Elftes Kapitel.
Von Dawson City nach der Grenze.

[165] Bill Stell hatte den beiden Vettern einen guten Rat erteilt, als er ihnen empfahl, sich zu beeilen. Sie hatten wirklich keinen Tag zu verlieren, ihre Angelegenheit irgendwie zu ordnen. In dieser hohen Breitenlage tritt die arktische[165] Kälte oft überraschend schnell ein. Schon hatte der Monat Juni angefangen und es ist keine Seltenheit, daß Flüsse und Seen bereits gegen Ende August wieder erstarren und Schneegestöber und Stürme über das Land fegen. Drei Monate, länger dauert die schöne Jahreszeit in Klondike nicht, und die beiden Vettern mußten ja auch noch genügend Zeit behalten, über das Seengebiet nach Skagway zurückzugelangen oder, wenn sie einen andern Weg einschlugen, auf dem Yukon von Dawson City nach St. Michel hinunterzufahren.

Ben Raddle und Summy Skim waren bald zum Aufbruche fertig. Es fehlte ihnen an nichts, selbst wenn sich der Aufenthalt am Claim 129 länger, als sie vorausgesehen hatten, ausdehnte. Übrigens brauchten sie Betriebsmaterial weder zu erwerben noch solches mitzunehmen, da sich das von Josias Lacoste ja noch an Ort und Stelle vorfinden mußte, ferner brauchten sie keine Hilfskräfte zu suchen, da ja nicht davon die Rede war, den Claim am Forty Miles Creek selbst zu bearbeiten.

Einen landeskundigen Führer anzuwerben, erschien aber immerhin geboten. Der Scout, der für die Rückreise zum Lindemansee in Dawson City einen andern seiner Lotsen angetroffen hatte, bot ihnen Neluto als Führer an. Ben Raddle ging ohne Zögern darauf ein und sagte Bill Stell noch wärmsten Dank für sein Entgegenkommen.

Eine bessere Wahl hätte man schwerlich treffen können. Die Vettern hatten den Indianer ja bei seiner Arbeit beobachtet und waren überzeugt, in jeder Hinsicht auf ihn zählen zu können, außer daß der Mann vielleicht nicht gar zu eingehende Aufklärung zu geben vermochte.

Zu ihrem Fortkommen hatte Ben Raddle einen leichten Wagen gewählt statt eines Schlittens, der hier von Hunden gezogen wird, selbst wenn Eis und Schnee schon verschwunden sind. Diese Tiere waren nämlich jetzt außerordentlich teuer: man mußte sie das Stück mit fünfzehnhundert bis zweitausend Francs bezahlen.

Der mit einem ledernen Verdeck zum Aufschlagen und Niederklappen versehene zweisitzige Wagen, von so zuverlässiger Bauart, daß er die Schwankungen und Stöße unterwegs voraussichtlich ohne Beschädigung aushalten mußte, wurde mit einem kräftigen Pferde bespannt. An Futtervorrat für das Tier brauchte man nicht zu denken, denn längs des Weges lag Wiese an Wiese und in dieser Jahreszeit mit reichlichem Graswuchs, so daß sich ein Pferd weit leichter als ein Hund ernähren ließ.[166]

Auf die Bitte Ben Raddles besichtigte Neluto den Wagen mit größter Sorgfalt. Er nahm dabei aber eine fast ängstliche Untersuchung vor. Kutschkasten, Gabeldeichsel, Verdeck, Federn, alles wurde geprüft bis auf den letzten Bolzen. Als er fertig war, machte Neluto ein recht befriedigt aussehendes Gesicht.

»Nun, wie steht's damit? fragte ihn Ben Raddle.

– Wenn er unterwegs nicht zerbricht, antwortete der Indianer mit dem Brustton innerster Überzeugung, denke ich, wird er uns wohl bis zum Claim Nummer 129 bringen.

– Danke, danke schön, braver Mann!« rief Ben Raddle, während er eine unbesiegliche Lust zu lachen kaum zu unterdrücken suchte.

Der stets umsichtige Neluto gab ihm aber noch verschiedne nützliche Hinweise bezüglich der Gegenstände, deren Mitnahme ratsam erschien, und schließlich gewann der Ingenieur auch die Überzeugung, daß es ihnen nun an nichts mehr fehlen werde.

Inzwischen vertrieb sich Summy Skim die Zeit damit, daß er prüfend durch die Straßen von Dawson City schlenderte. Er sah sich die Läden an und war bemüht, den Preis der verschiednen Waren kennen zu lernen. Wie beglückwünschte er sich aber da, seine Einkäufe bei den Händlern in Montreal besorgt zu haben!

»Weißt du, Ben, was hier in der Hauptstadt von Klondike ein Paar Schuhe kosten?

– Keine Ahnung, Summy.

– Fünfzig bis neunzig Francs.

– Und ein Paar Strümpfe?

– Zehn Francs. Nicht mehr.

– Und wollene Socken?

– Sagen wir: zwanzig Francs.

– Nein, fünfundzwanzig. – Und ein Paar Hosenträger?

– O, die kann man entbehren, Summy.

– Und tut auch gut daran... achtzehn Francs.

– Na, wir werden ja keine kaufen.

– Und ein Paar Frauenstrumpfbänder?

– Die mögen kosten, was sie wollen; das läßt mich kalt.

– Vierzig Francs, und ein Kleid bei der guten Schneidermamsell seine vollen neunhundert Francs. Wahrlich, in dieser Stadt ohnegleichen hat man den größten Vorteil davon, Hagestolz zu bleiben.[167]

– Bleiben wir auch, antwortete Ben Raddle. Du müßtest gerade auf den Einfall kommen, eine reiche Erbin heimzuführen...

– O, Ben, an reichen Partien fehlt es hier keineswegs... vor allem nicht an Abenteurerinnen, die ertragreiche Claims an der Bonanza oder am Eldorado besitzen. Doch nein: als Junggeselle von Montreal angekommen, kehre ich auch als solcher zurück. Ach, Montreal... Montreal! Wie weit sind wir davon entfernt, lieber Ben!

– Die Entfernung, die zwischen Dawson City und Montreal liegt, antwortete Ben Raddle mit leichter Ironie, ist ja genau gleich der zwischen Montreal und Dawson City. Das weißt du doch wohl, Summy?

– Ja, gewiß, bestätigte Summy Skim; damit ist aber nicht gesagt, daß sie klein wäre.«

Die beiden Vettern wollten Dawson City nicht verlassen, ohne sich im Krankenhause von Edith Edgerton zu verabschieden. Diese kam, als ihr der Besuch der Herren gemeldet worden war, sofort ins Sprechzimmer herunter. Sie sah in ihrer Pflegeschwesterntracht wirklich wunderhübsch aus. Wie sie so hereintrat in grauem Wollkleide mit blendend weißer Latzschürze darüber, die in regelmäßigen Falten herunterfiel, die Haare schlicht geordnet und von mathematisch genauer Linie gescheitelt, die Hände zart, weiß und sorgfältig gepflegt... hätte man in ihr kaum die unermüdlich tätige Samariterin erkannt, die der Doktor Pilcox so lyrisch geschildert hatte.

»Ah, mein wertes Fräulein, fragte sie Ben Raddle, gefällt es Ihnen denn in der neuen Tätigkeit?

– Man liebt immer den Beruf, der einem den Lebensunterhalt gewährt, antwortete Edith einfach.

– Hm... Hm! summte Ben Raddle, als wäre er davon kaum überzeugt. Nun, Sie sind also zufrieden, das ist ja die Hauptsache. Der Doktor Pilcox wird auch nicht müde, Ihr Lob zu verkünden.

– O, der Doktor ist zu gut, erwiderte die junge Krankenpflegerin. Ich hoffe, mit der Zeit Besseres leisten zu können.«

Da mischte sich Summy in das Zwiegespräch.

»Und Ihre Cousine, mein Fräulein, haben Sie von ihr etwas gehört?

– Nein, nicht das geringste, erklärte Edith.

– Sie hat also ihr Vorhaben wirklich ausgeführt? fuhr Summy fort.

– War das nicht von Anfang an beschlossen?[168]

– Doch was erhofft sie denn davon? rief Summy in plötzlich aufwallender und unerklärlicher Erregung. Was wird aus ihr, wenn sie, wie es so gut wie gewiß ist, nur einen Mißerfolg in ihrem etwas widersinnigen Unternehmen hat?

– O, dann bin ich immer noch da, sie aufzunehmen, antwortete Edith ruhig. Im schlimmsten Falle reicht, was ich verdiene, auch für uns beide.

– Dann sind Sie also, rief Summy höchst aufgeregt, beide entschlossen, sich in Klondike für immer fest zusetzen, hier gleichsam Wurzel zu schlagen...


Neluto hätte sein Pferd nicht zu einer schnelleren Gangart bringen können. (S. 175.)
Neluto hätte sein Pferd nicht zu einer schnelleren Gangart bringen können. (S. 175.)

– O, keineswegs, Herr Skim, denn wenn Jane Erfolg hat, werde auch ich von ihrer Arbeit Vorteil haben.

– Eine herrliche Kombination! Sie könnten sich also auch entschließen, Dawson wieder zu verlassen?

– Warum denn nicht?... Ich liebe zwar den Beruf, der mich ernährt, doch von dem Tage an, wo ich seiner nicht mehr bedürfte, würde ich mir einen andern, natürlich einen angenehmern, wählen.«

Alles das sprach sie ganz gelassen und mit einer Sicherheit aus, die jeden Widerspruch erstickte. Auf eine solche ruhige und auf alle höhern Ansprüche verzichtende Lebensauffassung ließ sich eben nichts erwidern, und Summy machte auch keinen Versuch dazu.

Wenn er sich übrigens versucht gefühlt hätte, einen letzten Einwand zu erheben, so würde sich der Doktor Pilcox dem doch entschieden widersetzt haben. Sobald der Arzt von der nahe bevorstehenden Abreise der beiden Vettern gehört hatte, widmete er diesen seine wärmsten Glückwünsche zu der interessanten Reise, die sie eben antreten sollten, und dann sattelte er wieder sein Steckenpferd und pries die Schönheiten seines geliebten Klondike.

Summy verzog den Mund. Er... er liebte Klondike nicht, o nein, er nicht.

»Das würde sich schon finden, versicherte der Doktor, wenn Sie nur Gelegenheit hätten, es auch im Winter zu sehen.

– Ich hoffe, diese Gelegenheit nicht zu bekommen, entgegnete Summy, der das Gesicht noch mehr verzog.

– O, wer weiß das!«

Die Zukunft wird uns zeigen, ob Summy Skim recht oder unrecht hatte, die Antwort des Arztes nicht ernst zu nehmen.

Am 8. des laufenden Monats wartete der Wagen schon seit fünf Uhr früh vor dem Tore des Northern-Hotels. Die Mundvorräte und das kleine Lagermaterial[171] waren schon darauf untergebracht. Das Pferd wieherte in seiner Gabeldeichsel und Neluto thronte auf dem Kutschersitze.

»Ist alles richtig verladen, Neluto?

– Alles, Herr Raddle, alles...

– Dann in Gottes Namen vorwärts, befahl Ben Raddle.

– Es müßte denn ein Paket im Hotel zurückgelassen worden sein!« vollendete der Indianer seine Rede mit der ihm angebornen Vorsicht.

Ben Raddle unterdrückte einen Seufzer der Resignation.

»Nun, hoffen wir wenigstens, daß nichts vergessen worden ist, sagte er noch, als er den Wagen bestieg.

– Und daß wir nach zwei Monaten in Montreal zurück sein müssen,« setzte Summy mit der Hartnäckigkeit eines Leitmotivs hinzu.

Die Strecke zwischen Dawson City und der Grenze beträgt hundertsechsundvierzig Kilometer. Da der Claim Nummer 129 unmittelbar an der Grenze lag, mußte es, bei Zurücklegung von ein Dutzend Lieues in vierundzwanzig Stunden, dreier Tage bedürfen, ihn zu erreichen.

Neluto teilte die tägliche Fahrstrecke so ein, daß das Pferd nicht über Gebühr angestrengt wurde. Jeder Tag zerfiel da in zwei Etappen: Die erste von sechs bis elf Uhr vormittags, darauf eine zweistündige Rast, die zweite von ein Uhr nachmittags bis sechs Uhr abends, und dann wurde das Lager für die Nacht aufgeschlagen. In dem sehr unebnen Lande konnte man nicht mehr verlangen.

Jeden Abend wurde im Schutze von Bäumen ein Zelt errichtet, wenn Ben Raddle und Summy Skim nicht zufällig ein Zimmer in einer Gastwirtschaft an der Straße fanden.

Die beiden ersten Fahrstrecken wurden unter recht günstigen Verhältnissen zurückgelegt. Das Wetter hielt sich schön. Eine leichte Brise trieb von Osten her einige hochschwebende Wolken heran und das Thermometer stieg bis auf zehn Grad über Null. Der Erdboden erhob sich oft zu mittelmäßigen Hügeln, deren größter noch keine tausend Fuß Höhe erreichte. Anemonen, Krokusse, Wacholder und andre Blütenpflanzen bedeckten die Abhänge in voller Frühlingspracht. Im Grunde der Schluchten erhoben sich Fichten, Pappeln, Weiden und Tannen in dichten Gruppen.

Summy Skim war mitgeteilt worden, daß es längs der Straße an Wild nicht fehle und daß in diesem Teile Klondikes sogar Bären öfters vorkämen.[172]

Ben Raddle und er hatten deswegen auch ihre Jagdgewehre mitgenommen, fanden aber keine Gelegenheit, sie zu benützen.

Die Gegend war auch keineswegs menschenleer. Da und dort sah man Goldgräber in den Claims an den Bergen beschäftigt, in Fundstätten, von denen einzelne für den Tag und den Mann bis zu tausend Francs Ausbeute gaben.

Am Nachmittag erreichte der Wagen das Fort Reliance, einen zu dieser Jahreszeit besonders belebten Flecken. Einst von der Hudsonbai-Gesellschaft zur Erwerbung von Pelzfellen und zur Verteidigung gegen raublüsterne Indianerstämme gegründet, hatte das Fort Reliance, wie so viele Anlagen ähnlicher Art, seine frühere Bestimmung völlig verloren. Seit der Entdeckung der Goldlager hat sich die frühere Militärstation zu einer großen Proviantniederlage verwandelt.

In Fort Reliance trafen die beiden Vettern mit dem Major James Walsh, dem Generalkommissar für das Yukongebiet, zusammen, der eben auf einer Inspektionsreise begriffen war.

Der Major, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, war ein vortrefflicher Verwaltungsbeamter, als welcher er hier seit zwei Jahren fungierte. Der Gouverneur der Dominion hatte ihn hierher zu der Zeit beordert, wo die Goldlagerstätten anfingen, von tausenden von Auswandrern überschwemmt zu werden, ohne daß ein Abflauen dieses Zuzugs bemerkbar gewesen wäre.

Ein angenehmer Auftrag war das für James Walsh keineswegs. Da galt es, über Konzessionen endgültig Beschluß zu fassen, Claims abzugrenzen und zu verteilen, Grundsteuern einzutreiben und auf gute Ordnung in einem Landesteil zu halten, zu dem die Indianer gegen die Einwandrung Einspruch erheben und sich ihr zuweilen sogar tatsächlich widersetzen... kurz, Tag für Tag neue Schwierigkeiten und neue Ärgernisse.

Zu diesen nie aufhörenden Mißhelligkeiten kam jetzt noch die Streitfrage bezüglich des 141. Längengrades, eine Streitfrage, die ohne eine nochmalige Triangulation nicht zu lösen war. Gerade wegen dieser Angelegenheit verweilte der Major James Walsh hier in dem westlichsten Teile von Klondike.

»Wer hat denn diese Frage aufgeworfen, Herr Walsh? fragte Ben Raddle.

– Natürlich die Amerikaner, erklärte der Kommissar. Sie behaupten, daß die Vermessung zu der Zeit, wo Alaska zu Rußland gehörte, nicht mit der nötigen Genauigkeit ausgeführt worden sei. Die durch den hunderteinundvierzigsten Längengrad dargestellte Grenze müsse, ihrer Anschauung nach, etwas weiter nach[173] Osten verschoben werden, wodurch den Vereinigten Staaten die meisten an den linken Zuflüssen des Yukon gelegenen Claims zufallen würden.

– Und folglich auch der Claim Nummer 129, äußerte Summy Skim, den wir von unserm Onkel Josias Lacoste geerbt haben.

– Ja freilich. Sie, meine Herren, wären die ersten, die gegebnen Falles den Bodenherrn wechseln müßten.

– Ist denn, Herr Major, fuhr Summy Skim fort, Aussicht vorhanden, daß die Berichtigungsarbeit bald beendigt wird?

– Darüber, erklärte Walsh, kann ich Ihnen, meine Herren, weiter nichts sagen, als daß die zu der Neuvermessung ernannte Kommission ihre Tätigkeit vor einigen Wochen begonnen hat. Wir rechnen darauf, daß die Grenze zwischen den beiden Staaten noch vor Eintritt des Winters endgültig festgelegt sein werde.

– Ihre Worte, Herr Kommissar, begann jetzt Ben Raddle, lassen annehmen, daß hier in früherer Zeit ein Fehler vorgekommen ist und daß die Grenze jetzt wirklich in der angegebenen Weise verlegt werden müsse.

– O nein, Herr Raddle. Nach allen mir zugegangnen Berichten scheint die ganze Sache auf weiter nichts hinauszulaufen als auf einen grundlosen Streit, den einige amerikanische Syndikate gegen die Dominion angezettelt haben.

– Ja, wir würden aber immerhin genötigt sein, sagte Summy Skim, unsern Aufenthalt hier mehr als gewünscht zu verlängern. Das ist erst recht unangenehm.

– Ich, versicherte der Kommissar, ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, die Arbeit der Landvermesser zu fördern. Diese wird nur zuweilen durch den bösen Willen einzelner Claimbesitzer nahe der Grenze gehemmt, am meisten durch den Inhaber des hunderteinunddreißigsten Claims.

– Einen Texaner Namens Hunter, sagte Ben Raddle.

– Ganz recht. Sie haben schon von ihm reden gehört, nicht wahr?

– Auf der Fahrt von Vancouver nach Skagway ist mein Vetter mit ihm in Berührung, vielleicht in eine recht unsanfte Berührung gekommen.

– Dann seien Sie auf Ihrer Hut! Der Texaner ist ein gewalttätiger, roher Bursche. Er hat einen Landsmann, einen gewissen Malone, bei sich, der, was man so hört, auch nicht mehr taugt als er.

– Ist dieser Hunter, fragte Ben Raddle, einer von denen, die die Grenzberichtigung beantragt haben, Herr Walsh?

– Ja freilich. Er ist in der Sache die schlimmste Triebfeder.[174]

– Welches Interesse aber hat er dabei?

– Das, etwas weiter von der Grenze zu sitzen und so der unmittelbaren Beaufsichtigung durch unsre Polizisten zu entgehen. Er ist es, der die Inhaber der Goldlagerstätten zwischen dem linken Ufer des Yukon und der gegenwärtigen Grenze aufgehetzt hat. All diese Schmugglergesellschaft würde es lieber sehen, zu dem nachlässiger verwalteten Alaska als zur Dominion zu gehören. Ich wiederhole Ihnen aber: ich bezweifle stark, daß die Amerikaner von der Sache Vorteil haben werden, und dem Hunter werden alle seine Winkelzüge nichts nützen. Jedenfalls kann ich Ihnen jedoch nur empfehlen, mit Ihrem Nachbar so wenig wie möglich in Beziehung zu treten; das ist ein Abenteurer schlimmster Sorte, mit dem meine Polizei schon mehr als einmal zu tun gehabt hat.

– Fürchten Sie in dieser Hinsicht nichts, Herr Kommissar, antwortete Summy Skim. Wir sind nicht nach Klondike gekommen, den Schlamm des Claims 129 auszuwaschen, sondern nur, um ihn zu verkaufen. Sobald das geschehen ist, schlagen wir, ohne uns noch einmal umzuwenden, den Weg nach dem Chilkoot, nach Vancouver und nach Montreal wieder ein.

– Und ich wünsche Ihnen dazu glückliche Reise, antwortete der Kommissar, der sich nun von den bei den Vettern verabschiedete. Wenn ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann, so rechnen Sie auf mich.«

Am nächsten Tage rollte der Wagen polternd weiter. Der Himmel sah weniger schön aus als am Tage vorher. Mit einem scharfen Nordwestwind fielen ein paar tüchtige Regenschauer. Unter dem Schutze des Wagenverdecks hatten die beiden Vettern davon aber nicht besonders zu leiden.

Neluto hätte sein Pferd nicht zu einer schnelleren Gangart bringen können. Der Erdboden wurde sehr holperig. Tiefe, jetzt von dem Eise, das sie im Winter gefüllt hatte, befreite Radspuren verursachten oft furchtbare Stöße, die der Wagen und das Pferd davor gleichmäßig fühlten.

Die Umgebung war waldreich... immer Fichten, Weiden, Pappeln und Espen. An Holz konnte es den Goldgräbern sowohl zum eignen Gebrauch als auch zum Absteifen und Ausplanken der Claims auf lange Zeit hinaus nicht fehlen. Übrigens enthält dieser Teil des Bezirks außer Gold noch Steinkohlenlager. Etwa fünf Kilometer vom Fort Cudahy, am Coal Creek, ferner dreizehn (amerikanische) Meilen von da, am Cliff Creek, endlich neunzehn Kilometer von hier am Flatte Creek, hat man Ablagerungen einer vorzüglichen Kohle gefunden, die nur fünf Prozent Asche hinterläßt. Schon früher hatte man Kohle im[175] Becken der Five Fingers geschürft und diese ersetzte sehr vorteilhaft das Holz, von dem die Dampfer von geringerer Größe in der Stunde eine Tonne (1000 kg) verbrannten. Das kann für den Bezirk noch einmal eine Einnahmequelle bilden, wenn die Goldlager erschöpft sein sollten.

Am Abend dieses Tages, also am Ende der zweiten, übrigens recht anstrengenden Fahrstrecke, erreichten Neluto und seine Begleiter das Fort Cudahy am linken Yukonufer. Hier wurde ihnen von dem Führer der örtlichen Polizeitruppe eine Herberge gezeigt, wenn auch nicht gerade empfohlen; vielleicht bevorzugten sie aber doch eine Stube darin gegenüber ihrem Zelte.

Als Summy Skim diese Mitteilung erhalten hatte, wendete er sich, um noch Auskunft über einen ihm offenbar am Herzen liegenden Punkt zu bekommen, an den Führer der Polizeimannschaft. Ob dieser, fragte er, in den letzten Tagen nicht hätte eine Frau durch Fort Cudahy kommen gesehen?

»Ob ich eine Frau hier durchkommen gesehen habe, mein Herr? rief der Leutnant laut auflachend. Nein, eine nicht, wohl aber ein Dutzend oder gar ein Hundert Frauen. Viele Goldsucher schleppen ein ganzes Gefolge mit sich und Sie können sich wohl vorstellen, daß unter einer solchen Anzahl...

– Ach, fiel ihm Summy ins Wort, die, die ich meine, gehört zu einer ganz besondern Art: sie ist selbst eine Prospektorin, Herr Leutnant, und ich glaube nicht, daß solche hier zu Dutzenden umherlaufen.

– Da irren Sie doch, mein Herr, entgegnete der Leutnant. Es fehlt auch an solchen nicht. Hinter der Jagd nach den gelben Klümpchen sind die Frauen ebenso hitzig her wie die Männer.

– Was Sie sagen! rief Summy. Unter solchen Umständen... verstehe ich...

– Man könnte immerhin versuchen, hierüber Näheres zu erfahren. Wenn Sie mir ein Signalement der Sie interessierenden Persönlichkeit geben wollen...

– Es handelt sich um ein noch junges Mädchen, erklärte Summy, kaum zweiundzwanzig Jahre alt. Sie ist etwas klein, tief brünett und sehr hübsch.

– Wahrlich, gestand der Leutnant, ein solches Signalement ist in unsrer Gegend eine Seltenheit! Sie sagen: ein junges Mädchen... brünett... von kleiner Statur... und hübsch obendrein, die sollte in der letzten Zeit hier durchgekommen sein...«

Der Polizeileutnant durchflog vergebens seine Erinnerungen.

»Nein... einer solchen entsinne ich mich nicht, antwortete er schließlich.[176]

– Sie wird einen andern Weg eingeschlagen haben, die arme Kleine, sagte Summy traurig. Ich danke Ihnen aber dennoch, Herr Leutnant.«

Die Nacht verging so leidlich und am andern Tage, am 10. Juni, setzte sich der Wagen sehr frühzeitig wieder in Bewegung.

Vom Fort Cudahy aus strömt der Yukon weiter nach Nordwesten bis zu einem Punkte, wo er den hunderteinundvierzigsten Meridian – so wie dieser auf den Karten jetzt eingezeichnet ist – schneidet. Was den, wie sein Name andeutet, vierzig (amerikanische) Meilen, das sind 64 km, langen Forty Miles Creek betrifft, so wendet der sich nach Südwesten und ebenfalls der Grenze zu, die ihn in zwei fast genau gleiche Hälften teilt.

Neluto hoffte am heutigen Abend die Stelle zu erreichen, die der Claim Josias Lacostes einnahm. Das Pferd, das von den beiden Marschtagen übrigens nicht besonders ermüdet aussah, hatte er deshalb etwas reichlicher mit Futter versorgt. Mußte es sich einmal bis zum Äußersten anstrengen, so konnte das Tier das jedenfalls schadlos leisten und dann würde es ja am Claim Nummer 129 die ganze Zeit ausruhen können.

Um drei Uhr Morgens, als Ben Raddle und Summy Skim das einfache Gasthaus verließen, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel; nach wenigen Tagen trat ja die Sonnenwende ein und da verschwand sie nur für ganz kurze Zeit unter dem Horizonte.

Der Wagen folgte an der rechten Seite des Forty Miles Creek dessen stark gewundnem Ufer, das hie und da von Hügeln eingerahmt wurde, zwischen denen sich tiefe Schlünde öffneten. Das Land hier war keineswegs öde... überall arbeiteten Leute in den vielen Claims. An jeder Uferbiegung, an der Mündung der seitlichen Hohlwege erhoben sich Pfähle, die die Grenzen der Placers bezeichneten und in großen Ziffern deren Nummer angaben. Besonders vollendete Arbeitsgeräte fand man hier kaum, nur da und dort Maschinen, die von Menschenkraft bewegt, und nur wenige darunter, die durch abgeleitetes Wasser aus einem Creek getrieben wurden.

Die meisten Prospektoren arbeiteten, gewöhnlich durch wenige gemietete Gehilfen unterstützt, sozusagen im Tagebau am Lande oder auf einer Sandbank, wo sie den Schlamm aus flachen Höhlungen schöpften. Alles vollzog sich in merkwürdiger Stille, wenn diese nicht gelegentlich durch den Freudenschrei eines Goldgräbers unterbrochen wurde, der eine wertvollere Pepite gefunden hatte.[177]

Die erste Rast an diesem Tage dauerte von zehn Uhr bis zu Mittag. Das Pferd weidete auf einer nahegelegenen Wiese und Ben Raddle und Summy Skim konnten ihre Pfeife rauchen, nachdem sie sich an einem aus Konserven und Zwieback bestehenden Frühstück gestärkt und dieses mit ein paar Tassen Kaffee beendigt hatten.

Neluto brach ganz kurz vor der Mittagsstunde auf und trieb das Zugtier tüchtig an. Wenige Minuten vor sieben Uhr erblickte man dann in geringer Entfernung den Pfahl des Claims 129.

In diesem Augenblicke erhob sich Summy Skim, der die in Nelutos Händen ruhenden Zügel erfaßte, im Wagen, der jetzt anhielt.

»Dort!... Dort!«... rief er und wies mit der Hand nach einer langen und tiefen Schlucht, die längs eines steilen Abhangs bis zum Bette des Creeks herunterreichte.

Die beiden andern folgten mit den Blicken der angegebnen Richtung und ganz unten an der Schlucht bemerkten sie, wegen der Entfernung freilich nur undeutlich, eine Erscheinung, die ihnen wie »schon bekannt« vorkam. Es war das ein Prospektor, soweit man es von hier aus beurteilen konnte, einer von kleinerer Statur und eifrig beschäftigt, den Sand aus einem Schöpfbrunnen auszuwaschen. Ein andrer Mann, ein wirklicher Riese, arbeitete an seiner Seite. Beide waren von ihrer Beschäftigung so eingenommen, daß sie diese nicht einen Augenblick unterbrochen hatten, als der Wagen auf der Straße anhielt.

»Wahrhaftig... man sollte glauben..., murmelte Summy.

– Was... was denn? fragte Ben Raddle ungeduldig.

– Nun... Gott verzeih' mir's... Jane Edgerton, Ben!«

Ben Raddle zuckte mit den Schultern.

»Du träumst wohl ein bißchen?... Wie könntest du jemand so weithin erkennen? Übrigens hatte Jane Edgerton, so viel ich weiß, keinen Begleiter oder Gehilfen. Und was berechtigt dich überhaupt zu der Annahme, daß der eine dieser Prospektoren eine Frau wäre?

– Das weiß ich selbst nicht, antwortete Summy zögernd. Es scheint mir aber, als ob...

– Mir scheint es, als ob es zwei Goldsucher, Vater und Sohn, wären. Daran ist kaum zu zweifeln; doch frage einmal Neluto darüber.«

Der Indianer hielt die Hand als Blendschirm vor die Augen.

»Das ist eine Frau, erklärte er mit Entschiedenheit nach längerem Hinblicken.[178]

– Na, da siehst du's ja! rief Summy triumphierend.

– Oder ein Mann,« fuhr Neluto mit derselben Sicherheit fort.

Summy ließ entmutigt die Zügel los und der Wagen rollte weiter. Neluto setzte seine Betrachtung noch eine Weile fort.

»Zu verwundern wär's ja auch nicht, wenn das ein Kind... oder z. B. ein junges Mädchen wäre,« sagte er halb für sich.

Der Wagen bewegte sich schnell weiter; bald war er über die letzte Grenzscheide gekommen und hielt nun auf dem Platze des hundertneunundzwanzigsten Claims still.

»... oder vielleicht ein Knabe oder ein junger Bursche,« ließ Neluto, um keine Möglichkeit außer acht zu lassen, sich noch vernehmen.

Ben Raddle und Summy Skim hörten aber gar nicht mehr auf den Mann. Jeder an seiner Seite sprangen sie in demselben Augenblick aus dem Wagen und nach einer Reise von zwei Monaten und neun Tagen betraten sie endlich den Boden des Claims Nummer 129.

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 165-169,171-179.
Lizenz:

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