|
[179] Kaum aus dem Fahrzeuge, das sie hierher gebracht hatte, ausgestiegen, hatten die beiden Cousinen sich unverzüglich nach dem Krankenhause von Dawson City begeben. Doktor Pilcox empfing sie hier als väterlicher Freund und Edith trat sofort ihren Dienst an und das so wohlgemut und sicher, als ob sie ihn nur seit gestern wieder aufnähme.
Jane dagegen, die geraden Weges auf ihr Ziel lossteuerte, löste sich im städtischen Verwaltungsbureau einen Erlaubnisschein zur Jagd, zum Fischfang und zum Grubenbetrieb, der ihr gegen Entrichtung von zehn Dollars ausgestellt wurde, und dann lief sie kreuz und quer durch Dawson City und besorgte sich schnell die Tracht und die nötigen Arbeitsgeräte eines Prospektors. Gegen[179] Mittag war schon alles abgemacht, dann kehrte sie, vom Kopf bis zum Fuß verwandelt, ins Krankenhaus zurück.
Wie sie so die Haare auf dem Kopfe fest zusammengebunden und mit einem breitkrempigen Filzhut bedeckt hatte, an den Füßen große, mit Nägeln beschlagene Schuhe und bekleidet mit Kittel und Beinkleidern aus grobem, haltbarem Stoffe, hatte sie das Weib äußerlich abgestreift und sah mehr wie ein junger, gewandter Bursche aus.
Die beiden Cousinen nahmen miteinander ein Frühstück ein. Ohne die innere Aufregung, die beide tatsächlich empfanden, irgendwie zu verraten, umarmten sie sich dann, wie sie das gewöhnt waren, und während Edith zu ihren Kranken zurückkehrte, wandte sich Jane entschlossen dem Abenteuer, dem Unbekannten entgegen. Bei ihren Einkäufen hatte sie sich durch Befragung des einen und des andern über verschiednes so gut wie möglich unterrichtet. Aus den dabei erhaltnen Mitteilungen ging hervor, daß ihr nach Süden und nach Osten zu keine Aussicht auf Erfolg winkte. Nach diesen Seiten hin lagen allerdings die reichsten, deshalb aber auch am meisten überlaufnen Gebiete. Sie würde dort sehr lange umhersuchen müssen, ehe sie ein noch unausgebeutetes Plätzchen fände, das der Mühe ihrer Arbeit lohnte.
Nach Westen zu waren die Rios und die Creeks dagegen vorläufig noch weniger bekannt und die Konkurrenz war dort weniger scharf. In dieser Gegend würde es ihr voraussichtlich eher möglich sein, einen bisher unbeachteten Claim zu erwerben, ohne sich von der Stadt gar zu weit zu entfernen.
Auf ihren glücklichen Stern bauend, zog Jane Edgerton von Dawson City nach Westen hinaus und, die Schaufel in der Hand, den Quersack auf der Schulter, längs des linken Yukonufers weiter.
Wohin ging sie nun eigentlich?... Ja, das wußte sie selbst nicht. Sie marschierte einfach vor sich hin und hatte zunächst keinen andern Plan entworfen, als an dem ersten, einigermaßen bedeutenden Flusse hinzuwandern, der ihren Weg schneiden würde und dessen Uferland sie genau besichtigen wollte.
Als Jane nachmittags fünf Uhr noch keinen Wasserlauf angetroffen hatte, der einen andern Namen als den eines Baches verdiente, machte sie etwas ermüdet einen kurzen Halt und stärkte sich aus dem mitgenommnen Proviant. Bisher war ihr vom letzten Hause der Stadt an noch keine lebende Seele begegnet. Ringsumher herrschte Schweigen in dem Landstrich, der ganz unbewohnt erschien.[180]
Nach Beendigung ihres frugalen Mahles wollte Jane eben wieder aufbrechen, als ein aus Dawson City kommender Wagen auf die Straße einbog und sich ihr schnell näherte. Es war ein sehr einfaches Gefährt, mehr ein richtiger Bauernkarren mit einer darübergespannten Leinenplane und einem kräftigen Pferde davor. Auf dem über der Vorderachse an Stricken hängenden Sitze zeigte sich ein vierschrötiger Mann mit stark gerötetem, aber jovialem Gesicht, der lustig mit der Peitsche knallte.
Da der Weg an der Stelle, wo er sich eben befand, ziemlich stark anstieg, kam der Wagen jetzt nur langsamer vorwärts. Jane hörte hinter sich den Hufschlag des Pferdes auf dem Erdboden und die Räder kreischten in einer Entfernung, die sich vorläufig nicht zu verringern schien.
Da rief sie eine etwas schwerfällige, doch lustige Stimme mit den Worten an:
»He, mein Bürschchen, was machst du denn hier?«
Auf diese Anrede in ganz verständlichem, doch in seiner Unkorrektheit für ein angelsächsisches Ohr höchst komisch wirkendem Englisch wandte sich Jane ruhig nach dem Sprecher um.
»Und Sie?« antwortete sie nur.
Der Mund des dicken Mannes verzog sich zu einem breiten Lächeln.
»Bou Diou! rief er, seine fremde Aussprache noch durch einen deutlichen Marseiller Akzent verschärfend, du hast ja recht helle Augen, junges Hühnchen! Das Stirnhaar sieht ja aus, als wenn es jeden Vorüberkommenden ausfragen wollte. Gehörst du vielleicht zur Landespolizei, mein Pitchoun?
– Und Sie? sagte Jane darauf noch einmal.
– Und Sie? wiederholte der Wagenlenker scherzend. Du kannst wohl nichts andres sprechen, Kleiner?... Oder wäre es erst notwendig, sich dem Herrchen vorzustellen?
– Ja, warum das nicht? erwiderte Jane halb lachend..
– Das ist sehr einfach, erklärte der lustige Patron, während er sein Pferd mit einem leichten Peitschenschlage antrieb. Ich habe die Ehre, mich dir als Marius Rouveyre, den größten Händler in Fort Cudahy, vorzustellen. Und nun ist die Reihe an dir, nicht wahr?
– Jean Edgerton, Prospektor.«
Der Wagen hielt auf der Stelle an; Marius Rouveyre hatte in seiner Überraschung die Zügel plötzlich scharf angezogen. Er ließ sie aber gleich wieder locker und hielt sich unter schmetternd lautem Lachen die Seiten.[181]
»Prospektor... Sapperment, Prospektor! lallte er trotz seines Lachens, Prospektor... pecairé!... Du willst dich also von den Wölfen auffressen lassen?... Und seit wann bist du, wie du sagst, Prospektor?
– Seit drei Stunden! antwortete Jane Edgerton, ärgerlich errötend. Ich bin nun schon zwei Monate unterwegs, um hierherzukommen, es hat mich aber, wie es scheint, noch kein Wolf verzehrt.
– Richtig! bestätigte der dicke Marius, der jetzt wieder ernster wurde. Das ist wahr, daß der Kleine bis hierher fortgekommen ist! Du hast aber immerhin ein recht unpassendes Metier gewählt. Armes Kerlchen! Doch da kommt mir ein Gedanke: Du gefällst mir, obgleich dir der Kamm etwas geschwollen zu sein scheint. Ich brauche gerade einen Gehilfen und wenn du den Platz annehmen willst... besser ist das allemal als das verzwickte Goldsuchen.
– Einen Gehilfen? fragte Jane. Einen Gehilfen wofür oder wozu?
– Für alles, erklärte Marius Rouveyre. Ich handle mit all und jedem. In meinem Lagerhause, ja schon hier in meinem Wagen, findet sich allerlei. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie vielerlei die Kisten hier enthalten: Zwirn, Näh- und Stecknadeln, Garn und Schnüre, Schinken, Briefpapier, Würste, Schnürleibchen, Konserven, Strumpfbänder, Tabak, Männer- und Frauenkleider, Schmertöpfe, Schuhe usw. Es ist ein richtiger Basar! Hier in der Pappschachtel hab' ich einen hohen Hut, den einzigen, den es in Fort Cudahy gibt. Den verleihe ich zu jeder Trauung, da bringt er mir seinen Preis tausendfach ein. Natürlich muß das Ding auf jeden Schädel passen! Und hier in der andern befindet sich ein Kleid... ein Ballkleid... auch gehörig ausgeschnitten... nach der neuesten Pariser Mode, mein Freund.
– Und diese suchen werden hier verkauft?
– Ich und mein Staatskleid verkaufen? Ich weiß, man würde sich darum reißen, der glückliche Finder des ersten größern Goldklumpens würde es seiner Gattin bringen, damit diese bei den Tanzvergnügungen in Fort Cudahy alle andern Frauen an Luxus überstrahlte. Doch nein, an dergleichen denk' ich nicht. Das Beste steckt aber da hinten in den andern Kisten und Kasten: Champagner. Brandy, Wisky u. dgl. Davon kann ich gar nicht genug kommen lassen, es reicht doch niemals aus. Na, heraus mit der Sprache, gefällt dir mein Vorschlag? Vier Dollars den Tag, neben Unterhalt und freier Wohnung.
– Nein, Herr Rouveyre, antwortete Jane Edgerton freimütig. Ich danke Ihnen, will aber doch meinen eignen Plänen nachgehen.[182]
– Ein schlechter Vorsatz, Bürschchen, ein schlechter Gedanke! versicherte Marius Rouveyre mit Überzeugung. Die Goldschlemmerei... die kenne ich. Ich kann dir davon aus eigner Erfahrung erzählen.
– Sie sind auch Prospektor gewesen?
– Sapperment, so wie hier jedermann. Man fängt ja immer damit an. Unter je hundert ist aber nur einer, dem's glückt, zwei, die bald umsatteln, ein Dutzend, die nachher so bettelarm sind wie zuvor, und die übrigen... die tragen gar ihre Haut zu Markte. Ich hätte auch bald zu ihnen gehört!
– Wirklich? rief Jane, die auf weitere Mitteilungen gespannt war.
– Wie du mich hier siehst, Kleiner, fuhr Marius fort, bin ich eigentlich Seemann, ein Seemann aus Marseille in Frankreich. Ich hatte meine Schiffskiste schon in allen fünf Erdteilen umhergeschleppt, als ich mich, wir lagen im Hafen von Vancouver, von einem schlechten Subjekt übertölpeln ließ. Seiner Rede nach brauchte man sich hier nur zu bücken, um Goldklumpen wie Kinderköpfe groß aufzulesen. Da fuhren wir denn beide ab. Natürlich fielen die Reisekosten auf mich und noch natürlicher fand ich hier nichts als das graue Elend. Ich hatte nichts mehr als Haut und Knochen, meine Börse war zusammengeschnurrt und dann... nun, dann machte sich der Spitzbube, der mich hierhergeschleppt hatte, heimlich aus dem Staube. Nun fing ich an zu überlegen, was zu tun wäre, und da Marius nicht dümmer ist als andre, sah er bald ein, daß alles, was ein Goldsucher in Klondike gewinnt, schließlich doch in Klondike hängen bleibt, daß es verlottert wird in den Schenken, den Ballhäusern, oder ausgegeben in den Läden, wo man für hundert Francs kauft, was anderswo hundert Sous kostet. Ich entschloß mich also, Tanzbodenwirt und Händler – Kaufmann – zu werden, und wahrlich, ich hab's nicht zu bereuen gehabt, schloß Marius Rouveyre seine Worte, während er sich mit Selbstbefriedigung den Bauch klopfte, denn meine Börse und ich, wir sind gemeinsam rund und fett geworden!«
Der Wagen hatte jetzt die Höhe der Straßensteigung erreicht.
»Nun also, du willst entschieden nicht? Marius hielt dabei still.
– Entschieden nicht! erklärte Jane Edgerton.
– Daran tust du unrecht,« sagte Marius fast seufzend und wippte schon mit der Peitsche.
Der Wagen, der sich in Bewegung setzte, hielt aber sofort noch einmal an.[183]
»Na, es soll doch keiner sagen können, daß ich dich auf der Landstraße hätte liegen und unter freiem Himmel schlafen lassen. Marius ist reich genug, einem armen kleinen Kerl einen Dienst zu erweisen. Wohin gehst du?
– Hatte ich's nicht schon gesagt?... Geradeaus!
– Geradeaus... geradeaus! Da könntest du lange geradeaus gehen. Vor dem Fort Cudahy kommst du an keinen brauchbaren Creek. Soll ich dich bis Cudahy mitnehmen?
– Im Wagen?
– Na freilich, im Wagen.
– O, das nehme ich mit Dank an, beeilte sich die über das Angebot erfreute Jane zu antworten.
– Also heran! Steige schnell ein! Ein Tropf, der nicht Wort hält!«
Dank dieser so unerwarteten Hilfe sah Jane den Anfang ihrer Reise recht wünschenswert erleichtert. Das Pferd lief im kurzen Trab. Am 4. Juni, doch zu etwas vorgerückter Stunde, stand es vor der Türe zu dem Laden Marius Rouveyres.
Dieser ließ es an wiederholten Versuchen, seinen Fahrgast zur Annahme des Gehilfenpostens bei ihm zu überreden, nicht fehlen. Die sechsunddreißig Stunden, die er mit seinem jungen Begleiter verbracht hatte, hatten die Teilnahme nur vermehrt, die er für diesen von Anfang an empfand. Seine Bemühungen blieben vergeblich. Jane Edgerton wollte ihren Vorsatz ausführen und früh morgens am 5. Juni machte sie sich wieder auf den Weg.
Bald sperrte ihr ein Nebenfluß des Yukon den Weg. Sie wandte sich da nach Südwesten und ohne den Namen des Wasserlaufes zu kennen, wanderte sie an dessen rechtem Ufer hin.
Den ganzen Tag ging sie unverdrossen weiter. Bald folgte der Weg dem Uferrand des Flusses, bald wich er, verdrängt durch eine Bodenwelle, davon ein Stück zurück und das Wasser war dann nur an der Mündung von Schluchten zu sehen, die meist recht steil herabfielen.
Jane drang beherzt in diese Schluchten ein und ging, wachsam umherblickend, vorsichtig bis zu ihrem Ende hinunter. Vielleicht entdeckte sie darin ein günstig erscheinendes Plätzchen, das von denen, die hier vor ihr gewandert waren, doch übersehen worden wäre. Der Tag ging aber zur Rüste, ohne daß ihre Hoffnung sich erfüllt hätte. Überall war der Erdboden schon in Besitz genommen oder durch numerierte Pfähle als regelrechtes Besitztum bezeichnet. Nicht ein Daumenbreit[184] herrenloses Land. Überall folgte ein Claim dem andern, nur unterbrochen durch ganz ungangbare und unverkennbar erzleere Stellen.
Jane war übrigens von diesem ersten Mißerfolg keineswegs betroffen. Wie hätte das auch anders sein können in einem Lande, das von einer so großen Menge von Goldsuchern überschwemmt und schon in regelmäßige Schläge abgeteilt war? Die Umgebung war ja keine Wüste mehr. Überall arbeiteten gierige Hände, und es wäre höchst unwahrscheinlich gewesen, daß den zahllosen Goldsuchern das kleinste Stückchen des edlen Metalls entgangen wäre.[185]
Sie mußte eben weiter wandern und das wollte sie, so weit, wie es irgend nötig erschiene.
Gegen Abend kam sie an eine neue, zur Rechten von der Straße mündende Schlucht. Jane schritt, wie in die andern, unbesorgt hinein und stieg nach dem darin hinrauschenden Creek hinunter, dessen Umgebung sie aufmerksam musterte. Von noch rauherem und wilderem Aussehen als die andern, schlängelte sich diese Schlucht in zahlreichen Windungen dem Stromufer zu. Schon nach hundert Schritten hatte Jane die Straße aus dem Gesichte verloren und sah vor sich nur noch einen schmalen. zwischen hohen Felsenwänden eingezwängten Pfad. der vielfach von breiten und tiefen Spalten unterbrochen war.
Eben stand sie vor einer solchen Vertiefung und wollte sie gerade überschreiten, als an einer Windung des engen Weges, zwanzig Meter vor ihr, eine Gestalt auftauchte, bei deren Anblick sie ein kalter Schauer erfaßte. Der Mann war fast ein Riese, ein borstiger Koloß. ungefähr von sechs Fuß Höhe. Eine Fülle roter Haare, die in dichten und krausen Büscheln über die Stirn hinunterfielen, gab ihm fast ein tierisch wildes Aussehen, wozu seine übrige Erscheinung nur noch mehr beitrug. Eine stumpfe Nase, abstehende Ohren, dickwulstige Lippen, große, mit rotem Wollhaar bedeckte Hände, grobe, ausgetretene Schuhe, über denen die Reste eines vielfach zerrissenen Beinkleides flatterten, war das ohne Zweifel ein halb vertierter, doch jedenfalls ein sehr kräftiger Gesell.
Als sie einander erblickten, waren Jane Edgerton und der Mann unwillkürlich stehen geblieben. Dieser schien erst zu überlegen – soweit ihm eine solche Geistestätigkeit möglich war – was er nun tun sollte. Dann setzte er sich aber mit schweren, täppischen Schritten wieder in Bewegung. Je näher er herankam, desto deutlicher erkannte Jane seine Gesichtszüge und da sie darin den unverkennbaren Ausdruck von Wildheit zu sehen glaubte, bemächtigte sich ihrer eine zunehmende Unruhe.
Nach wenigen Sekunden stand der unheimliche Mann an der Wegspalte, vor der Jane stehen geblieben war, als wollte sie diese als Schutz- und Verteidigungsmittel benützen. Auf der andern Seite blieb auch der Mann stehen.
Über seine Absichten konnte kaum ein Zweifel walten. Der unstete Blick seiner blutdurchzognen Augen, der verzerrte Mund, der die Zähne bloßlegte, die mächtigen, zum Anfallen geballten Fäuste... alles an ihm verriet den Wahnsinn der Mordgier. Jane ergriff ihren Revolver und streckte ihn schußfertig hin aus.[186]
Als ob er über eine solche, von der Hand eines Kindes geführte Waffe spöttelte, zuckte der Mann an der andern Seite der Spalte hohnlächelnd die Achseln, hob einen Stein auf und schleuderte ihn kräftig hinüber... Das Wurfgeschoß verfehlte aber sein Ziel und da sprang er in die Vertiefung, die er leicht mit drei Sätzen durchmessen konnte. Kaltblütig erwartete Jane den Feind, entschlossen, nur einen sicher treffenden Schuß abzugeben.
Das sollte jedoch nicht nötig werden. Beim ersten Schritte stürzte der Riese, auf einem Stein ausgleitend, lang hin und stieß ein furchtbares Geheul aus, ohne sich wieder aufzurichten.
Was ihm zugestoßen sein mochte, konnte Jane vorläufig nicht entscheiden. Tot war der Angreifer nicht, seine Brust arbeitete in kurzen Stößen und lautes Wehklagen kam über seine Lippen. Da er jedenfalls außer Gefecht gesetzt war, erschien es Jane am ratsamsten, die Schlucht wieder zurückzulaufen, die Straße zu gewinnen und über diese hinzuflüchten.
Ein noch schmerzlicheres Seufzen des Gestürzten hielt sie aber zurück und lenkte ihre Aufmerksamkeit dem am Boden liegenden Gegner zu. Dieser war kaum wieder zu erkennen. Die wulstigen Lippen waren jetzt eingezogen und verrieten nichts mehr von Wildheit; aus den vorher so blutrünstigen Augen sprach nur noch ein unerträglicher Schmerz, die grobe Faust hatte sich geöffnet und die Hand streckte sich dem jungen Mädchen wie bittend entgegen. Der vorher einen Mord planende unheimliche Fremde hatte sich wie durch Zauberschlag zu einem armen Teufel verwandelt, der, die Beute eines schweren Unfalls, plötzlich schwächer als ein kleines Kind geworden war.
»Wollen Sie mich denn hier elend umkommen lassen?« fragte er mit rauher Stimme, jedoch in gutem Englisch.
Sofort wandte sich Jane ihm zu; das Mitleid des Weibes war in ihrem Herzen erwacht. Ohne Zögern stieg sie in den Spalt hinunter und näherte sich dem Gestürzten.
»Oder wollen Sie mich vielleicht gar töten?« seufzte der Unglückliche, dessen starre Blicke an dem Revolver hingen, den Jane noch in der Hand hielt.
Sie steckte daraufhin die Waffe in den Gürtel und ging näher an den Mann heran.
»Was ist Ihnen zugestoßen? fragte sie. Was fehlt Ihnen?
– Ich habe sicherlich ein Glied gebrochen... ich fühle es... hier und auch da antwortete der Verletzte, der nach dem Rücken und dem rechten Fuße zeigte.[187]
– Lassen Sie mich machen... ich werde nachsehen,« sagte Jane niederkniend.
Mit sanftem, doch sicherm Griff streifte sie die beschmutzte Jacke und den untern Teil des zerlumpten Beinkleides in die Höhe.
»Sie haben nichts gebrochen. erklärte Jane nach sorgsamer Untersuchung, das sind nur Schmerzen an Muskeln, die beim Ausgleiten zu stark gedehnt wurden. In einer Viertelstunde wird es mit Ihnen besser gehen.«
Ohne an die Gefahr zu denken, der sie sich damit aussetzte, daß sie im Bereich der kurz vorher so drohenden Hände blieb, suchte sie dem Verletzten nach Möglichkeit zu helfen. Sie massierte ihn verständig, rieb ihn tüchtig ab und setzte ihm, so gut es ging, eine Art Schröpfköpfe unter Benützung des Becherchens, das oben auf ihre Prospektoren-Feldflasche geschraubt war... ein Arzt hätte nicht zweckmäßiger vorgehen können. Die guten Folgen dieser Behandlung ließen auch nicht lange auf sich warten. Mochten ihre Eingriffe auch zuweilen etwas schmerzhaft sein, so bildeten sie doch nur das kleinere Übel. Bald atmete der Verletzte wieder ruhiger. Eine halbe Stunde später konnte er, wenn auch noch nicht stehen, doch mit dem Rücken, an einem Felsblock gelehnt, aufgerichtet sitzen und auf die Fragen der barmherzigen Samariterin Antwort geben.
»Wer sind Sie?... Wie heißen Sie?« fragte Jane.
Der Blick des Elenden drückte nur noch ein starkes Erstaunen aus. Daß dieses Kind, das er hatte töten wollen, jetzt sein Retter wurde, warf alle seine Gedanken über den Haufen. Mit zögernder, fast furchtsamer Stimme antwortete er:
»Ich heiße Patrick Richardson.
– Sie sind Engländer... oder Amerikaner?...
– Nein, Irländer.
– Prospektor?
– Nein, mein Herr, ich bin meines Zeichens Schmied.
– Warum haben Sie denn Ihre Heimat verlassen, Ihren Beruf aufgegeben?
– Keine Arbeit... nur Elend... kein Brot...
– Und ist es Ihnen hier besser gegangen?
– Leider nicht.
– Sie haben wohl keinen Claim gefunden?
– Wie hätte ich nach einem solchen suchen sollen? Ich verstehe mich auf dergleichen nicht.[188]
– Was hatten Sie denn dann vor?
– Ich wollte meine Arme vermieten, bei der Arbeit helfen.
– Nun... und?...
– Bemüht hab' ich mich darum. Die Claims sind jetzt alle mit Arbeitskräften versorgt.
– Und wohin wollten Sie, als Sie mir begegneten?
– Mehr nach dem Osten, wo ich vielleicht mehr Glück hätte.
– Doch warum trachteten Sie mir vorhin nach dem Leben?
– O... immer eine und dieselbe Ursache: ich sterbe vor Hunger, sagte Patrick Richardson, die Augen niederschlagend.
– Ach, der Arme!« murmelte Jane für sich.
Nach kurzem Stillschweigen holte sie einige Nahrungsmittel aus ihrem Rucksack.
»Da... eßt etwas... armer Mann,« sagte sie.
Patrick Richardson kam ihrer Aufforderung nicht sogleich nach. Mit trüber und trüber werdenden Augen betrachtete er das Kind, das ihm so unerwartet zuhilfe kam. Der Unglückliche weinte.
»So essen Sie doch,« wiederholte Jane.
Der schwächlich gewordene Koloß wartete jetzt nicht auf eine nochmalige Einladung, sondern fiel begierig über die ihm dargebotene Nahrung her.
Während er aß, sah sich Jane ihren unerwarteten Genossen noch näher an. Offenbar war es ein Habenichts, dieser Patrick Richardson. Die weit abstehenden Ohrmuscheln, der fast wie bei dem eines Negers deutlich hervortretende Prognathismus des Gesichts wiesen offenbar auf eine unverbesserliche geistige Inferiorität hin. Trotz seiner vorher beabsichtigten Gewalttätigkeit brauchte er ja aber noch kein eigentlicher Bösewicht zu sein. Jane hatte unzweifelhaft einen der vielen vom Schicksal Enterbten vor sich, etwas wie ein Strandgut der Großstädte, jener elenden Geschöpfe, die eine unversöhnliche Bestimmung immer wieder dahin zurückschleudert, woher sie gekommen waren. Seine dicken Lippen verrieten doch eine gewisse Gutmütigkeit und seine blauen Augen hatten einen sanften, fast naiven Blick. Vielleicht war es heute das erste Mal, daß ihm eine selbstlose Teilnahme auf seinem Lebenspfade begegnete.
Als Patrick sich gestärkt hatte, war Jane über ihren nächsten Beschluß klar geworden.
»Wenn's Ihnen recht ist, begann sie, ihn scharf ansehend, nehme ich Sie in meine Dienste.[189]
– Sie...
– Warum nicht? Sie erhalten täglich zehn Dollars, das ist der landesübliche Lohnsatz. Bezahlen werde ich Sie freilich erst später, wenn ich etwas Gold gesammelt habe... eher kann ich es nicht. Inzwischen stehe ich, als eine Art Abzahlung, für Ihre vollständige Ernährung ein und werde Ihnen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auch neue Kleidung besorgen. Passen Ihnen diese Bedingungen?«
Patrick ergriff Janes Hand und drückte sie an seine Lippen. Einer andern Antwort bedurfte es nicht. Das war kein Diener, den Jane in seiner Person haben würde, sondern ein Sklave, fast ein folgsames Tier.
»Jetzt, nahm sie wieder das Wort, brauchen Sie notwendig etwas Schlaf. Ich werde ein Lager von dürren Blättern zurecht machen, worauf Sie sich ausstrecken können. Morgen wird von Ihrem Unfalle nicht mehr die Rede sein.«
Am nächsten Tage konnte Patrick, nachdem er noch einmal massiert worden war, wirklich schon früh am Morgen mit weiterwandern. Nur zuweilen verzog er das Gesicht noch vor Schmerz, wenn eine unwillkürliche Bewegung gewisse Rücken- oder Beinmuskeln mehr als sonst in Anspruch nahm. Auf die Schulter seines Herrn gestützt, gelang es ihm jedoch, ohne übermäßig zu leiden, den Pfad wieder zurückzugehen und die Straße zu erreichen. Wahrlich, es war ein seltsames Schauspiel, diesen Koloß, der schon mehr an einen mächtigen Bären erinnerte, von einem Jüngling geführt und unterstützt zu sehen, der die Schwäche seiner Muskeln durch unbesiegliche Energie ausglich.
Der Marsch verlieh den Gliedern Patricks nach und nach wieder die frühere Elastizität und bald schlug das merkwürdige Paar eine schnellere Gangart ein. Kurz vor der Mittagsstunde wurde zu einem Frühstück Halt gemacht. Janes bemächtigte sich freilich einige Unruhe, als sie sah, wie der Begleiter ihre Vorräte arg verschwinden ließ. Dieser große Körper war ein Abgrund, den zu füllen nicht leicht fallen würde.
Gegen Abend stießen beide auf eine neue, rechts von der Straße mündende Schlucht. Jane und Patrick drangen in den, die früher gesehenen an Breite überragenden Einschnitt ein und folgten ihm bis zum Strome hinunter.
Mit der Annäherung an diesen nahm die Schlucht an Größe nur noch zu. Ihre Breite mochte am Fuße der Seitenhöhen wohl fünfhundert Meter betragen. Hier war ihre Bodenfläche deutlich in zwei Stufen geteilt, eine höhere, sozusagen stromauf- und eine niedrigere stromabwärts, und zwar durch einen lotrecht zum[190] Creek stehenden und fast genau horizontalen Felsendamm, der, aus dem Talweg der Schlucht aufragend, am Ufer des Wasserlaufs in einem etwa zehn Meter hohen Sporn auslief. Jane betrachtete prüfend die untere Stufe, nach der der Zufall sie geführt hatte.
Die regelmäßige Bodensenkung in diesem Teile der Schlucht war es, die hinter sich den stromaufwärts steilen Felsendamm bildete. Der Erdboden war hier von vielen, an Brunnenschächte erinnernden und zum Teil wieder von Schutt und Geröll ausgefüllten Vertiefungen durchlöchert und rings umher lagen Reste von Goldwäschergerätschaften verstreut. Offenbar war hier die Stelle eines frühern Claims.
Daß man diesen aufgegeben und verlassen hatte, stand außer allem Zweifel. Der Zustand der Schächte und der Geräte bewies das handgreiflich und überdies bezeichnete auch kein numerierter Pfahl die Grenze. Immerhin konnte es, da hier die gröbste Arbeit schon geleistet war, interessant sein, eine Wiederausbeutung aufzunehmen, und Jane beschloß deshalb, hier ihren ersten Versuch zu wagen.
Als am nächsten Tage die notwendigsten Geräte (Eimer, Schüsseln, Schöpfnäpfe u. a.) in der Nachbarschaft, und zwar zu recht hohem Preise, eingekauft waren, ging Patrick unter ihrer Leitung daran, einen der Schächte auszuräumen, und noch keine vierundzwanzig Stunden später begann er daraus hervorgeholten Sand auszuwaschen, während Jane die geeigneten Schritte tat, die Grenzpfähle aufstellen zu lassen und sich das Eigentum an dem Claim zu sichern.
Diese Formalitäten waren in weniger als drei Tagen erledigt, doch schon als man die Grenzen ihres Claims festlegte, der die Nummer 127b erhielt, mußte sie sich sagen, daß dieser Claim, wenn er überhaupt erzhaltig war, doch nur eine verschwindend kleine Menge Gold enthielte und daß sie kaum Aussicht hätte, hier eine Ernte von Pepiten zu machen. Trotz eifriger Arbeit Patricks konnten beide, jedenfalls infolge ihrer Unerfahrenheit, in vierundzwanzig Stunden höchstens hundert Schüsseln auswaschen, deren Ausbeute dann von jeder nur wenig über den Wert eines Zehnteldollars betrug. Das reichte gerade hin, den angenommenen Helfer zu entlohnen und ihren persönlichen Unterhalt zu bestreiten. Wenn sich die Verhältnisse nicht besserten, mußte sie zu Ende des Sommers noch ebenso arm sein wie bei dessen Anfang.
Hatte sie nun unrecht daran getan, sich an dieser Stelle festzusetzen? Hätte sie nicht weiter hinausziehen und die Grenze überschreiten sollen, von der sie,[191] nach den bei ihrem Konzessionsgesuche erhaltenen Mitteilungen, höchstens fünf- bis sechshundert Meter trennten?
Jane hatte aber auch noch etwas andres erfahren. Sie kannte jetzt den Namen des Wasserlaufs, der an einer Seite ihren Claim begrenzte, wo sie sich in dem rauhen Gewerbe der Prospektorin versuchte, den Namen Forty Miles, das heißt desselben Creeks, an dem auch, dem ihren ziemlich nahe, der Claim 129 lag, der jedenfalls hinter dem die Schlucht im Südwesten abschließenden Hügel zu suchen war.
Ob sie nun eine unbestimmte Hoffnung leitete oder nur die einfache Hartnäckigkeit, das einmal begonnene Vorhaben auch durchzuführen, jedenfalls wollte Jane sich nicht für besiegt bekennen, ehe sie bis zum äußersten gekämpft hätte, und mehr als je strengte sie sich an, so viel wie möglich von den Schüsseln auszuwaschen, die ihr doch nur einen so dürftigen Ertrag lieferten.
Eines Nachmittags – es war am 11. Juni – war sie ebenso wie Patrick mit der gewohnten Arbeit so eifrig beschäftigt, daß sie die übrige Welt völlig vergaß, als sie urplötzlich von einer ihr bekannten Stimme angerufen wurde.
»Ist's mir erlaubt, mein Fräulein, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen?
– O... Herr Skim! rief sie, errötend vor angenehmer Überraschung, die sie gar nicht zu verbergen suchte.
– Ja, er selbst, sagte Summy, indem er warm die ihm dargebotene Hand drückte.
– Ich... ich befinde mich vortrefflich, Herr Skim, fuhr Jane fort.
– Und wie steht es mit Ihrem Claim, wertes Fräulein, denn wie ich sehe, haben Sie sich einen solchen erworben.
– Ja, da muß ich Ihnen gestehen, Herr Skim, daß ich von dem gar nicht entzückt bin, gab Jane ganz wohlgemut zu; der liefert mir auf jede Schüssel nur zehn bis zwölf Cents... kaum genug, meine Unkosten zu decken.
– Das ist freilich traurig genug, sagte Summy, den ein solches Unglück übrigens gar nicht tiefer zu berühren schien. Was haben Sie denn nun beschlossen?
– Ja, eigentlich noch gar nichts Bestimmtes, erklärte Jane, vielleicht weiterzugehen, jedenfalls diesen schlechten Claim aufzugeben, der mir mehr gekostet hat, als er wert ist, und zu dem mich nur ein unglücklicher Zufall hingeführt hat.
– Ein Zufall? wiederholte Summy verwundert. Sie wissen also nicht, daß unser Claim dicht neben dem Ihrigen liegt?[192]
– O doch, freilich erst seit wenigen Tagen. Als ich aber zuerst hier Halt machte, hatte ich keine Ahnung davon, daß das hier der Forty Miles Creek wäre und daß Ihr Besitztum an der andern Seite des Hügels dort läge.
– Nein doch! stieß Summy etwas enttäuscht hervor.
– Warum aber sollten Sie, mein Fräulein, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, aus diesem Zufall – da es doch nun reiner Zufall ist – keinen Nutzen zu ziehen suchen? Mir scheint es, ehe Sie sich tiefer in die Einöde Alaskas hineinwagen, doch angezeigt, zunächst die Stelle, die Sie zuerst gewählt haben, gründlichst zu untersuchen. Meine Unterstützung biete ich Ihnen dazu nicht an, denn ich bin in solchen Dingen zu unerfahren; etwa fünfhundert Meter von hier weilt aber mein Vetter Ben Raddle, wie Sie wissen, ein Ingenieur, und einer, wie man ihm nicht alle Tage begegnet. Wenn es Ihnen also paßte...
– Ein guter Rat ist allemal willkommen und ich werde den des Herrn Ben Raddle mit Vergnügen annehmen. Wenn er meinen Claim untersucht hat, wird er ja selbst beurteilen können, was von demselben zu erhoffen ist.
– Das ist also abgemacht. Doch nun, mein Fräulein, erlauben Sie mir noch eine Frage, wenn sie Ihnen nicht zu indiskret erscheint.
– Das wird sie jedenfalls nicht sein, versicherte Jane im voraus.
– Nun, ich sehe hier keine Spur von einem Unterkunftshäuschen. Wo schlafen Sie denn in der Nacht?
– Ach... höchst einfach: unter Gottes freiem Himmel, antwortete Jane lachend. Ein Lager von dürrem Laube, ein Kopfkissen von Sand... da schlummert sich's prächtig!«
Summy Skim sah sie mit großen Augen an.
»Unter freiem Himmel! rief er. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, bestes Fräulein, es ist ja eine Unklugheit sondergleichen!
– Warum nicht gar! erwiderte Jane. Ich habe ja zwei Leibwächter, Herr Skim.
– Zwei Leibwächter?
– Hier ist der eine, erklarte Jane, während sie auf den in ihrem Gürtel steckenden Revolver hinwies, und dort der andre,« setzte sie hinzu, auf Patrick Richardson zeigend. der aus einiger Entfernung den Ankömmling voller Erstaunen betrachtete.
Summy schien davon nur halb befriedigt zu sein.[193]
»Der Wilde dort? entgegnete er. Groß genug ist er zwar, Sie beschirmen zu können, doch das ist nicht die Hauptsache. Sie würden weit besser tun, nach beendigtem Tagewerke den Hügel da zu übersteigen und die Gastfreundschaft anzunehmen, die wir, mein Vetter und ich, uns glücklich fühlen würden, Ihnen anzubieten.«
Jane schüttelte ablehnend den Kopf.
»Sie tun unrecht. mein Fräulein, redete Summy ihr zu, Sie tun wirklich unrecht. Glauben Sie mir, es wäre bei uns sichrer, und wenn wirklich nicht wesentlich sichrer, so doch wenigstens...
– Nun, doch wenigstens passender,« stieß Summy Skim, auf die Gefahr hin, das junge Mädchen zu verletzen, hervor.
Jane Edgerton runzelte die Augenbrauen. Welches Recht hatte Summy Skim zu solcher Rede? Sie wollte schon eine spitze Antwort geben und den ungebetenen Berater mit einem ihrer Schlagworte über die Gleichberechtigung der Geschlechter in seine Schranken zurückweisen... und doch wagte sie es augenblicklich nicht. Summy, der es vermied, ihr gerade ins Gesicht zu sehen, hatte einen merkwürdigen, halb verlegnen, halb ärgerlichen Ausdruck im Gesicht, der ihr zu denken gab. Um ihre Lippen spielte noch ein spöttisches Lächeln, das sie aber schnell unterdrückte, während sie ihm die Hand entgegenstreckte.
»Ja, Sie haben recht, Herr Skim, sagte sie ernst. Ich nehme die Gastfreundschaft an, die Sie so gütig sind, mir gewähren zu wollen.
– Bravo, rief Summy erfreut. In diesem Falle, beweisen Sie, bitte, Ihre Güte auch noch weiter: Beschließen Sie Ihre Arbeit heute etwas früher und ma chen von unsrer Gastfreundschaft unverzüglich Gebrauch. Ihre bisherigen Erlebnisse erzählen Sie mir unterwegs und morgen kommt Ben, Ihren Claim zu untersuchen.
– Wie Sie wollen, gab Jane ohne Widerstreben zu und rief nur noch nach Patrick.
– Herr Jean? antwortete der Irländer.
– Hören Sie mit der Arbeit für heute auf. Wir gehen nach dem Claim 129.
– Schön, Herr Jean.
– Nehmen Sie die Werkzeuge zusammen und gehen voraus.
– Jawohl, Herr Jean,« antwortete der folgsame Patrick, der, mit Eimern, Schüsseln, Spitzhauen und Schaufeln beladen, nach dem Hügel voranschritt.[194]
Jane und Summy folgten zwanzig Schritt hinter ihm.
»Herr Jean? fragte da Summy. Der hält Sie also für einen Mann?
– Wie Sie sehen, Herr Skim, infolge meiner Goldgräbertracht.«
Summy betrachtete den breiten Rücken des vor ihm gehenden Riesen.
»Das ist ja ein reines Tier!« erklärte er mit sichtbarer Überzeugung, ohne recht zu wissen, woher ihm diese kam. Jane aber schlug dabei ein helles Gelächter auf.
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro