Sechzehntes Capitel.
Die Austreibung.

[195] So gestaltete sich die Lage der Familie Mac Carthy zu Anfang des Jahres 1882. Findling hatte sein zehntes Lebensjahr vollendet. Ein kurzes Leben, wenn man nur die verflossene Zeit veranschlagt, ein langes, wenn man auch die Schicksale des Knaben berücksichtigt. Er zählte bis jetzt nur drei glückliche Jahre – die Jahre, die er seit seinem Eintreffen in der Farm von Kerwan verbracht hatte.[195]

Jetzt stürmte das Unglück, wie er es einst getragen, auch über die herein, die er in der Welt am innigsten liebte, über diese Familie, die so ganz zur seinigen geworden war. Das Unheil sollte alle Bande, die Brüder, Mutter, Kinder verknüpften, mit roher Hand zerreißen. Alle würden gezwungen sein, von einander zu scheiden, sich zu zerstreuen, vielleicht Irland zu verlassen, da die Heimatinsel ihnen auch den bescheidensten Unterhalt nicht zu bieten vermochte. Im Laufe der letzten Jahre waren bereits dreiundeinehalbe Million Pächter von ihrem Hofe vertrieben worden, und was so viele getroffen hatte, sollte das dem Pachter von Kerwan erspart bleiben?

Gott erbarme sich des armen Landes! Der Hunger wüthet hier wie eine Volksseuche, wie ein grausamer Krieg Dieselben Geißeln, dieselben Folgen.

Noch ist der Winter von 1740–1741 in frischer Erinnerung, wo so viele der Entbehrung zum Opfer fielen, und ebenso das noch schrecklichere Jahr 1847, »das schwarze Jahr«, das die Zahl der Landesbewohner um fast fünfmalhunderttausend verminderte.

Wenn die Ernten fehlschlagen, werden hier ganze Dörfer entvölkert. Man kann durch die offen gebliebene Thür der Farmen eintreten: keine Seele ist mehr darin. Die Pächter sind ohne Gnade vertrieben. worden, der Landbau ist im Herzen getroffen. Wenn nur Weizen, Roggen, Hafer und Gerste mißriethen, so konnten die Leute zur Noth ein besseres Jahr abwarten. Hat aber ein allzu strenger und andauernder Winter die Kartoffel getödtet, dann bleibt dem Bewohner des flachen Landes nichts andres übrig, als in die Stadt zu flüchten und hier das »work-house« aufzusuchen, wenn er's nicht vorzieht, früheren Auswandrern zu folgen. In diesem Jahre mußten sich eine Menge Ackerbauer dazu entschließen. Viele waren mit sich schon einig. In Folge ähnlicher Calamitäten hat sich die Bevölkerung einzelner Grafschaften sehr beträchtlich vermindert. In früherer Zeit hat Irland wahrscheinlich gegen zwölf Millionen Seelen beherbergt, jetzt leben allein in den Vereinigten Staaten von Amerika sechs bis sieben Millionen Ansiedler irischer Abkunft

Zur Auswandrung schien ja auch die Familie Mac Carthy verurtheilt zu sein. Weder die Wühlereien der Landliga, noch die Meetings, denen Murdock beiwohnte, konnten an diesem Sachverhalt etwas ändern. Die Hilfsquellen des »poor-board« (Armenamtes) erwiesen sich gegenüber so vielen Bedürftigen als unzureichend. Die von der Vereinigung der »home-rulers« genährte Casse mußte bald geleert sein. Einer Erhebung gegen die Großgrundbesitzer, den Plünderungen,[196] die eine solche jedenfalls im Gefolge haben würde. war der Lordlieutenant entschlossen, mit Gewalt entgegenzutreten. Das erkannte man schon an dem Auftauchen zahlreicher Polizeiagenten in den verdächtigen – oder ebenso richtig: in den am schlimmsten betroffenen – Grafschaften des Landes.

Gewiß wäre für Murdock die größte Vorsicht angezeigt gewesen, er aber spottete der Gefahr. Glühend vor Wuth, bethört von Verzweiflung verlor er gänzlich die Herrschaft über sich, stieß die furchtbarsten Drohungen aus und hetzte die Bauern zum Aufstande. Durch sein Beispiel angesteckt, compromittierten sich sein Vater und sein Bruder kaum weniger. Nichts vermochte sie mehr zu zügeln.

Findling, der immer das Erscheinen eines Polizeiaufgebotes fürchtete, hielt treulich Wache in der Umgebung der Farm.

Inzwischen lebte man hier von den letzten Hilfsmitteln. Um etwas Geld zu beschaffen, waren einige Möbelstücke verkauft worden. Und jetzt sollte der Winter noch mehrere Monate andauern! Doch woher die Nahrung genommen werden sollte für die Periode bis zum Wiedereintritt der bessern Jahreszeit, das wußte niemand.

Zu dieser Unruhe wegen der Gegenwart und der Zukunft kam nun noch der Kummer, den der Zustand der Großmutter verursachte. Die arme bejahrte Frau wurde von Tag zu Tag hinfälliger. Von den schweren Schicksalsschlägen getroffen, konnte ihr Leben nicht mehr lange währen. Findling blieb meist in ihrer Nähe. Er verließ das Zimmer gar nicht mehr und wich nicht von ihrem Lager. Sie liebte es, daß er bei ihr war und daß er die jetzt zweieinhalbjährige Jenny in den Armen hielt, die sie mit ihrem kindlichen Lächeln erfreute. Zuweilen nahm sie das Kind auch selbst und herzte die Kleine. Doch dabei kam ihr auch der schmerzliche Gedanke, was später aus diesem zarten Mägdlein werden solle, und dann fragte sie Findling wohl:

»Du hast sie doch recht lieb. nicht wahr?

Ja, gewiß, Großmutter.

– Und wirst sie niemals verlassen?

– Niemals... niemals!

– Gott gebe, daß sie einst glücklicher werde, als wir es gewesen sind! Sie ist Dein Töchterchen, vergiß das nicht!... Du wirst schon ein großer junger Mann sein, wo sie noch immer nur ein kleines Mädchen ist. Ein Pathe ist dasselbe wie ein Vater. Wenn sie ihre Eltern einmal verlieren sollte...[197]

– Ach nein, Großmutter, bitte, lassen Sie solche Gedanken! Das Unglück kann ja nicht ewig fortdauern... wenn nur erst einige Monate überstanden sind... dann werden Sie auch wieder gesund, wir sehen Sie, wie früher, im bequemen Lehnstuhle, und Jenny spielt zu ihren Füßen....«

Doch während Findling so sprach, fühlte er einen Stich im Herzen und warme Thränen in den Augen, denn er wußte, daß die Großmutter krank, sehr krank war. Dennoch fand er die Kraft, sich – wenigstens in ihrer Nähe – zu bemeistern. Wenn er weinte, so that er das draußen, wo ihn keiner sehen konnte. Und dann fürchtete er immer, den bösen Harbert mit den Gerichtsdienern ankommen zu sehen, die die Familie von ihrem einzigen Obdach verjagen sollten.

In der ersten Januarwoche verschlimmerte sich der Zustand der alten Frau beträchtlich. Wiederholt bekam sie Ohnmachtsanfälle, von denen einer so lange anhielt, daß man glauben konnte, ihr Ende sei gekommen.

Am 6. war ein Arzt aus Tralee erschienen, einer der barmherzigen Samariter, die ihre Unterstützung auch den Armen nicht versagen, obwohl sie davon keinen klingenden Nutzen haben. Der Betreffende machte gerade, wie früher üblich, einen Ritt durch die verödeten Landstriche, und Findling, der ihn von einer Begegnung im Hauptorte der Grafschaft her kannte, hatte ihn um einen Besuch in der Farm gebeten. Hier constatierte der menschenfreundliche Arzt, daß die Entbehrungen, im Verein mit dem Alter und dem Herzeleid, das an der Kranken nagte, mit einer nicht mehr fernen Katastrophe drohten.

Diese Sachlage konnte er vor der Familie unmöglich verschleiern. Nicht Monate mehr, nicht einmal noch Wochen hatte die Großmutter zu leben; ihr Hingang stand voraussichtlich schon in einigen Tagen bevor. Noch bewahrte sie alle geistigen Fähigkeiten und würde sie auch bis ans Ende behalten. In dieser einfachen Bäuerin wohnte eine so energische Lebenskraft, eine solche Widerstandsfähigkeit gegen die endliche Auflösung, daß ihr leider ein recht harter Todeskampf drohte. Endlich würde die Schwäche sie übermannen, die Athmung aussetzen und das Herz aufhören zu schlagen....

Vor dem Verlassen der Farm verordnete der Arzt noch eine Tinctur, die der Großmutter wenigstens die letzten Augenblicke erleichtern sollte. Dann ging er fort und ließ die Verzweiflung zurück in dem Hause, wohin das Mitleid ihn geführt hatte.

Nach Tralee zu gehen, den Trank bereiten zu lassen und nach der Farm zu bringen, das hätte wohl binnen vierundzwanzig Stunden erledigt sein können;[198] wie aber sollte man die Arznei bezahlen?... Nachdem alles Geld mit Abführung der staatlichen Abgaben erschöpft war, lebte die Familie nur von Feldfrüchten der Farm, ohne etwas dazu zu kaufen. Im Kasten befand sich kein Schilling mehr. Von Möbeln oder Kleidungsstücken ließ sich auch nichts mehr zu Geld machen. Es war das Elend im schlimmsten Maße.

Da kam Findling eine Erinnerung. Noch besaß er die Guinee, die ihm Miß Anna Walston im Limericker Theater gegeben hatte. Ein reiner Scherz der Künstlerin, hatte er doch seine Rolle als Sib sehr ernst genommen, und ihm däuchte dies Geld in Ehren verdient. So hatte er die betreffende Guinee sorglich in seiner Casse, das heißt, in der Kruke, die seine Kieselsteine enthielt, aufgehoben. Leider konnte er zur Zeit nicht mehr darauf rechnen, daß diese sich jemals in Peace oder Schillinge verwandeln würden.

Niemand in der Farm wußte, daß Findling dieses Geldstück besaß, und da kam ihm der Gedanke, es zur Beschaffung des der Großmutter verordneten Trankes zu verwenden. Das versprach ihm Linderung ihrer Leiden, vielleicht eine Verlängerung des Lebens und – wer weiß? – ihr Zustand konnte sich wohl gar dauernd bessern. Findling wollte noch immer hoffen, wenn er im Herzen auch verzweifelte.

Entlehleden, sein Vorhaben auszuführen, beschloß er, nichts davon verlauten zu lassen. Das Geld gehörte ja ihm, er konnte darüber nach Belieben verfügen. Jedenfalls war keine Zeit zu verlieren. Um ungesehen zu bleiben, wollte er in der Nacht aufbrechen. Ein Dutzend Meilen bis Tralee hin und ebenso viele zurück, das ist für ein Kind zwar ein weiter Tagesmarsch, doch er dachte daran nicht im mindesten.

Es war ungewiß, ob seine Abwesenheit während eines Tages so besonders auffiel, da er sich die ganze Zeit, wo er nicht bei der Großmutter saß, draußen aufhielt, die Umgebungen und die Landstraße auf zwei bis drei Meilen hin überwachte und immer gespannt wartete, ob nicht der Beamte des Middleman mit den Gerichtsdienern auftauchte, um die Familie auf die Straße zu werfen, oder ein Constabler mit Gehilfen käme, um Murdock zu verhaften.

Am nächsten Tage, den 7. Januar, verließ Findling sein Zimmer um zwei Uhr früh, nachdem er noch die Großmutter, die sein Kuß nicht erweckte, umarmt hatte. Dann schlüpfte er aus dem großen Zimmer, drückte die Thür hinter sich geräuschlos zu und streichelte Birk, der ihn ansprang, als wollte er sagen: »Was? Mich nimmst Du nicht mit?« Nein, er wollte den Hund auf der Farm lassen.[199]

Während seiner Abwesenheit konnte das treue Thier jede verdächtige Annäherung vereiteln. Nach Ueberschreitung des Hofes und Oeffnung des Thores sah er sich allein auf dem Wege nach Tralee.


 »Diese Hände haben wohl nicht gearbeitet?« (S. 194.)
»Diese Hände haben wohl nicht gearbeitet?« (S. 194.)

Noch war es pechfinster. In den ersten Tagen des Januar, noch nicht drei Wochen nach der Wintersonnenwende, geht die Sonne in diesen Breiten zwischen dem 52. und 53. Grade erst sehr spät am südöstlichen Horizonte auf. Um sieben Uhr des Morgens färben sich die Bergspitzen kaum mit den schwachen Tinten des jungen Tages. Findling hatte also die Hälfte des Weges im Dunkelnzurückzulegen, doch das erschreckte ihn nicht. Die Witterung war sehr klar, die Kälte lebhaft, obwohl ein Thermometer nur etwa zwölf Grad unter Null gezeigt hätte. Am Firmament glänzten Tausende von Sternen. Die ganz weiße Landstraße zog sich über Sehweite hinaus wie vom Schneereflex erleuchtet hin und die Tritte gaben einen trocknen Widerhall.

Um zwei Uhr des Morgens aufgebrochen, hoffte Findling vor Einbruch der Nacht zurück zu sein. Seiner Berechnung nach mußte er früh um acht Uhr in Tralee eintreffen. Zwölf Meilen in sechs Stunden zu überwinden, das war keine besondre Aufgabe für einen Knaben, der, jede Anstrengung gewöhnt, ein Paar gesunde kräftige Beine besaß. In Tralee gedachte er zwei Stunden auszuruhen, inzwischen in einem Wirthshause etwas Brod mit Käse und eine Pinte Bier zu verzehren, was ihm zwei bis drei Pence kosten konnte. Dann wollte er sich, wenn er die Arznei erhalten hatte, auf den Rückweg machen, um im Laufe des Nachmittags die Farm wieder zu erreichen.

Dieses wohldurchdachte Programm sollte streng eingehalten werden, wenn nichts Unerwartetes dazwischen trat. Der Weg war gut und das Wetter einer schnellen Gangart günstig. Er war froh, daß die Kälte wenigstens eine Beruhigung der Atmosphäre herbeigeführt hatte.


Dieser »Widder« zertrümmert alles. (S. 207.)
Dieser »Widder« zertrümmert alles. (S. 207.)

Bei dem vorher so heftigen Westwinde und gegen das ihm dann entgegenpeitschende Schneegestöber hätte Findling kaum vorwärts kommen können. Heute aber begünstigten ihn die Verhältnisse, wofür er der Vorsehung aufrichtig dankte.

Immerhin war der Weg, vorzüglich wegen einer Begegnung mit Wölfen, nicht ganz ohne Gefahr. Trotz des nicht besonders strengen Winters hörte man das heulende Gebell dieser Thiere in allen Wäldern der Grafschaft. Findling hatte gar wohl daran gedacht, und heftiger schlug ihm das Herz, als er sich so allein sah im weiten Lande und auf diesem scheinbar endlosen Wege, neben dem die überreiften Skelette der Bäume emporstarrten.

Schnellen Schrittes und ohne jemals auszuruhen hatte der Knabe die ersten sechs Meilen seines Weges binnen zwei Stunden zurückgelegt.

Es war jetzt um vier Uhr morgens. Im Westen noch tiefdunkel, schimmerte im Osten doch schon ein schwacher, fahler Lichtschein herauf, vor dem die Sterne etwas verblichen. Freilich dauerte es immer noch über vier Stunden, ehe die Sonne selbst am Horizonte aufstieg.

Findling mußte jetzt einmal zehn Minuten Halt machen. Er setzte sich auf eine knorrige Baumwurzel und verzehrte eine mitgenommene geröstete Kartoffel[203] mit dem frischen Appetit der Jugend. Mit dieser zweifelhaften Stärkung wollte er bis Tralee aushalten. Um viereinviertel Uhr brach er wieder auf.

Den Weg von Kerwan nach dem Hauptorte der Grafschaft konnte er ja nicht verfehlen, da er diesen oft genug im Wagen zurückgelegt hatte, wenn ihn Martin Mac Carthy an Markttagen mitnahm. Das war damals freilich die gute Zeit, die Zeit beglückender Zufriedenheit, die jetzt schon so fern zu liegen schien.

Die Landstraße war und blieb völlig öde. Kein Wanderer – um den sich Findling auch nicht besonders gekümmert hätte – zeigte sich, und kein Wagen rollte auf Tralee zu. Auf einem solchen hätte man ihm einen Platz gewiß nicht verweigert, und damit wäre ihm ja viele Anstrengung erspart geblieben. So konnte er nur auf seine kleinen, doch wenigstens kräftigen Beine rechnen.

Endlich hatte er noch vier Meilen, wenn auch nicht so schnell wie die sechs ersten, hinter sich gebracht, und nun trennten ihn nur noch zwei von seinem Ziele.

Es war jetzt halb acht Uhr geworden. Die letzten Sterne erloschen am westlichen Horizonte. Das trübe Morgengrauen jener hohen Breiten erhellte schwach den weiten Himmelsraum, so lange die Sonne den Gürtel von Dünsten in den niedrigeren Schichten nicht durchbrach. Immerhin bot sich jetzt schon eine weitumfassende Aussicht.

Da erschien an einer höheren Stelle der Straße eine Gruppe von Männern, die von Tralee herkamen.

Der erste Gedanke Findlings war es da, sich zu verstecken, obwohl ihm, einem Kinde, doch wohl niemand etwas zu Leide gethan hätte. Doch ohne sich das zu überlegen, sprang er schnell hinter einen überschneiten Busch, von wo aus er sehen konnte, wer die entgegenkommenden Männer wären.

Bald erkannte auch der Knabe in jenen etwa ein Dutzend Polizeiagenten in Begleitung eines Constablers. Seitdem das Land hier strenger überwacht wurde, war es gar nicht selten, solchen Abtheilungen zu begegnen, die, auf Befehl des Lordlieutenants organisiert, bald hier, bald dort auftauchten.

Der Anblick dieser Hüter der Ordnung konnte Findling also nicht besonders auffallen, fast wäre ihm aber ein Aufschrei entfahren, als er darunter den Pachtcassierer Harbert erkannte, der von zwei bis drei Executivbeamten begleitet war, die überall die Vertreibung der Pächter ausführten.

Wie krampfte sich ihm da das Herz zusammen bei der Vorstellung, daß sich Harbert mit diesen Leuten nach der Farm begeben könnte, und daß die Polizisten ihn begleiteten, um vielleicht Murdock zu verhaften![204]

Findling konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Gleich nach dem Verschwinden der Gruppe sprang er wieder auf die Landstraße hinaus und lief, was er nur laufen konnte, so daß er gegen achteinhalb Uhr die ersten Häuser von Tralee erreichte.

Hier begab er sich zuerst nach einer Apotheke und wartete gleich auf die Anfertigung der verordneten Arznei. Zur Bezahlung derselben gab er das Goldstück – sein ganzes Vermögen – hin. Der Apotheker wechselte die Guinee, und da der verschriebene Trank sehr theuer war, erhielt der Knabe nur etwa fünfzehn Schillinge zurück.

Abhandeln ließ sich von dem Preise doch wohl nichts und Findling dachte auch gar nicht daran, da es sich hier um das Wohl und Wehe der Großmutter handelte, dagegen wollte er an der Ausgabe für sein Frühstück zu sparen suchen. Statt des Käses und des Biers begnügte er sich mit einem tüchtigen Stück Brod, das er gierig aufzehrte, und mit einem Stück Eis, das er im Munde zergehen ließ Kurz nach zehn Uhr verließ er Tralee wieder und machte sich auf den Heimweg nach Kerwan.

Unter andern Verhältnissen hätte sich zu dieser Tageszeit ringsum weit mehr Leben gezeigt. Auf den Straßen polterten dann gewöhnlich Karren oder Jaunting-cars dahin, die Personen oder Waaren aller Art nach den verschiedenen Ortschaften des Bezirks beförderten, und überall hätte sich rege Thätigkeit entfaltet. Die Unglücksfälle des vergangnen Jahres hatten jedoch, mit ihrem Gefolge von Hunger und Elend, die Provinz fast entvölkert. Gar viele Bauern hatten sich schweren Herzens entschlossen, das Land zu verlassen, das sie nicht zu ernähren vermochte. Schon zu gewöhnlichen Zeiten schätzt man die Zahl der Irländer, die alljährlich nach der Neuen Welt, nach Australien oder Südafrika auswandern, auf etwa hunderttausend, um sich ein Fleckchen Erde zu suchen, das sie wenigstens vor dem Hungertode bewahrt. Diese starke Auswanderung wird noch durch Gesellschaften begünstigt, welche die Emigranten für zwei Pfund Sterling (vierzig Mark) bis zu den Gestaden Südamerikas befördern.

Im laufenden Jahre hatten nun aber noch weit mehr Landleute die Bezirke des westlichen Irlands verlassen und es schien, als ob die sonst so verkehrsreichen Landstraßen jetzt nur in eine Wüste oder, was noch schlimmer ist, in ein verlassenes Land ausliefen.

Findling wanderte immer raschen Schrittes dahin. Er wollte keine Ermüdung fühlen und entwickelte eine ganz außergewöhnliche Energie. Natürlich war es[205] ihm unmöglich gewesen, die Polizistenabtheilung einzuholen, da diese gegen ihn einen Vorsprung von zwei bis drei Stunden hatte. Die im Schnee sichtbaren Fußspuren der Männer wiesen jedoch darauf hin, daß der Constabler mit seinen Leuten und Harbert mit seinen Gehilfen den nach der Farm führenden Weg einhielten, ein Grund mehr für den Knaben, sich zu beeilen, obwohl ihn die Füße von dem anstrengenden Marsche schmerzten. Er versagte sich selbst eine Rast von wenigen Minuten, wie er sich diese auf dem Hinweg gegönnt hatte. Um zwei Uhr nachmittags befand er sich nur noch zwei Meilen von Kerwan. Eine halbe Stunde später zeigte sich der Pachthof inmitten der weiten Ebene, wo alles in ununterbrochenem Weiß zusammenfloß.

Findling erstaunte einigermaßen, keine Rauchsäule aufsteigen zu sehen, da es dem Kamin im großen Zimmer an Brennmaterial doch nicht fehlen konnte.

Ueberdies schien sich von der Farm der Eindruck von merkwürdiger Oede und Verlassenheit zu verbreiten.

Findling beschleunigte seine Schritte. Er nahm alle seine Kräfte zusammen und fing an zu laufen. Wiederholt hinfallend und schnell aufspringend kam er vor dem den Pachthof abschließenden Thore an....

Welch ein Anblick! Das Thor war zertrümmert. Im Hofe zeigten sich sehr viele Fußspuren in allen Richtungen. Von den Baulichkeiten, den Ställen und Scheunen ragten nur noch die vier Wände, aber ohne Dach, empor. Die Strohbedeckung war heruntergerissen. Eine Thür, einen Fensterrahmen gab es nicht mehr. Offenbar hatte man alles unbewohnbar gemacht, um die Familie zu hindern, sich hier noch ein Obdach zu suchen. Das war eine traurige Ruine von Menschenhand!

Findling blieb wie vom Donner gerührt stehen. Scheu und Schrecken durchbebten ihn. Er wagte nicht, durch das Thor zu schreiten, sich dem Hause zu nähern....

Und doch entschloß er sich endlich dazu. Wenn der Farmer oder eines der Seinigen noch hier war, so mußte er's doch wissen....

Findling wankte bis an den Hauseingang. Er rief laut....

Keine Stimme antwortete ihm.

Da sank er auf der Schwelle nieder und fing an zu weinen. –

In seiner Abwesenheit hatte sich folgendes zugetragen.

Die traurigen Austreibungen, infolge deren nicht nur einzelne Farmen, sondern oft auch ganze Dörfer von ihren Bewohnern verlassen werden, sind in[206] den Grafschaften Irlands gar nichts seltenes. Die armen Leute, von der Stätte verjagt, wo sie geboren wurden und auch noch zu sterben erwarteten, könnten aber zurückkehren, die Thüren der Häuser sprengen und in diesen wieder ein Obdach suchen, das sie anderswo nicht fanden.

Nun, das Mittel, sie daran zu hindern, ist höchst einfach. Die Häuser werden eben ganz unbewohnbar gemacht. Man richtet dazu einen »battering-ram« (eine Art Mauerbrecher) auf, dieser besteht aus einem Balken, der an einer Kette pendelt, welche an drei langen aufrechten und oben verbundenen Pfählen hängt. Dieser »Widder« zertrümmert alles. Das betreffende Haus wird seines Daches beraubt, der Schornstein umgestoßen und der Herd zerstört. Man zerschmettert damit die Thüren und drückt die Fensterrahmen ein. Nichts als die nackten Wände bleiben übrig.... Steht dann die Ruine dem Sturmwind offen, ergießt sich der Regen hinein und sackt sich der Schnee darin, dann können der Landlord und seine Untergebenen sicher sein, daß sich niemand mehr hier aufhalten kann.

Ist es bei den so häufigen Executionen dieser Art, die an den rohesten Vandalismus streifen, wohl ein Wunder, daß sich ein so glühender Haß im Herzen der irländischen Bauern angesammelt hat? Hier in Kerwan war die Austreibung gar von noch traurigeren Nebenumständen begleitet gewesen.

An dem unmenschlichen Werke hatten auch Haß und Rache ein gutes Theil gehabt. Harbert, der Murdock seine Beleidigungen heimzahlen wollte, hatte sich nicht begnügt, mit den Helfershelfern im Namen des Middleman vorzugehen, sondern ihn auch, da er den jungen Farmer schon schwarz angeschrieben wußte, noch denunciert, und die Polizisten hatten Befehl erhalten, sich der Person desselben zu versichern.

Zuerst wurden Martin, seine Frau und seine Kinder aus dem Hause getrieben, während die Schergen das Innere der Wohnung demolierten. Nicht einmal die alte Großmutter wurde verschont. Aus ihrem Bett gerissen und auf den Hof geschleppt, hatte sie sich noch einmal zu erheben vermocht, um in ihren Mördern die Mörder Irlands zu verfluchen... dann war sie todt zusammengebrochen.

In diesem Augenblicke hatte sich Murdock, der noch hätte entfliehen können, auf die Elenden gestürzt. Sinnlos vor Zorn schwang er eine Axt. Sein Vater und sein Bruder hatten wie er ihre Familie vertheidigen wollen.... Vergeblich! Die Beamten und Constabler waren in der Uebermacht und der Sieg blieb dem Gesetze, wenn man dieses Wort noch für ein Attentat auf alles, was gerecht und menschlich ist, gebrauchen darf.[207]

Eine gewaltthätige Auflehnung gegen die Organe der Polizei lag hiermit so auf der Hand, daß außer Murdock auch Martin und Sim in Hast genommen wurden. Und obgleich seit 1870 keine Austreibung ohne einen Schadenersatz an die bisherigen Pächter stattfinden darf, hatten sie durch ihren Widerstand diese Wohlthat obendrein verwirkt.

Auf der Farm konnte der bejahrten Großmutter doch kein christliches Begräbniß zu Theil werden. Man mußte sie nach einem Kirchhof überführen. So betteten ihre beiden Enkel sie also auf eine Tragbahre und trugen sie fort, während Martin, Martine und Kitty mit ihrem Kinde auf dem Arme ihnen inmitten der Constabler folgten.

Der Leichenzug schlug den Weg nach Limerick ein, und ein ergreifenderes Bild, als dieser Trauerzug einer ganzen verhafteten Familie, die die Leiche einer armen, hochbejahrten Frau begleitete, konnte es wohl nicht geben.

Findling, der sein Entsetzen endlich überwunden hatte, lief durch die verwüsteten Räume des Hauses, wo die Trümmer der Möbel umherlagen; immer rief er laut... keiner, keiner antwortete ihm!...

Jetzt dachte er auch an seinen Schatz, an die Kieselsteine, die ihm die Zahl der seit seinem Verweilen in Kerwan verflossenen Tage angeben mußten. Er suchte die Kruke, worin er sie verwahrt hatte, und fand diese unzerbrochen in einem Winkel. Ach, diese Kiesel! Auf der Schwelle sitzend, begann Findling sie zu zählen: es waren deren fünfzehnhundertvierzig.

Das entsprach vier Jahren und achtzig Tagen – vom 20. October 1877 bis zum 7. Januar 1882 – die er auf der Farm verlebt hatte.

Jetzt mußte er die Stätte verlassen und wollte versuchen, die Familie, die ja zur seinigen geworden war, wieder aufzufinden.

Vor dem Aufbruche machte Findling noch ein Packet aus seiner Wäsche, die er in einer halbzerbrochenen Schublade gefunden hatte. In der Mitte des Hofes aber brach er ein Loch neben der am Tage der Geburt des kleinen Mädchens gepflanzten Tanne aus dem harten Boden und verscharrte darin das Gefäß, das seine Kieselsteine barg.

Dann warf er noch einen letzten wehmüthigen Blick auf das zerstörte Haus und wanderte nach der Landstraße zurück, die schon das Dunkel der Dämmerung beschattete.


Ende des ersten Theiles.[208]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 195-201,203-209.
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