Sechstes Kapitel.
Auf dem Wege zum Ziele.

[315] Fast genau unter 135 Grad westlicher Länge und 67 Grad der Breite gelegen, war das Fort Macpherson jenerzeit der vorgeschobenste Posten, den die Hudsonbai-Gesellschaft in Nordamerika besaß. Es beherrschte das ganze Gebiet, das von den zahlreichen Flußarmen, die sich am Mündungsdelta des Mackensie am Arktischen Eismeere verzweigen, erfüllt wird. Hier machten die Pelzjäger stets die reichlichste Beute, mußten sich aber auch oft gegen Indianertrupps verteidigen, die auf den Ebenen im Norden der Dominion umherziehen.

Das am rechten Ufer des Peel River errichtete Fort hielt sich so viel wie möglich in steter Verbindung mit dem Fort Good Hope, das stromaufwärts am Ufer des Mackensie liegt. Die erbeuteten Felle wurden vom ersten zum zweiten geschafft und von hier aus unter sichrer Begleitung nach der Hauptniederlage der Handelsgesellschaft befördert.

Das Fort Macpherson besteht in der Hauptsache aus einem großen Magazin, über dem das Zimmer des Oberagenten, der Wohnraum für dessen Leute und ein Schlafsaal mit Feldbetten nebeneinanderliegen. Der Schlafsaal kann etwa zwanzig Personen aufnehmen. Unten befinden sich noch Stallungen, wo die Pferde- und Maultiergespanne eingestellt werden können. Die benachbarten Wälder liefern das nötige Brennholz, um gegen die strenge Kälte des Winters zu schützen.

An solchem Holze fehlte es nicht und wird es auch nach einer längern Jahresreihe noch nicht fehlen. Nahrungsmittel werden jeden Sommer regelmäßig durch die Proviantkolonnen der Gesellschaft hergeschafft, abgesehen von dem, was Jagd und Fischfang zur Vermehrung der Vorräte liefern.

Das Fort Macpherson wird von einem Oberagenten verwaltet, der gegen zwanzig aus Kanada und Britisch-Kolumbien gebürtige Soldaten, tüchtige, einer strengen Disziplin unterworfene Leute unter sich hat.

Das Leben hier ist freilich recht rauh, eine natürliche Folge der Unwirtlichkeit des Klimas und der dauernden Gefahr, von einer Bande von Abenteurern, die in der menschenleeren Einöde umherirren, jeden Augenblick überfallen zu werden.[315]

Das Waffengestell ist deshalb auch reichlich mit Gewehren und Revolvern versehen und die Gesellschaft läßt es sich angelegen sein, die Munition so zeitig zu erneuern, daß es dem Posten daran niemals fehlt.

Gerade als die Gesellschaft Ben Raddles am Fort Macpherson eintraf, hatten der Oberagent und seine Leute einen Alarm erlebt.

Wenige Tage vorher, am Morgen des 25. Mai, war vom Wachtposten die Annäherung einer aus dreißig bis vierzig Mann, meist Indianern, bestehenden Truppe gemeldet worden, die am rechten Ufer des Peel River herauszog.

Wie für solche Fälle gebräuchlich, wurde das Tor des Forts Macpherson zunächst fest verschlossen. Ohne Ersteigung der Mauern konnte dann niemand in dessen Inneres eindringen.

Als die Fremdlinge am Tore angelangt waren, verlangte einer von diesen, der der Führer oder Hauptmann zu sein schien, die Erlaubnis, einzutreten. Der Oberagent begab sich auf die Umfassungsmauer und besichtigte die Draußenstehenden, die ihm vielleicht nur ein Zufall zugeführt hatte. Die Prüfung mochte ihm aber nichts Gutes ergeben und die Truppe ihm verdächtig vorkommen, jedenfalls antwortete er, daß niemand den Platz betreten dürfe.

Daß sein Urteil richtig gewesen war, sollte sich bald zeigen. Von draußen hörte man Drohungen und wilde Flüche. Der Oberagent erkannte auch, daß die Bande außer den Indianern aus Südamerikanern, d. h. aber aus Leuten bestand, die immer zu den schlimmsten Gewalttätigkeiten neigen.

Die Abenteurer ließen es auch nicht bei Worten bewenden, sie gingen zu Taten über. Ob sie sich nun bloß verproviantieren wollten oder die Absicht hatten, sich des Forts Macpherson, dieses wichtigen Stützpunktes an der Mündung des Mackensie, zu bemächtigen, jedenfalls versuchten sie, das Tor zu sprengen. Dasselbe widerstand jedoch ihrem Angriffe und nach einer Gewehrsalve des Postens, die mehrere verwundete, entfernten sich die Angreifer in der Richtung nach Nordwesten, doch nicht ohne auf die Agenten der Gesellschaft gefeuert zu haben, von denen glücklicherweise keiner getroffen wurde.

Nach diesem Zwischenfalle war jedoch ein erneuter Angriff zu gewärtigen und die Besatzung des Forts Macpherson hielt sich deshalb Tag und Nacht zur Abwehr bereit.

Und verdiente sie denn keine Anerkennung, scharf Wache gehalten zu haben, als fünf Tage später, am 30. Mai, ein neuer Trupp gemeldet wurde, der, am rechten Flußufer herankommend, sich offen auf das Fort zu bewegte?[316]

Groß war natürlich das Erstaunen der Karawane des Scout – denn diese war es – als sie auf der Mauerbekrönung ein Dutzend bewaffneter Männer auftauchen sah, die ihr befahlen, sich zu entfernen.

Der Oberagent überzeugte sich jedoch bald, daß er es hier mit Kanadiern zu tun hatte, und – ein besonders glücklicher Umstand – es ergab sich, daß er und Bill Stell alte Bekannte von der Zeit her waren, wo beide in der Miliz der Dominion gedient hatten.

Da sprang das Tor des Fort Macpherson weit auf und die Karawane zog nach dem innern Hofe, wo ihr der freundlichste Empfang zuteil wurde.

Der Oberagent gab nun eine Erklärung ab über sein Auftreten bei der Annäherung der Fremden und erzählte, daß nur wenige Tage vorher eine Rotte Amerikaner und Indianer gegen das Fort feindlich vorgegangen wären, daß sie hätten das Tor erbrechen wollen und daß man genötigt gewesen wäre, sie mit Flintenschüssen zu vertreiben. Was die rohen Burschen eigentlich beabsichtigt hätten, wußte freilich niemand; nach deren Auftreten war die Vorsicht der Besatzung aber jedenfalls berechtigt.

»Was ist denn dann aus der Rotte geworden? fragte der Scout.

– Nachdem sie uns erfolglos beschossen hatte, antwortete der Oberagent, ist sie ihres Weges weitergezogen.

– Und in welcher Richtung?

– In der nach Nordwesten.

– Da wir auf dem Wege nach Norden sind, sagte Ben Raddle, ist es ja wahrscheinlich, daß wir nicht mit ihr zusammentreffen.

– Das wünsche ich Ihnen wenigstens, antwortete der Oberagent, denn die Bande schien mir aus dem Auswurf der schlimmsten Sorte zu bestehen.

– Wo mögen die Burschen also wohl hinziehen? erkundigte sich Summy Skim.

– Jedenfalls suchen sie neue Goldlager auf, denn sie waren mit allem Hilfsgerät von Prospektoren versehen.

– Haben Sie wohl davon reden gehört, daß es in diesem Teile der Dominion noch solche Lagerstätten gibt? fragte jetzt Ben Raddle.

– O gewiß, versicherte der Oberagent. Es handelt sich nur darum, sie zu finden.«

Mehr wußte der Oberagent nicht anzugeben; er machte nicht die leiseste Anspielung auf den Golden Mount, der doch nicht mehr weit von Fort Macpherson liegen konnte.[317]

Ben Raddle empfand das als eine Befriedigung. Er zog es vor, daß Jacques Leduns Geheimnis noch niemand bekannt wäre. Anderseits machte das einen gegenteiligen Eindruck auf Summy Skim, der das Vorhandensein des reichen Goldbergs noch immer bezweifelte. Um hierin etwas klarer zu sehen, fragte er den Oberagenten, ob im Norden wohl Vulkane vorkämen. Dieser erklärte davon noch nie reden gehört zu haben, und diese Antwort machte Summy Skim natürlich von neuem stutzig.

Der Scout begnügte sich, seinem Regimentskameraden mitzuteilen, daß die Karawane eben zur Aufsuchung von Goldlagern nach der Mündung des Mackensie ziehe, und fügte hinzu, es sei ihr nach dem Marsche von einem vollen Monate recht erwünscht, wenn sie zwei bis drei Tage im Fort Macpherson ausruhen könnte, vorausgesetzt, daß man ihr gern Aufnahme gewährte.

Das Gesuch Bill Stells wurde ohne weiteres bewilligt. Gerade jetzt beherbergte das Fort nur seine regelmäßige Garnison, die Jäger wurden erst nach einem Monate erwartet. Es mangelte also nicht an Platz und die Karawane konnte ohne Belästigung andrer bequem Unterkommen finden.

Ben Raddle sprach dem Oberagenten seinen herzlichen Dank für die gute Aufnahme aus und vor Ablauf einer Stunde war die Unterbringung der Leute und des Materials der Karawane beendet.

Die drei Tage verliefen in vollkommener Ruhe und kein Zwischenfall störte den Aufenthalt der Karawane in Fort Macpherson. Als die Stunde zum Aufbruch schlug, hatten sich alle bestens erholt und waren freudigen Herzens bereit, weiterzuziehen.

Am Morgen des 2. Juni ordnete sich die kleine Gesellschaft wieder unter der Leitung des Scout, der mit seinem aufrichtigen und wohlverdienten Danke gegen den Oberagenten und dessen Leute nicht geizte, und dann setzten sich alle längs des rechten Ufers des Peel River in Bewegung.

Ben Raddle, Summy Skim und Jane Edgerton hatten ihren Platz in dem von Neluto geführten Wagen wieder eingenommen; die andern Gespanne folgten unter Führung des Scout. Das jetzt zu durchmessende Land kannte dieser nicht, da seine frühern Fahrten ihn niemals über Fort Macpherson hinausgeführt hatten. Er konnte sich jetzt also nur an das halten, was der Ingenieur über diese Gegend wußte. Die Karte mit dem darauf eingetragnen Golden Mount, wie Jacques Ledun dessen Lage bestimmt hatte, ließ erkennen, daß der Weg von Fort Macpherson aus vom Peel River etwas nach links abweichen mußte.[318]

Zu Mittag wurde an einem Rio vor dem Saum eines Tannenwaldes Halt gemacht; die Tiere ließ man auf einer nahe liegenden Wiese weiden. Die Luft wurde durch einen leichten Nordwestwind erfrischt und über den Himmel zogen vereinzelte Wolken hin.

Ringsumher war flaches Land; erst weit im Osten wurde der Blick durch die ersten Höhen der Felsengebirge aufgehalten Die bis zum Golden Mount zurückzulegende Strecke, nach der Karte kaum mehr als zweihundert Kilometer, konnte unter diesen Verhältnissen und wenn keine unvorhergesehene Verzögerung eintrat, höchstens fünf bis sechs Tage in Anspruch nehmen.

Bei einem Gespräch während der Mittagsrast äußerte da der Scout:

»Na, mein Herr Summy, da wären wir ja am Ziele der Reise; bald werden wir nur noch an die Rückfahrt zu denken haben.

– Eine Reise, lieber Bill, antwortete Summy, ist erst zu Ende, wenn man wieder zwischen seine vier Pfähle eintritt, und was besonders diese hier betrifft, so halte ich sie erst für beendet an dem Tage, wo sich die Tür unsres Hauses in der Jacques-Cartierstraße hinter uns geschlossen haben wird.«

Bill ließ den Gegenstand fallen. Ben Raddle wechselte einen vielsagenden Blick mit Jane Edgerton. Summy war entschieden unverbesserlich.

Nicht weniger als dreier Tage bedurfte es für die Karawane, den Zusammenfluß des Peel River mit dem Mackensie zu erreichen, wo sie am Nachmittag des 5. Juni eintraf.

An dem ebnen Ufer des Stromes boten die langen Marschstrecken keine besondern Hindernisse. Das Land war öde; kaum begegnete man einzelnen Gruppen jener Indianer, die am Delta des Großen Stromes dem Fischfang zum Lebensunterhalt obliegen. Die Bande, von der der Oberagent des Forts Macpherson gesprochen hatte, wurde – und der Scout beglückwünschte sich deshalb – nicht getroffen.

»Hübsch allein am Golden Mount ankommen, sagte er wiederholt, und ebenso allein zurückkehren, das ist für uns doch das Beste.«

Er beobachtete in dieser Beziehung auch alle mögliche Vorsicht. Drei seiner Leute marschierten stets als Kundschafter vor und neben der Karawane und während der Ruhestunden wurde die Umgebung des Lagers sorgsamst überwacht, um gegen jede Überraschung geschützt zu sein. Diese Vorsichtsmaßregeln waren bisher überflüssig gewesen und der Karawane war jeder gefährliche Zusammenstoß bis zu dem Augenblicke erspart geblieben, wo sie den Mackensie erreichte.[319]

Die Mündung des Großen Stromes bildet ein ungeheures hydrographisches Netz, das in der Neuen wie in der Alten Welt wohl kaum seinesgleichen findet.

Fünfzig Kilometer vor der Ausmündung in den Ozean teilt sich schon der Mackensie in der Form eines Fächers; seine einzelnen Wasserläufe sind noch durch viele Seitenarme miteinander verbunden, die dann bei der strengen Winterkälte eine einzige große Eisfläche bilden. In der jetzigen Jahreszeit schmolzen die letzten Trümmer des Eisganges schon im Polarmeere und der Peel River trug keine einzige Scholle mehr zu diesem hinunter.

Bei Betrachtung der komplizierten Anordnung des Mackensiedeltas kann man leicht auf den Gedanken kommen, daß sein westlicher Hauptarm eigentlich der Peel River selbst sei, der mit dem östlichen Arme durch viele Kanäle verknüpft wäre.

Wie dem auch sein mag, ob der westliche Arm eine Fortsetzung des Peel River oder ein Zweigstrom des eigentlichen Mackensie ist, jedenfalls mußte die Karawane auf dessen linkes Ufer hinübergelangen, weil der Golden Mount nach seinen Koordinaten nicht mehr fern von diesem Ufer an der Küste des nördlichen Eismeeres liegen sollte.

Zum Glück hatte der Strom jetzt keinen hohen Wasserstand und es gelang dem Scout, darin eine Furt zu entdecken. Der Übergang konnte also, freilich nicht ohne große Schwierigkeiten, während des Haltes am 5. Juni bewerkstelligt werden.

Das nahm den ganzen Nachmittag in Anspruch und als es zu dunkeln anfing, befanden sich Bill Stell und seine Gefährten alle auf dem andern Ufer.

Am nächsten Tage, am 6. Juni, gab Bill Stell schon um drei Uhr früh das Signal zum Aufbruch. Seiner Meinung nach mußten drei Tage bequem genügen, bis zur Küste vorzudringen. Die Karawane würde sich dann in Sicht des Golden Mount befinden, wenn die Angaben der Landkarte einigermaßen genau waren. Doch selbst einen kleinen Irrtum Jacques Leduns bezüglich der Länge und Breite angenommen, mußte der Berg doch sichtbar sein, da er jedenfalls seine Umgebung überragte.

Längs des westlichen Armes des Großen Stromes kam die Gesellschaft ohne nennenswerte Hindernisse vorwärts; nur das Wetter war nicht mehr so günstig. Von Norden her jagten die Wolken schnell über den Himmel hin und wiederholt kam es zu strömendem Regen. Der Marsch wurde hierdurch etwas verlangsamt und der Aufenthalt die Nacht über ziemlich unbehaglich. Alle ertrugen jedoch[320] gern diese Unannehmlichkeiten, die angesichts des lockenden Zieles jedem leicht erschienen.

Ein glücklicher Umstand war es, daß die Karawane nicht gezwungen war, durch das hydrographische Netz des Deltas zu ziehen. Selbst der Scout fragte sich, wie sie das hätten überwinden sollen. So viele Rios ohne seichte Durchgangsstellen zu überschreiten, hätte die Gesellschaft in die ärgste Verlegenheit gebracht. Ja sie wäre vielleicht gezwungen gewesen, vorläufig einen Teil des Materials liegen zu lassen, um es später zu holen.

Als am 8. Juni am Abend angehalten wurde, konnte die Küste nur noch sieben bis acht Lieues entfernt sein und so hoffte man, sie am folgenden Tage bestimmt zu erreichen.

Ben Raddle hielt jetzt die Stunde für gekommen, wo er seinen Gefährten den eigentlichen Zweck der Reise kundgeben sollte.

Er erzählte also die Geschichte Jacques Leduns und wiederholte die vertraulichen Mitteilungen des unglücklichen Franzosen dem ganzen um ihn versammelten Trupp von Prospektoren.

Das erregte einen rauschenden Ausbruch von Freude.

Alle Blicke wendeten sich gegen Norden, in Erwartung, den Gipfel des Golden Mount schon zu erblicken. Selbst wenn der nur in fünf- bis sechshundert Fuß Höhe lag, mußte er in dieser Entfernung schon sichtbar sein.

Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel, leider zogen aber am Horizonte Dünste herauf und die ungeduldigen Augen konnten nichts erkennen.

Natürlich hatte sich des ganzen Personals der Karawane eine hochgradige Nervosität bemächtigt und darunter vor allem Ben Raddles, der schon so lange seiner fixen Idee nachgehangen hatte, die sich nun in wenigen Stunden verwirklichen oder zu einem Traum verflüchtigen mußte.

Jane Edgerton teilte die innere Erregung des Ingenieurs. Beide konnten sich kaum mehr an Ort und Stelle halten. Hätte der Scout sie nicht einigermaßen zu Vernunft gebracht, so wären sie gleich noch in der Finsternis davongelaufen.

»Aber zum Henker, Ben, so beruhige dich doch! Fassen Sie sich, Fräulein Jane, mahnte Summy Skim eindringlich. Geduldet euch bis morgen. Wenn's einen Golden Mount gibt, werdet ihr ihn schon an seiner Stelle finden. Er läuft doch, zum Teufel, nicht davon und es ist recht unnütz, unser Lager in der Nacht zu verlassen, um wenige Stunden eher zu wissen, woran man ist.«[321]

Ein weiser Rat, der auch von Bill Stell unterstützt wurde. Noch immer war ein schlimmes Zusammentreffen zu befürchten, entweder mit Indianern oder mit Rotten von Abenteurern von der Art, wie solche das Fort Macpherson angegriffen hatten.

Die Nacht verstrich in unveränderter Weise. Als der Tag anbrach, hatten sich die Dunstmassen noch nicht zerstreut. Selbst auf zwei Kilometer weit wäre der Golden Mount nicht sichtbar gewesen.

Mit mürrischen Gesichtszügen und gefurchter Stirn ging Ben Raddle, der sich kaum noch halten konnte, hin und her.

Summy Skim empfand trotz seiner natürlichen Gutmütigkeit eine Art boshafter Freude über den Unmut des »Tyrannen«, der ihn so unendlich weit von Green Valley verschleppt hatte.

»Immer wüte nur, du alter Junge, wüte nur zu, murmelte er für sich. Wenn der Golden Mount nicht existiert, kannst du ihn auch nicht sehen, das liegt auf der Hand!«

Summy beging bei diesem von gesundem Menschenverstand zeugenden Gedanken, der seine unheilbare Zweifelsucht bewies, nur den Fehler, daß er ihn etwas zu nahe bei Jane Edgerton vor sich hinmurmelte. Diese warf ihm einen strafenden Blick zu, bei dem der schadenfrohe Philosoph bis zu den Ohrläppchen errötete.

Summy versuchte, seinen Schnitzer wieder gutzumachen.

»Wenn er aber existiert, fuhr er eiligst fort, wird man ihn sehen, sobald sich das Wetter aufklärt... das liegt auf der Hand.«

Und wie zur Bekräftigung des zweiten Satzes wiederholte er noch lauter:

»Ja, das liegt auf der Hand!«

Um zu erfahren, ob ihm verziehen wäre, streifte er mit einem Seitenblick das junge Mädchen. Da erlitt er aber die Beschämung, daß diese sich gar nicht mehr um ihn zu kümmern schien.

Das Lager wurde um vier Uhr morgens aufgehoben. Es war schon heller Tag und die Sonne stand bereits mehrere Grade über dem Horizonte. Man merkte sie hinter der Dunstwand, die ihre Strahlen nicht zu durchbrechen vermochten.

Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung. Gegen elf Uhr war die Küste nur noch drei Lieues entfernt. Der Golden Mount blieb noch immer unsichtbar.[322]

Summy Skim begann sich schon zu fragen, ob sein Vetter nicht bald überschnappen würde. So viele Beschwerden erduldet, so vielen Gefahren getrotzt zu haben und dann... nur eine Enttäuschung zu erleben!

Kurz vor Mittag wurde die Luft etwas klarer. Die rote Sonnenkugel schimmerte durch die jetzt weniger dichten Dunstmassen. Da ertönte die Stimme Nelutos:

»Dort... dort!... Eine Rauchsäule!« rief er.

Er bedauerte es aber sofort, sich jetzt so bestimmt ausgesprochen zu haben.

»Oder eine Wolke«, sagte er.

Nach einer Sekunde Überlegung setzte er hinzu:

»Oder vielleicht nur ein Vogel!«

Der Lotse überlegte noch immer. Ein Rauch, eine Wolke, ein Vogel... hatte er damit schon alle Möglichkeiten erschöpft? Nein, er konnte noch auf andre Hypothesen kommen. Und vielleicht waren die ebensogut begründet.

»Oder es ist überhaupt nichts!« schloß er zu seiner Befriedigung und um sich in jedem Falle ein ruhiges Gewissen zu bewahren.

Hätte er noch lauter gesprochen, man hätte doch nicht mehr auf seine Worte gehört. Die Karawane schien fast zur Salzsäule erstarrt zu sein... Seelen und Augen wendeten sich nur dem Norden zu.

Auch Ben Raddle starrte, von dumpfer, unbestimmter Unruhe gefoltert, in derselben Richtung hin.

»Ein Rauch? murmelte er. Doch nein, das ist unmöglich, da der Golden Mount nach Jacques Leduns Versicherung ja ein erloschner Vulkan ist.«

Und doch hatte Neluto unrecht, so zaghaft zu sein. Seine erste Hypothese war die richtige.

Der Nebeldunst zerstreute sich mehr und mehr. Bald strahlte die Sonne glänzend an dem mattblauen Himmel und begrüßt von einem Hurrah der Prospektoren, erschien der wunderbare Berg, der Goldvulkan, aus dessen Krater rußige Dünste aufstiegen.[323]

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 315-324.
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