Winter trat frühzeitig ein, schon im September gab es den ersten Frost, dem bald ergiebiger Schneefall folgte. Die Thiere mußten eher als sonst in den Ställen untergebracht werden, denn die weiße Decke war so tief und fest, daß weder Schafe noch Ziegen ein Hälmchen darunter hätten erlangen können. Das ließ einen Futtermangel für den Winter befürchten. Die Klugen, oder mindestens die, denen es an Mitteln nicht ganz fehlte – und zu diesen gehörte Martin Mac Carthy – ergänzten ihre Vorräthe durch Zukauf. Bei der Seltenheit der Waare mußten sie freilich höhere Preise anlegen, und es wäre vielleicht besser gewesen, den Bestand an Vieh zu vermindern, das bei einer langen Ueberwinterung nur schwierig zu erhalten war.
Der Frost, der den Boden bis auf einige Fuß Tiefe zum gefrieren bringt, ist ja überall sehr beschwerlich, vorzüglich aber bei leichter, kieselreicher Decke, wie in Irland, die auch die wenige Düngung, die man darauf bringt, sehr mangelhaft zurückhält. Dauert ein strenger Winter dann aber gar noch lange an, so dringt der Frost ungemein tief in die Erde und die Pflugschar ist nicht im Stande, den steinharten Humus zu lockern. Kann dann die Saat nicht zeitig genug bestellt werden, so droht das schlimmste Ungemach! Leider vermag der Mensch die klimatischen Verhältnisse nicht zu beeinflussen. Er kann nur mit gekreuzten Armen zusehen, wie seine Vorräthe sich immer weiter erschöpfen.
Gegen Ende des Novembers verschlimmerte sich die Sache noch. Auf Schneestürme folgte sehr strenge Kälte. Häufig sank die Temperatur auf neunzehn Centigrade unter Null herab.
Die von erhärtetem Schneepanzer bedeckte Farm glich mehr den im Polargebiete verstreuten grönländischen Hütten. Die dicke Schneelage hielt wenigstens die Kaminwärme im Innern etwas zurück; wenn man sich aber hinausbegab in die zum Glück jetzt stille Atmosphäre, deren Molecüle zu Eiskörnchen geworden zu sein schienen, da mußte man einigermaßen vorsichtig sein. Zu dieser Zeit mußten Martin Mac Carthy und Murdock, um den in wenigen[173] Wochen fälligen Pachtzins zu beschaffen, nun doch einen Theil ihres Viehbestandes, darunter eine Anzahl Schafe, veräußern. Sie durften auch gar nicht zögern, um das Geld noch von den Händlern in Tralee zu erhalten.
Es war jetzt der 15. December. Da der Wagen nur sehr beschwerlich hätte fortkommen können, beschlossen der Pächter und sein Sohn, den Weg nach der Stadt zu Fuß zurückzulegen. Vierundzwanzig englische Meilen (zu 1609 Meter) bei zwanzig Grad Kälte zu überwinden, das war natürlich keine so leichte Aufgabe. Voraussichtlich würden sie zwei oder drei Tage abwesend sein.
Nicht ohne Unruhe sah man sie mit dem Frührothe die Farm verlassen. Obwohl die Luft noch trocken war, drohten doch schwere, im Westen lagernde Dünste mit einem baldigen Witterungsumschlag.
Martin und Murdock waren am 15. aufgebrochen, vor dem 17. konnte man sie nicht zurückerwarten.
Bis zum Abend änderte sich das Wetter nicht merkbar, höchstens sank der Thermometer noch um weitere zwei Grad. Des Nachmittags erhob sich etwas Wind, und das gab einen neuen Grund zu Befürchtungen, denn im Thale des Cashen wüthen die Stürme gar heftig, wenn sie sich vom Meere aus darin fangen.
In der Nacht vom 16. zum 17. brach wirklich ein schwerer Sturm mit heftigem Schneegestöber aus. Zehn Schritte von der Farm hätte man diese in ihrem weißen Mantel gar nicht mehr erkannt. Furchtbar krachten die Eisschollen, die sich auf dem Flusse stießen. Jedenfalls waren Martin und Murdock zu dieser Stunde aus Tralee schon wieder aufgebrochen, sicherlich aber waren sie auch am 18. von da noch nicht heimgekehrt.
In der Nacht heulte und tobte es draußen ohne Unterlaß, zur großen Beunruhigung aller Zurückgebliebenen. Sie konnten ja fürchten, daß die Wanderer sich im tollen Schneetreiben verirrt hätten. Vielleicht waren sie gar nur wenige Meilen von der Farm erschöpft zusammengebrochen und liefen Gefahr, vor Hunger und Kälte umzukommen....
Am nächsten Tage klärte sich der Himmel ein wenig auf und der Sturm flaute ab. Infolge einer Drehung des Windes nach Norden verhärtete sich der Schnee fast augenblicklich. Sim erklärte sich bereit, dem Vater und dem Bruder in Begleitung Birks entgegenzugehen, und die übrigen stimmten ihm zu unter der Bedingung, daß auch Martine und Kitty sich ihm anschließen dürften.[174]
Zu seinem Leidwesen mußte also Findling bei der Großmutter und dem Baby zu Hause bleiben.
Die andern sollten den Erwarteten auch nur bis auf zwei, höchstens drei Meilen entgegengehen, dann aber nach Hause zurückkehren, selbst wenn es Sim für angezeigt hielt, noch eine Strecke weiter vorzudringen.
Eine Viertelstunde später waren die Großmutter und Findling schon allein. Jenny schlief in einem Zimmer neben der großen Stube, dem Murdocks und Kittys. Ein Korb, der nach irischer Art an zwei an der Decke befestigten Stricken hing, diente dem Kind als Wiege.
Der Lehnstuhl der Großmutter stand vor dem Kamine, in dem Findling mit Torf und Holz ein tüchtiges Feuer unterhielt. Von Zeit zu Zeit sah er nach, ob sein »Töchterchen« nicht erwacht wäre, da ihn jede Bewegung der Kleinen beunruhigte, immer bereit, ihr etwas Milch zu reichen oder sie auch wieder in Schlaf zu wiegen.
Voller Unruhe lauschte die Großmutter auf jedes Geräusch von draußen, auf das Knistern des Schnees, der sich verhärtend auf dem Strohdach zusammenzog, und auf die seufzerähnlichen Laute aus den Brettern, die da und dort durch die Kälte sprangen.
»Du hörst nichts, Findling? fragte sie.
– Nein, Großmutter!«
Und nachdem er die Scheiben stellenweise von den glitzernden Eisblumen befreit hatte, suchte der Knabe einen Blick nach dem weiß überdeckten Hofe zu werfen.
Gegen halb ein Uhr stieß das kleine Mädchen einen leichten Schrei aus. Findling eilte zu ihr hin. Da sie aber die Augen nicht geöffnet hatte, begnügte er sich damit, sie aufs neue einzuwiegen.
Schon wollte er die bejahrte Frau, die er nicht gern allein ließ, wieder aufsuchen, als draußen ein merkwürdiges Geräusch entstand. Es klang wie ein Scharren und Kratzen, das von dem an das Zimmer Murdocks grenzenden Stalle herzukommen schien. Da die Zwischenwand aber aus Mauerwerk bestand, schenkte er diesem Geräusch keine weitere Aufmerksamkeit. Jedenfalls rührte es von einigen Ratten her, die draußen unter den Strohschütten umherliefen. Da auch das Fenster des Raumes geschlossen war, schien ja nichts zu fürchten zu sein.
Findling ließ die Thür zwischen beiden Räumen offen stehen und ging zur Großmutter zurück.[175]
»Nun, wie steht's mit Jenny? fragte diese.
– Sie ist wieder eingeschlummert.
– So bleib' also bei mir, mein Kind.
– Ja, Großmutter!«
Vor dem wärmenden Kamin sitzend, sprachen nun beide von Martin und Murdock und von den andern, die diesen entgegengegangen waren.
Wenn diese nur nicht Unglück gehabt hatten, was ja bei so heftigem Schneegestöber nicht gar so selten vorkommt. Doch... die kräftigen, entschlossenen Männer würden sich schon zu helfen wissen, und wenn sie heimkamen, erwartete sie ein prasselndes Feuer und ein dampfender Grok, die Glieder wieder zu erwärmen.
Schon seit zwei Stunden waren Martine und die andern fortgegangen, doch bis jetzt deutete nichts auf ihre baldige Zurückkunft.
»Meinen Sie nicht, Großmutter, begann da Findling, daß ich einmal hinaus und bis zur Landstraße hin gehen sollte, um zu sehen, ob sie kommen?
– Nein, nein, das Haus darf nicht allein bleiben, und das ist es, wenn nur ich noch darin bin.«
Beide setzten also ihr Gespräch fort, bald aber nickte – was zuweilen vorkam – die bejahrte Frau vor zunehmender Abspannung ein.
Nach seiner Gewohnheit schob ihr Findling sanft ein Kissen unter den Kopf und schlich lautlos zum Fenster, um durch eine etwas vom Eis befreite Scheibe hinauszublicken.
Alles draußen war blendend weiß, alles still wie auf einem Friedhofe.
Da die Großmutter schlummerte und Jenny im Nebenzimmer gut gebettet lag, glaubte der Knabe jetzt einmal bis zur Landstraße laufen zu können, um nach den Ausbleibenden zu sehen.
So schlüpfte er denn geräuschlos hinaus und schloß die Thür hinter sich vorsichtig wieder. Bald bis über die Knie in den Schnee versinkend, erreichte er das Thor der Farm.
Auf der gleichmäßig weißen Landstraße war niemand mehr zu erblicken und kein Laut von Westen her zu vernehmen. Wären Martine, Kitty und Sim in der Nähe gewesen, so hätte sich gelegentlich gewiß ein Gebell Birks hören lassen.
Findling ging bis zur Mitte der Landstraße hin.
Da erweckte ein erneutes Scharren seine Aufmerksamkeit, das aber nicht von der Straße, sondern vom Pachthofe her tönte und von einem halberstickten Geheul begleitet schien.
Findling lauschte, ohne sich zu rühren, doch mit stark klopfendem Herzen. Entschlossen wendete er sich dann nach den Ställen zu und schlich aus Vorsicht möglichst geräuschlos um deren Ecke.
Noch immer hörte er das Scharren von innen, hinter dem Winkel, in dem Murdocks und Kittys Zimmer mit dem einen Stalle zusammenstieß.
In der Vorahnung eines Unglücks drückte sich Findling längs der Mauer hin.
Kaum gelangte er um die Ecke, als ihm ein Aufschrei entfuhr.
Hier bemerkte er in der Wand, deren Mörtel durch die Länge der Zeit mürbe geworden sein mochte, ein ziemlich großes Loch, das nach dem Zimmer führte, worin Jenny schlief.
Wer konnte hier durchgebrochen haben?... Ein Mensch?... Ein Thier?...
Ohne Zögern stürmte Findling auf die Mauerlücke zu und versuchte hier einzudringen.
In demselben Augenblicke aber entwich ein großes Thier daraus und warf entfliehend den Knaben zur Erde.
Es war das ein Wolf... einer der starken Wölfe mit spitzer Schnauze, die in langen Wintern haufenweise in Irland umherschweifen.
Nachdem dieser die Wand durchbrochen hatte und in das Zimmer gelangt war, hatte er Jennys Wiege gepackt, deren Aufhängestricke dabei rissen, und entfloh jetzt, indem er diese auf dem Schnee mit fortschleppte.
Das kleine Mädchen weinte jämmerlich.
Sein Messer fassend, stürmte Findling, während er laut um Hilfe rief, dem gefährlichen Räuber nach. Daran, daß der Wolf sich auf ihn stürzen, daß er dabei das Leben aufs Spiel setzen könnte, dachte er mit keiner Silbe. Er sah nur das Kind, wie es von dem mächtigen Thiere entführt wurde.
Der Wolf entfloh mit großen Sprüngen, da ihn die leichte Wiege mit dem Kinde das Fortkommen nicht besonders erschwerte. Findling mußte wohl hundert Schritte weit laufen, ehe er ihn einholte.
Der Wolf hielt an, ließ die Wiege los und wendete sich gegen seinen Verfolger.
Dieser erwartete ihn festen Fußes und ausgestreckten Armes, und als das Thier ihm an den Hals springen wollte, bohrte er ihm das Messer tief in die Seite. Trotzdem biß ihn der Wolf noch so heftig in den Arm, daß er halb bewußtlos vor Schmerz im Schnee zusammenbrach.[179]
Zum Glück ließ sich, ehe ihm die Sinne völlig schwanden, ein lautes Bellen vernehmen.
Das kam von Birk, der sich jetzt auf den Wolf stürzte und diesen zur Flucht nöthigte.
Gleich darauf erschienen Martin Mac Carthy und Murdock, die in der Entfernung von über zwei Meilen mit Sim, Martine und Kitty zusammengetroffen waren.
Die kleine Jenny war gerettet und ihre Mutter trug sie in den Armen zurück nach dem Hause.
Findling, dessen Wunde Murdock vorläufig etwas geschlossen hatte, wurde nach der Farm zurückgeführt und im Zimmer der Großmutter in sein Bett gebracht.
Sobald er wieder ganz bei Sinnen war, fragte er ängstlich:
»Was ist mit Jenny geworden?
– Sie ist hier, antwortete Kitty, hier... und lebend... das danken wir Dir, Du braves Kind!
– Ach, ich möchte sie so gern umarmen....«
Und als er die Kleine unter seinem Kusse hatte lächeln sehen, da fielen ihm vor Mattigkeit die Augen zu.
Buchempfehlung
Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro