Zweites Capitel.
Im Laufe von vier Monaten.

[221] In der Provinz Munster liegt die Grafschaft Cork, die mit denen von Limerick und Kerry zusammenstößt. Sie erfüllt deren südlichen Theil zwischen der Bai von Bantry und Yougal-Haven. Ihre Hauptstadt ist Cork, und der wichtigste Hafenplatz der von Queenstown, an der gleichnamigen Bucht und einer der belebtesten Häfen von ganz Irland.

Die Grafschaft durchschneiden verschiedene Eisenbahnlinien; die eine erstreckt sich über Mallow und Killarney bis nach Tralee. Oberhalb derselben, an dem Theile der Linie, die etwa längs des Blackwaterflusses verläuft, und sechs Kilometer südlich von Newmarket, liegt der Flecken Kanturk, zwei Meilen von diesem aber das Schloß Trelingar.

Dieser prächtige Großgrundbesitz gehört der alten Familie der Piborne's. Er umfaßt eine geschlossene Fläche von hunderttausend Acres (40.000 Hektaren) besten Bodens mit fünf- bis sechshundert Farmen, deren Ausbeutung dem Landlord die höchsten Einkünfte in der ganzen Umgegend sichert. Der Marquis von Piborne ist also schon hierdurch sehr reich, ohne von den andern Einnahmen zu reden, die ihm die Besitzthümer der Marquise in Schottland zuführen. Ueberhaupt wird sein Vermögen als eines der größten im ganzen Lande angesehen.

Wenn der Lord Rockingham sein Grundeigenthum in der Grafschaft Kerry niemals besucht hatte, so konnte man dem Lord Piborne dagegen des verhaßten »Absentismus« nicht beschuldigen. Nach vier- bis fünfmonatigem Aufenthalt in Edinburg oder London, bewohnte er vom April bis zum November stets sein Trelingar-castle.[221]

Ein Grundbesitz von so großer Ausdehnung bedingt selbstverständlich auch sehr viele Pächter. Die ackerbauende Bevölkerung, die auf den Ländereien des Marquis lebte, hätte ein recht ansehnliches Dorf bilden können. Waren die Bauern von Trelingar-castle auch nicht von einem John Eldon für Rechnung des Herzogs von Rockingham bedrückt, und wurden sie nicht von einem Harbert für Rechnung eines John Eldon ausgesaugt, so darf man daraus noch nicht schließen, daß sie sich einer besseren Behandlung erfreuten. Hier gab man sich nur den Anschein größerer Milde. Der Verwalter hielt streng auf die pünktliche Abführung der Pachtzinsen und vertrieb die Pächter auch aus ihren Gehöften; er that das aber auf seine Art, er drückte ihnen sein Mitleid aus, beklagte sie, bekümmerte sich bei dem Gedanken, was ohne Obdach und Lebensunterhalt aus ihnen werden sollte, versicherte auch, daß solche Austreibungen seinem Herrn das Herz brächen... verjagt wurden die armen Leute aber doch, und höchst wahrscheinlich empfanden sie es als keinen besondern Trost, daß Seine Herrlichkeit darum trauerte.

Das zur Zeit der Stuarts erbaute Schloß war gegen dreihundert Jahre alt, es reichte also nicht bis zur Epoche der Plantagenets zurück, worauf die Piborne's so stolz waren.

Der gegenwärtige Besitzer hatte das Aeußere des Bauwerks neu herstellen lassen, um ihm mehr das Aussehen eines Feudalsitzes zu verleihen. Da waren Zinnen angebracht, Spitzthürmchen und Wachthäuschen errichtet und über einen Graben eine Zugbrücke, die nie aufgezogen, und ein Fallgatter, das nie herabgelassen wurde.

Das Innere enthielt sehr geräumige Gemächer mit mehr Comfort, als ihn die Zeiten Eduards IV. oder Johanns ohne Land zu bieten pflegten. Diese verborgene Stilwidrigkeit entsprach freilich den Bedürfnissen der verwöhnten Schloßbewohner.

An den Seiten des Schlosses erhoben sich die Communs (Dienerwohnungen) und Nebengebäude, Ställe, Wagenschuppen und Wirthschaftsräume. Davor lag ein weiter Ehrenhof mit prächtigen Buchen, nach außen zu abgeschlossen von zwei Pavillons neben einem verzierten Gitterthore, von denen der eine dem Portier als Wohnung diente.

Am Thore dieses Pavillons hatte unser junger Held grade die Glocke gezogen, als es sich öffnete, um den Verwalter Scarlett hinausreiten zu lassen.[222]

Ungefähr vier Monate waren seit dem unvergeßlichen Tage verstrichen, wo das Adoptivkind der Familie Mac Carthy die Farm von Kerwan verlassen hatte. Wenige Zeilen werden hinreichen, zu berichten, wie es ihm in diesem Zeitraum ergangen war.

Als Findling gegen fünf Uhr abends von dem zerstörten Hause wegging, wurde es schon langsam finster. Da er Martin und den Seinigen auf der Straße von Tralee nicht begegnet war, kam ihm zunächst der Gedanke, sich nach Limerick zu begeben, wohin die Gefangenen von den Polizisten ohne Zweifel abgeführt worden waren. Ihm erschien es als heilige Pflicht, die Familie Mac Carthy wieder aufzusuchen und auf jeden Fall deren Loos zu theilen. Ja, wenn er schon groß gewesen wäre, um mit seiner Hände Arbeit etwas zu verdienen! Gewiß würde er sich gerührt und keine Mühe gescheut haben... doch was konnte er, der erst Zehnjährige erhoffen? Später. wenn er einmal einen guten Gehalt bezog, sollte dieser für seine Adoptiveltern verwendet werden, und noch später, wenn er sein Glück gemacht hätte – und daran zweifelte er gar uicht – wollte er jenen alles bieten und das Wohlwollen mit Zinsen heimzahlen, das ihm in der Farm von Kerwan entgegengebracht worden war.

Jetzt, auf dieser verlassenen Straße freilich, inmitten einer vom schlimmsten Elend heimgesuchten Gegend, die von denen verlassen war, welche sie nicht zu ernähren vermochte, und verloren in der kalten Finsterniß fühlte sich Findling vereinsamter als je zuvor. In seinem Alter ist es ja selten, daß Kinder nicht durch irgend ein Band gehalten werden, das sie entweder mit einer Familie verknüpft oder an eine öffentliche Anstalt fesselt, die sie aufnimmt und erzieht. Der Knabe aber war ja nichts anders als ein abgerissenes und auf die Landstraße verwehtes Blatt, das vom Winde hin und her getrieben wird, bis es zu Staub zerfällt. Niemand, niemand gab es, der sich seiner mitleidig angenommen hätte. Wenn er die Mac Carthy's nicht wiederfand, wußte er vorläufig nicht, was aus ihm werden sollte, oder doch fehlte ihm auch jeder Anhalt, wo er jene suchen, ja nur nach ihrem Verbleib fragen könnte. Waren sie nicht verhaftet worden, so hatten sie sich wohl gar, wie so viele ihrer Landsleute, entschlossen, nach der Neuen Welt auszuwandern, und dann...

Der Knabe wollte also, quer durch das schneebedeckte Land, nach Limerick wandern. Die Lufttemperatur wäre jetzt kaum zu ertragen gewesen, wenn etwa ein scharfer Wind geweht hätte. Die Atmosphäre war aber still und jeder Laut von weither hörbar. So legte er, ohne einer lebenden Seele zu begegnen, zwei[223] Meilen ganz aufs Geradewohl zurück, denn er hatte sich noch nie in diesen von den ersten Ausläufern der Berge berührten Theil der Grafschaft gewagt Vor ihm verliehen die dichten Tannenwälder dem Horizont einen noch dunkleren Rahmen.

Von seiner Wanderung nach Tralee und zurück bereits stark angegriffen, fühlte Findling jetzt, daß ihn die Kräfte verließen. Die Beine zitterten ihm und die Füße knickten ihm in den Gelenken. Dennoch wollte er auf keinen Fall Halt machen, und so gelang es ihm mit Mühe, sich noch eine halbe Meile weit fortzuschleppen. Nach dieser letzten Anstrengung aber sank er an einem Abhange mit großen Bäumen zusammen, deren Zweige sich unter der Last des Rauhfrostes beugten.

Hier kreuzten sich zwei Landstraßen, so daß Findling, wenn er sich wieder zu erheben im Stande gewesen wäre, nicht gewußt hätte, welcher davon er folgen sollte. Auf dem Schnee ausgestreckt und mit erstarrten Gliedern, konnte er, als schon seine Augen sich schließen wollten und er das Bewußtsein für seine Lage halb verlor, nur noch einmal rufen:

»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!«

Fast gleichzeitig erschallte ein entferntes Gebell in der trocknen kalten Nachtluft. Dann kam es näher und an der nächsten Straßenbiegung tauchte ein Hund auf, der mit gesenkter Nase, hängendem Schwanze und mit Augen, die wie solche von Katzen erglänzten, den Boden beschnüffelnd einhertrabte.

Mit wenigen Sprüngen stand das Thier neben dem Kinde... doch nicht um diesem ein Leid zuzufügen, sondern um es zu erwärmen, indem sich der Hund an dessen Seite ausstreckte.

Findling bekam sofort seine Besinnung wieder. Er schlug die Augen auf und fühlte, daß eine warme, liebkosende Zunge ihm die Hand leckte.

»Birk!« murmelte er.

Birk war es, sein einziger Freund, sein treuer Begleiter in der Farm von Kerwan.

Wie gab der Knabe ihm seine Liebkosungen zurück, während er sich die Hände zwischen seinen Pfoten wärmte. Das flößte ihm neuen Muth ein. Er sagte sich, daß er auf der Erde doch nicht allein sei. Jetzt wollten beide die Aufsuchung der Familie Mac Carthy vornehmen. Ohne Zweifel hatte Birk diese nach der Austreibung begleitet, und zurückgekehrt war er jedenfalls nur, weil ihn die Häscher und die Polizisten wohl mit Steinwürfen und Stockschlägen verjagt hatten. So war es in der That gewesen,« und Birk, der herzlos verscheucht wurde, hatte nach der Farm zu zurücktrotten müssen. Jetzt würde er ja auch die Spur der Polizisten wiederfinden und Findling konnte sich wohl auf den Instinct des Thieres verlassen, von diesem zur Familie Mac Carthy geleitet zu werden.


»Some light.« (S. 231.)
»Some light.« (S. 231.)

Er begann also mit Birk zu plaudern, wie er das in den langen Stunden auf der Weide bei Kerwan zu thun pflegte. Birk antwortete ihm in seiner Weise durch ein kurzes Bellen, das Findling leicht genug verstand.

»Nun vorwärts, mein getreuer Birk, vorwärts!«

Sofort lenkte das Thier nach der einen Straße ein, wo es seinem jungen Herrn vorauslief.

Nun traf es sich aber, daß Birk, eingedenk der erlittenen Mißhandlung, den Weg nach Limerick nicht einschlug. Er folgte vielmehr dem, der an der Grenze der Grafschaft Kerry hin und nach Newmarket in der Grafschaft Cork führt. Unbewußt entfernte sich Findling damit von der Familie Mac Carthy weiter, und als der Tag graute, machte er, erschöpft und von Hunger geplagt, Rast, um sich in einem Gasthause, ein Dutzend Meilen südöstlich von der Farm, zu stärken und zu erquicken..

Außer seinem Wäschepacket besaß Findling, wie sich der Leser erinnern wird, noch den Rest der bei dem Apotheker in Tralee gewechselten Guinee... die große Summe von ganzen fünfzehn Schillingen. Damit kommt man freilich nicht weit, wenn zwei zu ernähren sind, selbst wenn man sich auf das nothwendigste beschränkt und täglich nur einige Peace ausgiebt. Das beobachtete der Knabe auch, und nach vierundzwanzigstündigem Aufenthalt in dem Gasthofe, wo ihm ein Heuboden als Schlafraum und Kartoffeln als Speise dienten, machte er sich mit Birk wieder auf den Weg.

Auf seine Fragen nach den Mac Carthy's hatte der Gastwirth erklärt, daß ihm keine Familie dieses Namens bekannt sei. Austreibungen waren in diesem schlimmen Winter auch so häufig vorgekommen, daß sich die öffentliche Aufmerksamkeit diesen traurigen Ereignissen gar nicht mehr zuwandte.

Findling marschierte immer hinter Birk in der Richtung nach Newmarket weiter.

Wie er fünf lange Wochen, bis zum Eintreffen in diesem Flecken verbrachte, kann man sich wohl vorstellen. Niemals streckte er die Hand aus! Sein natürlicher Stolz und das Gefühl eigner Würde waren auch bei diesen neuen[227] Prüfungen nicht erlahmt. Manche »weichherzigen Leute, die das hilflose Kind dauerte, hatten ihm wohl ein größeres Stück Brod oder Speck u. dgl. gegeben, wenn er sich in den Gasthäusern versorgte und mit einem Penny bezahlte, was eigentlich das doppelte kostete – doch das ist immer noch nicht gebettelt. Dabei theilte er alles mit Birk, indem die beiden in Scheunen schliefen, sich ins Heu verkrochen und Hunger und Durst zusammen litten, um von der Guinee so wenig als möglich auszugeben....

Zuweilen blühte ihm auch das Glück, denn wiederholt erhielt Findling eine kleine Beschäftigung. Vierzehn Tage verweilte erz. B. in einer Farm in Vertretung des abwesenden Schäfers. Wohl erhielt er keinen Lohn, fand dabei aber doch für sich und Birk Obdach und Nahrung. Nach vollendeter Arbeit zog er weiter. Einige Aufträge, die er zwischen einem Dorfe und dem andern ausrichtete, brachten ihm auch ein paar Schillinge ein. Zum Unglück fand er nur keine dauernde Beschäftigung, denn es war die schlechte Jahreszeit, wo leider so viele rüstigere Arme feiern müssen, und grade in diesem Winter war das Elend schlimmer als sonst.

Findling hatte übrigens noch keineswegs darauf verzichtet, mit der Familie Mac Carthy wieder zusammenzutreffen, obwohl seine Erkundigungen nach ihr immer erfolglos blieben und er bei seinem Weiterwandern auf gut Glück nicht einmal wußte, ob er sich seinen Freunden näherte oder nicht. Nur die eine Hoffnung verließ ihn nicht, daß er in einer Stadt, in einer wirklichen Stadt, die gewünschte Auskunft erhalten werde.

Dabei drückte ihn die Sorge, daß er, in seinem Alter so ganz allein auf der Landstraße gefunden, vielleicht als Vagabund verhaftet und noch einmal in die Ragged-School oder in ein Arbeitshaus eingeliefert werden könnte. Lieber wollte er alles Ungemach weiterer Irrfahrten ertragen, als in eines dieser verhaßten Asyle zurückkehren, wobei er sich ja auch von dem anhänglichen Birk hätte trennen müssen.

»Nicht wahr, Birk, sagte er, den mächtigen Kopf des Hundes auf seine Knie legend, wir könnten doch keiner ohne den andern leben?«

Gewiß antwortete der Hund in seiner Weise, daß das unmöglich sei.

Von Birk wendeten sich seine Gedanken dann seinem früheren Kameraden von Galway zu und er fragte sich, ob Grip jetzt wohl auch obdachlos sei wie er. Ja, wenn sie einander begegnet wären, hätten sie zu zweien sich sicherlich eher fortzuhelfen vermocht... sogar zu dreien; er gedachte damit der guten[228] Sissy, von der er seit seiner Flucht aus der Hütte der Hard gar nichts gehört hatte. Jetzt mußte sie – mit vierzehn bis fünfzehn Jahren – doch schon ein großes Mädchen sein. In diesem Alter ist man hier schon in Stellung, im Dorf oder in der Stadt, und verdient sein Brod zwar sauer, verdient es aber doch. Wenn er erst so alt wäre, würde er nicht darum verlegen sein, eine Stelle zu finden. Jedenfalls würde ihn Sissy nicht vergessen haben. Alle Erinnerungen aus seiner ersten Kindheit tauchten mit überraschender Schärfe in ihm auf: die schlechte Behandlung durch das böse Weib, die Grausamkeiten Thornpipe's, des Puppenschaustellers.... Da fühlte er sich jetzt frei, wenn auch allein, doch weit glücklicher, als zu jenen traurigen Zeiten!

Immer weiter auf der Landstraße hinziehend, verflossen die Tage ohne besondre Veränderung seiner Lage. Zum Glück war der Februar dieses Jahres nicht so hart, und die Armen brauchten von keiner übermäßigen Kälte zu leiden. Der entschwindende Winter ließ die Hoffnung aufkommen, daß der Beginn der Arbeiten und der Frühlingseinsaat nicht verzögert werden würde. Fingen dann die Feldarbeiten zeitig an, so wurden auch Schafe und Kühe wieder auf die Weide getrieben und Findling durfte hoffen, in einer Farm Beschäftigung zu finden.

Fünf bis sechs Wochen lang mußte er freilich noch hinbringen, und von den gelegentlich erworbenen wenigen Schillingen, so wie von der Guinee – dem ganzen Vermögen des Knaben – waren gegen Mitte März nur noch ein halbes Dutzend Peace übrig. Dabei hatte er an der täglichen Nahrung – und er aß nicht einmal alle Tage – so viel wie möglich gespart, jedenfalls sich nie ordentlich satt gegessen. So war er abgemagert, sein Gesicht erbleicht und der Körper von der Anstrengung erschöpft.

Birk, dessen Fell sich über den hervortretenden Seiten faltete, schien auch nicht in besserer Verfassung zu sein. Auf die in Dörfern gewöhnlich kargen Abfälle hingewiesen, mußte Findling vielleicht bald auch diese mit dem Thiere theilen.

Dennoch schützte ihn sein Charakter davor, ganz zu verzweifeln. Er bewahrte sich stets die Energie, wenigstens nicht zu betteln. Was sollte er aber beginnen, wenn sein letzter Penny für das letzte Stück Brod dahingegangen war?

Kurz, Findling besaß nur noch sechs bis sieben Pence, als er mit Birk am 13. März in Newmarket anlangte.[229]

Seit zweieinhalb Monaten hatten beide die Straßen der Grafschaft durchstreift, ohne irgendwo eine dauerndere Ruhe zu finden.

Newmarket, etwa zwanzig Meilen von Kerwan gelegen, ist weder groß noch volkreich. Es bildet einen jener Flecken, aus denen die irländische Gleichgiltigkeit niemals eine Stadt schaffen wird und die eher rückwärts als vorwärts gehen.

Vielleicht war es bedauerlich, daß der Zufall Findling nicht in der Richtung nach Tralee zurückgeführt hatte; das Meer übte ja von jeher auf den Knaben einen mächtigen Reiz aus – das Meer, die unerschöpfliche Nährmutter aller, die den Muth haben, darauf und davon zu leben. Wenn es an Arbeit in Stadt und Land gebricht, feiert man doch niemals auf dem Ocean, den Tausende von Schiffen unausgesetzt durchkreuzen. Der Seemann hat weit weniger die Verarmung zu fürchten, als der Landbauer und der Arbeiter. Das bewies ja schon ein Vergleich der Verhältnisse Pats, des zweiten Sohnes Martin Mac Carthy's, mit denen der aus der Farm von Kerwan vertriebenen Familie. Und wenn Findling sich auch noch mehr von der Handelsthätigkeit als von der Seefahrerei angezogen fühlte, sagte er sich doch, daß er schon das Alter habe, wo er als Schiffsjunge an Bord eines Seglers gehen könnte.

Deshalb sagte er sich auch, daß er über Newmarket hinaus wandern und sich in der Richtung nach Cork zu der Küste zuwenden wollte. In Cork, einem Platze mit sehr lebhaftem Seeverkehr, gedachte er Unterkommen auf einem Schiffe zu suchen. Inzwischen mußte er jedoch leben, mußte die zur Fortsetzung seiner Reise nöthigen wenigen Schillinge erwerben; doch fünf Wochen nach seinem Eintreffen in Newmarket befand er sich mit Birk noch immer dort.

Wie erwähnt, fürchtete er sich vor allem, als Landstreicher verhaftet und in irgend eine Wohlthätigkeitsanstalt gesteckt zu werden. Zum Glück war seine Kleidung noch in recht gutem Zustande, so daß er kaum wie ein kleiner Armer aussah. Sein geringer Vorrath an Wäsche genügte ihm; auch die Schuhe hatten die Strapazen des langen Weges ausgehalten. Wegen seiner äußern Erscheinung brauchte er also nicht zu erröthen, wenn er sich irgendwo zeigte, und der öffentlichen Armenpflege hoffte er auch nicht zur Last zu fallen.

So erwarb er sich seinen Lebensunterhalt in Newmarket durch allerlei, Kindern zugängliche Beschäftigungen; er übernahm Botschaften für den oder jenen, beförderte leichtere Packete und verkaufte schachtelweise Streichhölzchen, die er für eine, eines Tags verdiente halbe Krone einkaufte und Dank seinem[230] frühentwickelten Instinct für den Handel mit leidlichem Nutzen absetzte. Seine ernsten Züge machten ihn interessant, und gern kauften ihm Spaziergänger von seiner Waare ab, wenn er mit heller Stimme rief:


»Some light, sir... some light!«1


Alles in allem hatten Birk und er in diesem kleinen Orte weniger zu leiden, als vorher beim Wandern durch die Grafschaft. Es schien sogar, als sollte Findling, der sich durch Intelligenz einige Hilfsquellen eröffnet hatte, dauernd in Newmarket bleiben, als er in den letzten Tagen des April, am 29., plötzlich den Weg nach Cork einschlug.

Natürlich begleitete Birk den Knaben, der genau gezählt drei Schillinge und sechs Pence in der Tasche hatte.

Wer ihn seit dem Vortage beobachtet hätte, dem hätte eine gewisse Veränderung in seinem Gesicht nicht entgehen können. Von seltsamer Angst erfaßt, blickte er scheu um sich, als fürchte er, daß jemand ihm auflauere. Sein Schritt war schnell, und es fehlte nicht viel, so wäre er gelaufen, was ihn die Beine tragen konnten.

Es schlug die neunte Morgenstunde, als er an den letzten Häusern von Newmarket vorüberkam. Die Sonne glänzte hell am Himmel. Mit dem Ende des April fängt auf dem Grünen Erin der Frühling an. Schon regte es sich da und dort auf den Feldern. Der Knabe war jedoch so von seinen Gedanken eingenommen, daß weder der Pflug, der den Erdboden aufbrach, noch die Säemänner, die die Körner in geschicktem Wurfe ausbreiteten, oder die auf den Weiden grasenden Thiere in ihm eine Erinnerung an Kerwan erweckten. Er ging immer gerade aus. Birk an seiner Seite warf ihm einen fragenden Blick zu, und diesmal war es nicht der Hund, der seinen Herrn führte.

Sechs bis sieben Meilen zwischen Newmarket und Kanturk wurden in zwei Stunden zurückgelegt. Findling durchwanderte mehrere Ortschaften, ohne sich Zeit zum Ausruhen zu gönnen, da er unterwegs ein Stück Brod verzehrte, von dem der treue Birk die Hälfte abbekam, und als er stehen blieb, da schlug die Uhr auf dem Wartthurm von Trelingar-castle gerade die Mittagsstunde.

Fußnoten

1 »Licht, mein Herr... Licht!« (d. h. nämlich: Feuer).


Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 232.
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