Viertes Kapitel.
Serge Ladko.

[48] Unter den verschiedenen Landgebieten, die seit Beginn der geschichtlichen Periode besonders von kriegerischen Ereignissen heimgesucht worden sind, verdienen – wenn auch kein Land sich schmeicheln kann, davon völlig verschont geblieben zu sein – der Süden und Südosten Europas in erster Linie genannt zu werden. Infolge ihrer geographischen Lage bilden gerade diese Gegenden, mit Einschluß des zwischen dem Schwarzen Meer und dem Indus gelegenen Teile Asiens, den Schauplatz, worauf die konkurrierenden Rassen, die das alte Festland bevölkern, in hitzigen Kämpfen zusammenprallten.

Phönizier, Griechen, Römer, Perser, Hunnen, Goten, Slawen, Magyaren, Türken und manche andre haben einander diese Gebiete im ganzen oder zum teil streitig gemacht, unbeschadet der vielen wilden Horden, die damals nur durch sie hinzogen, um sich in Mittel- und Westeuropa anzusiedeln, wo sich aus ihnen, nach lange fortgesetzter Blutmischung, die modernen Völker entwickelten.

Nicht mehr als ihre tragische Vergangenheit soll ihnen, wenn man gelehrten Propheten glauben darf, die Zukunft lächeln. Ihren Aussagen nach würden sich beim Vordringen der gelben Rasse früher oder später die Metzeleien des grauen Altertums und des Mittelalters wiederholen. Wenn dieser Fall eintritt, werden das südliche Rußland, Rumänien, Serbien, Bulgarien, erstaunt, eine solche Rolle spielen, selbst die Türkei, vorausgesetzt, daß das Reich dieses Namens dann überhaupt noch im Besitz der Osmanen ist, durch die Gewalt der Tatsachen die vorderste Brustwehr Europas zu bilden haben, und auf ihre Unkosten werden die ersten Zusammenstöße stattfinden.

Ehe dieses Unheil, das zweifellos mindestens noch sehr fern ist, hervorbricht, haben sich jedoch die verschiednen Rassen, die im Laufe der Jahrhunderte zwischen dem Mittelländischen Meer und den Karpathen[48] einander gefolgt sind, schließlich, so gut es anging, zusammengedrängt, und der Friede – ach, dieser Friede der sogenannten zivilisierten Nationen! – hatte seine Herrschaft auch nach Westen hin ausgebreitet. Die endemischen Aufstände, Räubereien und Mordtaten schienen sich in Zukunft mehr nur auf die von den Osmanlis beherrschten Staaten beschränken zu sollen.

Zum erstenmale 1356 in Europa aufgetaucht und seit 1453 die Herren von Konstantinopel, stießen die Türken auf die frühern Eindringlinge, die, aus Zentralasien herstammend und schon längst zum Christentum bekehrt, sich mit den einheimischen Völkern vermischt und zu ansässigen Nationen ausgebildet hatten. Bei dem fortwährend wieder aufflackernden Kampfe ums Dasein verteidigten diese jungen Nationen mit Hartnäckigkeit, was sie selbst vorher andern geraubt hatten. Slawen, Magyaren, Griechen, Kroaten und Teutonen setzten dem türkischen Vordringen einen lebenden Wall entgegen der, wenn er auch hier und da etwas zurückweichen mußte, doch nicht völlig gesprengt werden konnte.

Diesseits der Karpathen und der Donau zurückgehalten, waren die Osmanli nicht einmal imstande, sich innerhalb dieser äußersten Grenzen dauernd festzusetzen, und was man die »Orientalische Frage« nennt, ist weiter nichts als die Geschichte ihres Jahrhunderte hindurch fortdauernden Zurückweichens.

Abweichend von den frühern Eroberern, die sie wieder zu ihrem Vorteil zu verdrängen suchten, ist es den asiatischen Muselmanen nie gelungen, sich mit den ihrer Herrschaft unterworfenen Völkerschaften zu assimilieren. Auf Eroberung fußend, sind sie nichts als Eroberer geblieben, die sich als Herren ihrer Sklaven fühlen. Da hier noch der Religionsunterschied hinzukam, konnte eine solche Regierungsweise keine andre Folge haben, als unaufhörliche Aufstände der Besiegten.

Die Geschichte ist in der Tat voller solcher Empörungen, die nach jahrhundertelangen Kämpfen 1875 mit der mehr oder weniger vollständigen Unabhängigkeit Griechenlands, Montenegros, Rumäniens und Serbiens endigten. Die übrigen christlichen Völkerschaften blieben noch nach wie vor der Herrschaft der Anhänger Mohammeds unterworfen.

Diese Herrschaft wurde in den ersten Monaten des Jahres 1875 noch drückender und quälerischer als gewöhnlich. Unter dem Einflusse einer muselmanischen Reaktion, die im Palast des Sultans die Oberhand bekam,[49] wurden die Christen des Ottomanischen Reichs mit Steuern überlastet, mißhandelt, getötet und in jeder Weise gequält. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Zu Anfang des Sommers erhob sich die Herzegowina von neuem.

Schnell rückten patriotische Banden ins Feld, die von vorzüglichen Führern, wie Peko Paulowitsch und Luibibratich befehligt, den gegen sie entsendeten regulären Truppen eine Niederlage nach der andern beibrachten.

Bald verbreitete sich der Aufstand und loderte auch in Montenegro, Bosnien und Serbien auf. Eine neue Niederlage, die die türkischen Truppen im Januar 1876 in den Engpässen der Duga erlitten, entflammte den Mut noch weiter, und auch in Bulgarien begann unter dem Volke eine lebhafte Gärung. Wie immer kam es zuerst zu geheimen Verschwörungen, zu gesetzwidrigen Vereinigungen, denen sich die Jugend des Landes im geheimen voller Begeisterung an schloß.

Bei diesen Zusammenkünften erhoben sich bald manche zu Anführern und sicherten sich ihre Autorität über die mehr oder weniger zahlreichen Anhänger der Sache, indem sich die einen durch ihre Beredsamkeit, andre durch ihre hervorragende Einsicht, und noch andre durch ihren glühenden Patriotismus auszeichneten. In kurzer Zeit hatte jede Abteilung und jede Stadt den ihrigen.

In Rustschuk, einer bedeutenden bulgarischen Stadt am Ufer der Donau und fast genau gegenüber der rumänischen Stadt Giurgiewo, wurde das Führeramt ohne jeden Widerspruch dem Lotsen Serge Ladko anvertraut. Eine bessere Wahl hätte man gar nicht treffen können.

Fast dreißig Jahre alt, von hohem Wuchse, blond wie ein Slawe aus dem Norden, von herkulischer Kraft und ungewöhnlicher Geschmeidigkeit und in allen Körperübungen erfahren, vereinigte Serge Ladko alle Eigenschaften in sich, die ihn wie erwählt zum Führer stempelten. Und was noch mehr war, er hatte auch die moralischen Eigenschaften, die ein solcher braucht: die Kraft des Entschlusses, die Klugheit der Ausführung und die leidenschaftliche Liebe zu seinem Heimatlande.

Serge Ladko war aus Rustschuk gebürtig, wo er das Gewerbe eines Donaulotsen betrieb, und er hatte diese Stadt niemals verlassen, außer wenn es ihm oblag, Jollen und Schuten entweder nach Wien und noch weiter stromaufwärts, oder bis zum Gewässer des Schwarzen Meeres zu[50] geleiten, wobei sich alle Schiffer auf seine gründliche Kenntnis des großen Stromes verließen. War er nicht auf einer solchen – halb Strom-, halb See- – Fahrt begriffen, so widmete er sich zur Unterhaltung dem Fischfange, und unterstützt von außerordentlicher natürlicher Begabung, hatte er sich darin eine große Kunstfertigkeit erworben, so daß seine Ausbeute, im Vereine mit den Lotsengebühren, ihm ein recht auskömmliches Leben sicherte.

Durch seine doppelte Beschäftigung genötigt, vier Fünftel seines Lebens auf dem Strome zuzubringen, war das Wasser ganz zu seinem Elemente geworden. Über die bis Rustschuk wie ein Meeresarm breite Donau zu schwimmen, war ihm eine Kleinigkeit, und man zählte gar nicht mehr, wie viele Personen der vortreffliche Schwimmer gerettet hatte.

Eine so ehrbar und offen daliegende Lebensführung hatte Sergo Ladko in Rustschuk schon lange vor den antitürkischen Unruhen höchst populär gemacht. Unzählig waren seine Freunde, die er nicht einmal alle kannte. Man hätte sogar sagen können, daß die Einwohner der Stadt ohne Ausnahme seine Freunde wären, wenn hier nicht auch ein gewisser Iwan Striga gelebt hätte.

Dieser Iwan Striga war ebenfalls ein Landeskind, wie Serge Ladko, von diesem aber das gerade Gegenteil.

Eigentlich hatten beide gar nichts mit einander gemein, und doch hätte etwa ein Paß, der sich mit allgemeinen Bezeichnungen begnügt, für die Beschreibung beider Männer die gleichen Worte gebraucht.

Wie Ladko war auch Striga von großer Gestalt, mit breiten Schultern und hatte blondes Haar und ebensolchen Bart, sowie blaue Augen. Auf diese allgemeinen Merkmale beschränkte sich aber auch die Ähnlichkeit. Während das Gesicht des einen mit edlen Zügen Herzlichkeit und Freimütigkeit ausdrückte, verrieten die des andern offenbar Hinterlist und kalte Grausamkeit.

Moralisch war die Unähnlichkeit noch weit größer. Während Ladko in einer für jedermann durchsichtigen Weise lebte, hätte niemand sagen können, durch welche Mittel sich Striga das Geld verschaffte, das er, ohne es zu zählen, ausgab. Da man in dieser Hinsicht nichts sicheres mußte, ließ das Volk darüber seiner Phantasie freien Lauf. Man sagte, daß Striga als Verräter seines Landes und seiner Rasse dem türkischen Unterdrücker[51] als Spion diene, man sagte auch, daß er mit seiner verächtlichen Tätigkeit eines Spions bei Gelegenheit die eines Schmugglers verbinde, und daß durch ihn Waren aller Art oft vom rumänischen nach dem bulgarischen Ufer herüberkämen, oder umgekehrt, für die kein Zoll entrichtet worden sei; man sagte sogar mit Schütteln des Kopfes, daß alles das das wenigste wäre und daß Striga sein Haupteinkommen aus gemeinen Betrügereien und Raubanfällen bezöge, man sagte endlich... doch, was sagte man nicht alles? In Wahrheit wußte keiner etwas Bestimmtes über das Tun und Lassen dieses beunruhigenden Mannes, der, wenn alle Vermutungen der Menge begründet waren, wenigstens die seltene Geschicklichkeit besaß, sich nie in seine Karten sehen zu lassen.

Diese Vermutungen vertraute einer dem andern übrigens nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Niemand hätte gewagt, sie laut auszusprechen gegenüber einem Manne, dessen Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit jeder fürchtete. Striga konnte sich deshalb stellen, als ob ihm die Ansichten über ihn ganz unbekannt wären, und der allgemeinen Bewunderung die Hochachtung zuschreiben, die ihm viele aus Feigheit erwiesen; er konnte sich in der Stadt wie in einem eroberten Lande bewegen und sie, im Vereine mit seinen anrüchigsten Genossen, durch seine Skandale und Orgien belästigen.

Es hatte ja nicht den Anschein, daß sich zwischen einem solchen Individuum und Ladko, der ein so ganz andres Leben führte, irgendwelche Beziehungen entwickeln könnten, und tatsächlich kannten sie einander lange Zeit nur soweit, wie einer von dem andern gerüchtweise erfuhr. Logischerweise hätte es immer dabei bleiben müssen. Das Schicksal lächelt aber über das, was wir Logik nennen, und es stand bei ihm geschrieben, daß die beiden Männer einander Auge in Auge gegenüberstehen und die unversöhnlichsten Feinde werden sollten.

Natscha Gregorewitsch, in der ganzen Stadt wegen ihrer Schönheit berühmt, stand im zwanzigsten Lebensjahre. Anfänglich mit ihrer Mutter und später allein, wohnte sie in der Nähe Ladkos, den sie von frühester Kindheit an gekannt hatte. Seit langer Zeit fehlte dem Hause die Hilfe eines Mannes. Fünfzehn Jahre vor dem Beginn dieser Erzählung war der Vater unter den Streichen der Türken gefallen, und die Erinnerung an diesen abscheulichen Mord ließ die unterdrückten, aber nicht bezwungenen[52] Patrioten noch immer vor Abscheu erzittern. Seine Witwe, die nun bloß noch auf sich selbst zählen konnte, hatte sich mutvoll an die Arbeit gemacht. Erfahren in der Kunst des Spitzenklöppelns und der Stickerei, mit deren Erzeugnissen bei den Slawen die bescheidenste Bäuerin ihre wenn auch grobe Tracht zu schmücken liebt, war es ihr gelungen, den Unterhalt für sich und ihre Tochter zu erwerben.

Gerade die Armen haben aber in unruhigen Zeiten oft am schlimmsten zu leiden, und mehr als einmal würde die fleißige Klöpplerin durch die andauernde Gesetzlosigkeit in Bulgarien schwer geschädigt worden sein, wenn Ladko nicht im geheimen für sie eingetreten wäre. Nach und nach entwickelte sich eine größere Vertraulichkeit zwischen dem jungen Manne und den beiden Frauen, die ihm für seine Mußestunden als Junggeselle Unterkunft in ihrem friedlichen Heim boten. Ost klopfte er des Abends an ihre Tür, und dann plauderten sie lange, vereint um den singenden Samowar. Andre Male bot er ihnen für ihre freundliche Aufnahme zur Abwechslung einen Spaziergang oder eine Angelpartie auf der Donau

Als Frau Gregorewitsch, entkräftet von unausgesetzter Arbeit, ihrem Gatten nachfolgte, wandte sich der Schutz Ladkos der hinterlassenen Waise zu. Dieser Schutz wurde allmählich noch aufmerksamer, und... dank ihm hatte das junge Mädchen vom Weggange ihrer armen Mutter, die ihrem Kinde zweimal das Leben gegeben hatte, nicht zu leiden.

So kam es, daß nach und nach und ihnen unbewußt die Liebe im Herzen der beiden jungen Leute erwachte. Erst durch Striga kamen sie dazu, das zu entdecken.

Als dieser die gesehen hatte, die man allgemein »die Rustschuker Schönheit« nannte, erwachte in ihm plötzlich für sie eine Leidenschaft, die ganz seiner zügellosen Natur entsprach. Als ein Mann, der gewöhnt war, alles sich seinen Launen fügen zu sehen, war er bei dem jungen Mädchen eingedrungen und hatte von ihr ohne weiteres verlangt, seine Frau zu werden. Zum erstenmal in seinem Leben begegnete er hier aber einem unbesieglichen Widerstande. Natscha erklärte auf die Gefahr hin, sich den Haß des von allen gefürchteten Mannes zuzuziehen, daß sie nimmermehr eine solche Ehe eingehen würde. Striga wiederholte seine Bewerbung, doch nur um sich beim dritten Male entschieden abgewiesen und zum sofortigen Verlassen der Wohnung aufgefordert zu sehen.[53]

Da kannte sein Zorn aber keine Grenzen. Seiner wilden Natur nachgebend, erging er sich in den gröbsten Verwünschungen, vor denen Natscha erschrak. In ihrer Angst beeilte sie sich, Serge Ladko davon Mitteilung zu machen, den das zu einem gleichen Zornsausbruch erregte, wie den, der ihr erst solche Furcht eingeflößt hatte. Ohne etwas hören zu wollen, wetterte er in den wütendsten Ausdrücken gegen den Mann, der es gewagt hatte, seine Augen auf sie zu erheben.

Ladko ließ sich schließlich jedoch beruhigen. Es folgten nun weitre, ziemlich konfuse Erklärungen, deren Ergebnis aber klar genug war. Eine Stunde später tauschten Ladko und Natscha, den Himmel in den Augen und überquellenden Jubel im Herzen, den ersten Verlobungskuß aus.

Als Striga das erfuhr, kam er vor Wut fast von Sinnen. Alles wagend, erschien er noch einmal, fluchend und drohend in der Wohnung des jungen Mädchens. Von einer Eisenfaust hinausgeworfen, merkte er aber, daß das Häuschen jetzt einen Mann zu seiner Verteidigung hatte.

Besiegt zu sein!... Seinen Meister gefunden zu haben, er, Striga, der doch auf seine Athletenkraft so stolz war, das war eine schlimmere Erniedrigung, als er ertragen konnte, und er beschloß, sich dafür zu rächen. Mit einigen Gesellen seines Schlages lauerte er eines Abends Ladko auf, als dieser vom Ufer des Stromes herauskam. Diesmal handelte es sich nicht um eine einfache Schlägerei, sondern um einen vorsätzlichen Mord. Die Angreifer schwangen schon ihre Messer.

Dieser neue Angriff hatte aber nicht mehr Erfolg als der frühere. Mit einem wuchtigen Riemen aus seinem Boote, den er wie eine Keule gebrauchte, zwang der Lotse seine Gegner zum Rückzug, und Striga, dem er am heftigsten zu Leibe ging, mußte sich durch eine schimpfliche Flucht retten.

Diese Lektion war entschieden hinreichend gewesen, denn sein Feind wagte danach keinen weiteren verbrecherischen Anschlag. Zu Anfang des Jahres 1875 heiratete Ladko die Natscha Gregorewitsch, und seitdem lebten beide in herzlicher Übereinstimmung in dem hübschen Hause des Lotsen.

Inmitten dieses Honigmondes, dessen Glanz auch nach einem Jahre noch nicht verblichen war, fielen jedoch die wichtigsten Ereignisse, die sich in den ersten Monaten von 1876 in Bulgarien abspielten. Die Liebe, die Serge Ladko für seine Gattin empfand, konnte aber, so tief sie auch war,[54] ihn nicht die vergessen lassen, die er seinem Vaterlande schuldete. Ohne Zögern schloß er sich denen an, die sofort zusammentraten, um nach Mitteln zu suchen, die Fesseln des Landes zu sprengen.

Vor allem galt es da, sich mit Waffen zu versehen. Zahlreiche junge Leute verließen zu diesem Zwecke das Land, setzten über den Strom und begaben sich nach Serbien und einzelne nach Rußland. Zu ihnen gehörte auch Ladko.

Das Herz von Kummer zerrissen, doch ohne Zögern seiner Pflicht gehorchend, zog Ladko davon und ließ die, die er anbetete, zurück und allen Gefahren ausgesetzt, die in so unruhigen Zeiten das Weib des Anführers von Parteigängern bedrohen.

Bei seinem Aufbruche erinnerte er sich auch Strigas, und das vermehrte natürlich seine Unruhe. Würde der Schändliche nicht die Abwesenheit seines glücklichen Nebenbuhlers benutzen, ihn in dem zu treffen, was ihm am teuersten war? Das war gewiß möglich. Serge Ladko setzte sich jedoch auch über diese so begründete Befürchtung hinweg. Übrigens schien es, als ob Striga das Land schon seit einigen Monaten und ohne die Absicht einer Rückkehr verlassen hätte.

Den allgemein verbreiteten Gerüchten nach hatte er den Hauptschauplatz seiner Tätigkeit mehr nach Norden verlegt. Was darüber geschwätzt wurde, war freilich zusammenhangslos und voller Widersprüche. Die öffentliche Meinung beschuldigte ihn ohne Prüfung aller Verbrechen, ohne daß jemand das von irgendeinem fest behauptete.

Daß Striga sich entfernt hätte, schien jedoch sicher zu sein, und das war für Ladko allein von Bedeutung.

Die Ereignisse gaben seinem Mute recht: während seiner Abwesenheit bedrohte nichts die Sicherheit der geliebten Natscha.

Kaum heimgekehrt, mußte er jedoch aufs neue fortgehen, und diesmal sollte das länger dauern als das erste Mal. Es hatte sich entschieden gezeigt, daß auf dem zuerst eingeschlagenen Wege Waffen nicht in hinreichender Menge zu beschaffen waren. Was von solchen aus Rußland kam, wurde auf dem Landwege durch Ungarn und Rumänien transportiert, welche Länder damals kaum Eisenbahnen hatten. Die patriotischen Bulgaren hofften nun, ihren Zweck leichter zu erreichen, wenn sich einer von ihnen nach Budapest begäbe, hier die auf dem Schienenwege eingetroffenen Waffen[55] sammelte und damit Fahrzeuge belud, die schnell die Donau hinabschwimmen konnten.

Ladko, der zur Ausführung dieses Vorschlages erwählt wurde, brach noch denselben Abend auf. Mit einem zuverlässigen Begleiter, der das Boot ans bulgarische Ufer zurückschaffen sollte, setzte er über den Strom, um durch Rumänien die Hauptstadt Ungarns so schnell wie möglich zu erreichen. Da ereignete sich ein Zwischenfall, der dem Abgesandten der Verschwörer viel zu denken gab.

Sein Begleiter und er waren kaum fünfzig Meter vom Ufer entfernt, als von hier aus ein Schuß krachte. Die Kugel war zweifellos für sie bestimmt, denn sie pfiff ihnen dicht an den Ohren vorbei, und der Lotse zweifelte keinen Augenblick, in dem beim fahlen Dämmerungsschein erspähten Schützen Striga erkannt zu haben. Der mußte also nach Rustschuk zurückgekehrt sein.

Die tödliche Angst, womit dieser Umstand Ladko erfüllte, konnte dessen Entschluß jedoch nicht erschüttern. Er hatte sich vorher gesagt, dem Vaterlande im Notfalle selbst das Leben zu opfern, ja er hätte ihm, wenn nötig, noch mehr, sein ihm tausendmal kostbareres Glück zum Opfer gebracht. Bei dem Knalle des Schusses hatte er sich auf den Boden des Fahrzeuges sinken lassen. Das war aber nur eine Kriegslist, einen neuen Angriff zu verhindern, und kaum schwieg der Wiederhall von dem Schusse, als er wieder einen Riemen ergriff und das Boot mit kräftiger Hand der rumänischen Stadt Giurgiewo zutrieb, deren Lichter schon bei der einbrechenden Dunkelheit aufblitzten.

An seinem Ziele angelangt, beschäftigte sich Ladko eifrigst mit seinem Auftrag.

Er setzte sich mit den Sendboten der Regierung des Zaren in Verbindung, von denen einige sich an der russischen Grenze, andre heimlich in Budapest und Wien aufhielten. Mehrere durch seine Vorsorge mit Waffen und Munition beladene Schuten glitten bald die Donau hinunter.

Von Natscha erhielt er inzwischen häufig Nachricht durch Briefe, die unter einem von ihm gewählten Decknamen abgesandt und unter dem Schutze der Nacht nach dem rumänischen Gebiete hinüber befördert wurden. Die zuerst recht gut lautenden Nachrichten wurden allmählich doch mehr und mehr beunruhigend, den Namen Strigas erwähnte Natscha dabei jedoch[56] nicht Ihr schien es sogar ganz unbekannt zu sein, daß der Bandit nach Bulgarien zurückgekehrt war, und Ladko begann schon an dem Begründetsein seiner Furcht zu zweifeln. Dagegen war es sicher, daß er selbst bei den türkischen Behörden denunziert worden war, denn die Polizei war in seine Wohnung gedrungen und hatte hier eine, übrigens ergebnislose, Haussuchung vorgenommen.


Vom Ufer aus krachte ein Schuß. (S. 56.)
Vom Ufer aus krachte ein Schuß. (S. 56.)

Er durfte sich also nicht beeilen, nach Bulgarien zurückzukehren, denn das wäre einem wirklichen Selbstmorde gleich gewesen. Man kannte ja seine Rolle, lauerte ihm auf, und er hätte sich nicht in[57] der Stadt zeigen können, ohne beim ersten Schritt verhaftet zu werden. Verhaftet war bei den Türken aber gleichbedeutend mit: verurteilt; Ladko mußte also seine Rückkehr verschieben, bis der Aufstand öffentlich ausgebrochen war, schon weil ihm und seiner Gattin, die bisher von niemand belästigt worden war, die schlimmsten Gefahren drohten.

Bis dahin dauerte es nicht lange. Bulgarien erhob sich schon im Mai, zu frühzeitig nach der Ansicht des Lotsen, der dieser Übereilung verderbliche Folgen prophezeite.

Doch was er darüber auch denken mochte, jedenfalls mußte er seinem Vaterlande zu Hilfe eilen. Ein Bahnzug führte ihn nach Zombor, der letzten nahe der Donau gelegenen Stadt, bis zu der die Geleise reichten. Hier wollte er sich einschiffen und sich dann nur der Strömung überlassen.

Die Nachrichten, die er in Zombor vorfand, zwangen ihn zu einer Unterbrechung der Reise. Seine Befürchtungen hatten sich nur zu sehr bewahrheitet. Die bulgarische Revolution war im Entstehen erstickt worden. Schon versammelte die Türkei zahlreiche Truppen in dem großen Dreieck zwischen Rustschuk, Widdin und Sofia, und ihre eiserne Faust lastete schwer auf den unglücklichen Gegenden.

Ladko mußte umkehren und bessere Tage in der kleinen Stadt abwarten, in der er Aufenthalt genommen hatte.

Die Briefe, die er von Natscha hier bald erhielt, überzeugten ihn von der Unmöglichkeit, einen andern Entschluß zu fassen. Sein Haus wurde schärfer überwacht als je vorher, so daß Natscha sich so gut wie eine Gefangene fühlen mußte. Mehr als je wurde auch er selbst beobachtet, und er mußte sich also im allgemeinen Interesse sorgsam vor jedem unbedachten Schritte hüten.

Untätig lag Ladko jetzt in seinem Zimmer, nachdem die Waffensendungen nach dem Scheitern des Aufstandes und der Ansammlung türkischer Truppen an den Stromufern unterbrochen worden waren. Die an und für sich peinliche Wartezeit wurde ihm aber ganz unerträglich, als jede Nachricht von seiner geliebten Natscha ausblieb.

Er wußte nicht, was er davon denken sollte, und im Laufe der Zeit steigerte sich seine Unruhe zur tödlichsten Angst. Er hatte jetzt in der Tat alles zu fürchten. Am 1. Juli erklärte Serbien dem Sultan offiziell den Krieg, und seitdem wimmelte es im Donaugebiete von Truppen, deren[58] Durchzug immer von schrecklichen Exzessen begleitet war. Gehörte nun vielleicht auch Natscha zu den Opfern dieser Unruhen oder war sie, entweder als Geisel oder als vermutliche Mitschuldige ihres Gatten, von den türkischen Behörden eingekerkert worden?

Nach einem Monate des Schweigens konnte er das nicht mehr ertragen und so entschloß er sich, allem zu trotzen, um nach Bulgarien zurückzukehren und die Ursache dieses Ausbleibens jeder Nachricht zu ergründen.

Schon um Natschas willen mußte er jedoch mit größter Vorsicht zu Werke gehen. Sich törichterweise von den türkischen Wachtposten abfangen zu lassen, hätte doch nichts genützt Seine Rückkehr hatte ja nur dann einen Zweck, wenn er in die Stadt Rustschuk gelangen und sich hier, trotz des auf ihm lastenden Verdachtes, frei bewegen konnte. Dann wollte er den Umständen gemäß handeln. Schlimmsten Falles und wenn er sich auch eiligst wieder über die Grenze zurückziehen müßte, hätte er doch wohl wenigstens die Freude genossen, sein Weib einmal ans Herz zu drücken.

Mehrere Tage grübelte Ladko über die Lösung dieses schwierigen Problems. Er glaubte sie endlich gefunden zu haben, und ohne sich jemand anzuvertrauen, ging er sofort an die Ausführung des von ihm ersonnenen Planes.

Würde der Erfolg haben? Das konnte nur die Zukunft lehren. Jetzt galt es, das Glück zu versuchen, und so kam es, daß die nächsten Nachbarn des Lotsen, dessen wahren Namen niemand kannte, am Morgen des 28. Juli 1876 das kleine Haus fest verschlossen fanden, worin dieser seit einigen Monaten einsam gewohnt hatte.

Worin der Plan Ladkos bestand, welchen Gefahren er sich wegen dessen Durchführung aussetzte, und inwiefern die Ereignisse in Bulgarien und besonders in Rustschuk mit dem Angelwettstreit von Sigmaringen in Verbindung stehen, das wird der freundliche Leser im weitern Verlauf dieser nicht erdichteten Erzählung erfahren, deren Hauptpersonen noch heute an den Ufern der Donau leben.[59]

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 48-60.
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