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[87] Olivier Sinclair war ein »netter Mann«, um den Ausdruck zu gebrauchen, den man oftmals in Schottland für wackere, lebhafte und geistig geweckte junge Leute anwandte; doch wenn ihm diese Bezeichnung in geistiger Beziehung zukam, so muß man gestehen, daß sie auch äußerlich auf ihn paßte.[87]
Der letzte Sproß aus vornehmer Familie Edinburghs, war dieser junge Athener des nordischen Athens der Sohn eines bejahrten Raths der Hauptstadt von Milothian. Zeitig vater- und mutterlos, so daß er bei seinem Onkel, einem der vier Oberrichter der Munizipalverwaltung, erzogen wurde, hatte er auf der Universität seinen Studien mit gutem Erfolge obgelegen; im Alter von zwanzig Jahren sicherte ihm der Heimfall eines nicht unbeträchtlichen Vermögens mehr Unabhängigkeit, und begierig, die Welt zu sehen, bereiste er die wichtigsten Staaten Europas, ferner Indien und Amerika, und die bekannte »Revue« von[88] Edinburgh veröffentlichte wiederholt einige Skizzen seiner Reisen. Ein sehr begabter Maler, der seine Bilder gewiß hätte zu ansehnlichen Preisen verkaufen können; Dichter, wenn er in poetischer Stimmung war – und wem widerführe das nicht in einem Alter, wo einem das ganze Leben entgegenlacht? – von warmem Herzen und Künstler von Natur, war er geschaffen, zu gefallen, und gefiel ohne Ziererei und Eitelkeit.
In der Hauptstadt des alten Caledoniens ist es leicht, sich zu verheiraten. Die Geschlechter sind dort an Zahl sehr ungleich, und das schwache überragt[89] numerisch das stärkere bei Weitem. Einem jungen, gebildeten, liebenswürdigen, vornehmen und wohlgestalteten jungen Mann kann es da gar nicht fehlen, eine vermögende Frau nach seinem Geschmack zu finden.
Olivier Sinclair schien freilich auch mit sechsundzwanzig Jahren noch nicht das Bedürfniß zu Zweien zu leben empfunden zu haben. Hielt er den Fußpfad des Lebens für zu schmal, um Arm in Arm darauf zu wandeln? Nein, gewiß nicht; doch wahrscheinlich befand er sich wohl dabei, allein zu gehen, kreuz und quer, ganz seiner Laune folgend, hier- und dorthin zu irren, wie es ihm sein Geschmack als Künstler und Reisender eben eingab.
»Es ist nur ein kleiner Unfall, kein Unglück, erklärte der junge Mann lächelnd. Eine Sudelei, nichts weiter, an der die Kugel die gerechteste Kritik geübt hat!«
Olivier Sinclair äußerte das so freimüthig, daß die Brüder Melvill ihm fast ohne alle Umstände die Hände entgegen gestreckt hätten. Jedenfalls glaubten sie sich gegenseitig vorstellen zu sollen, wie das unter Gentlemen Sitte ist.
»Herr Samuel Melvill, sagte Bruder Sib.
– Herr Sebastian Melvill, sagte Bruder Sam.
– Und deren Nichte, Miß Campbell,« setzte Helena hinzu, welche, um nicht ausgeschlossen zu bleiben, sich lieber gleich selbst vorstellte.
Das war eine an den jungen Mann gerichtete Aufforderung, auch nun seinerseits Namen und Stand anzugeben.
»Miß Campbell, meine Herren, sagte er sehr ernsthaft, ich könnte Ihnen antworten, daß ich mich »Fock« (Ausgangspflock beim Croquet) nenne, da ich von jener Kugel getroffen worden bin; in der That heiße ich ganz einfach Olivier Sinclair.
– Herr Sinclair, begann da Miß Campbell, welche sich seine Antwort nicht so recht zu deuten wußte, noch einmal, gestatten Sie zum letzten Male, daß ich höflichst um Verzeihung bitte...
– Und wir gleichfalls, fügten die Brüder Melvill hinzu.
– Miß Campbell, erwiderte Olivier Sinclair, ich wiederhole Ihnen, daß die ganze Sache nicht »der Mühe werth ist. Ich suchte den Effect anlaufender Brandungswellen zu erhaschen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Ihre Kugel, ganz wie der Schwamm, ich weiß nicht welchen Malers des Alterthums, den dieser auf seine Gemälde schleuderte, gerade die Wirkung hervorgebracht hat. die ich mit dem Pinsel vergeblich zu erzielen suchte.«[90]
Das wurde in so liebenswürdigem Tone gesprochen, daß Miß Campbell und die Brüder Melvill ein Lächeln nicht unterdrücken konnten.
Hierbei wollen wir zu erwähnen nicht unterlassen, daß Aristobulos Ursiclos nicht mit gekommen war, um diesen Austausch von Entschuldigungen und Höflichkeiten mit anzuhören.
Olivier Sinclair war übrigens bestimmt geschaffen, irgend welcher jungen blonden Tochter Schottlands mehr als bloße Sympathie einzuflößen. Sein eleganter Wuchs, sein offenes Gesicht mit dem männlichen Ausdruck, der ebenso energisch durch seine Züge, wie anderseits sanft durch sein Auge erschien, die natürliche Grazie seiner Bewegungen, das Vornehme seines Wesens, seine geläufige und geistvolle Redeweise, sein leichter Gang, das Lächeln seines Blickes – Alles vereinigte sich, ihm eine gewisse Anziehungskraft zu verleihen. Er war freilich viel zu wenig Geck, um darauf zu achten, oder er achtete absichtlich nicht darauf, da er keine Lust verspürte, sich zu binden.
Wenn ihm der weibliche Clan von Auld-Reeky1 nur Schmeichelhaftes nachrühmte, so gefiel er nicht minder seinen jugendlichen Genossen und Universitätsfreunden; nach einem hübschen gaëlischen Sprichworte gehörte er zu denen, »Welche nie einem Freunde, und nie einem Feinde den Rücken zukehren«.
Heute, im Augenblicke jenes Angriffs, wendete er freilich Miß Campbell den Rücken zu. Miß Campbell dagegen war auch weder seine Feindin noch seine Freundin. In seiner Stellung, oder vielmehr, so wie er saß, hatte er die, von dem Schlägel des jungen Mädchens so unbedacht fortgetriebene Kugel natürlich nicht bemerken können. So kam es, daß das Geschoß mitten auf die Bildfläche platzte, und seine gesammten Malergeräthschaften über den Haufen warf.
Miß Campbell hatte auf den ersten Blick den Helden von Corryvrekan wieder erkannt, der Held dagegen nicht die junge Reisende des »Glengarry«. Während der Weiterfahrt von der Insel Scarba bis Oban mochte er Miß Campbell kaum an Bord bemerkt haben. Hätte er geahnt, welch' großen, persönlichen Antheil gerade sie an seiner Rettung gehabt, so würde er, wenn auch nur aus reiner Höflichkeit, unzweifelhaft seinen besonderen Dank abgestattet haben; das wußte er aber noch nicht, und sollte es wahrscheinlich niemals erfahren.
Noch an jenem Tage verbot – ja, das ist das richtige Wort – verbot Miß Campbell ebenso ihren Oheimen, wie Frau Beß und Patridge, jenem jungen[91] Manne gegenüber eine jede Anspielung auf die Vorgänge, welche sich auf dem »Glengarry« vor seiner Rettung abspielten.
Nach dem Vorfalle mit der Kugel waren die Brüder Melvill, womöglich noch mehr erschrocken als ihre Nichte, dieser nachgeeilt, und brachten eben ihre persönlichen Entschuldigungen bei dem jungen Künstler an, als dieser sie mit den Worten unterbrach:
»Mein Fräulein... meine Herren... Ich bitte Sie, glauben Sie, daß die ganze Sache der Mühe gar nicht werth ist.
– Mein Herr, erwiderte Bruder Sib, nein, wir sind wirklich untröstlich...
– Und wenn das Unglück unverbesserlich wäre, wie leider zu fürchten ist«... setzte Bruder Sam hinzu.
Nach Beendigung der Partie hatte der junge Gelehrte, gereizt, seine theoretischen Kenntnisse mit der praktischen Fertigkeit nicht haben in's Gleichgewicht setzen zu können, sich in's Hôtel zurückgezogen. Vor drei bis vier Tagen war kaum auf ein Wiedererscheinen desselben zu rechnen, denn er beabsichtigte eben nach der Insel Luing, einer der kleinen Hebriden abzureisen, welche im Süden der Insel Seil liegt, um daselbst vom geologischen Standpunkt aus die reichen Schieferbrüche zu untersuchen.
Dem Gespräche drohten also keine lehrreichen Unterbrechungen, welche er doch aufgetischt hätte, über die Flugkraft geschleuderter Körper, wie über andere mit dem Unfall zusammenhängende Fragen.
Olivier Sinclair hörte dabei auch, daß er den Gästen des Caledonian-Hôtels nicht völlig unbekannt sei, und erfuhr von einigen Vorkommnissen während der Ueberfahrt.
»Wie, Miß Campbell, und Sie, meine Herren, rief er, Sie befanden sich an Bord des »Glengarry«, der mich so zur rechten Zeit noch auffischte?
– Ja, Herr Sinclair.
– Und Sie haben uns nicht wenig erschreckt, setzte Bruder Sib hinzu, als wir rein durch Zufall Ihr in den Strudeln von Corryvrekan verlorenes Boot bemerkten.
– Ja, durch sehr glücklichen Zufall, fuhr Bruder Sam fort, und wahrscheinlich wären Sie ohne das Dazwischentreten von... Hier gab Miß Campbell ihm durch ein Zeichen zu verstehen, daß sie nicht als Retterin geschildert sein möchte. Die Rolle einer »Heiligen Jungfrau der Schiffbrüchigen« wollte sie auf keinen Fall übernehmen.[92]
– Aber, Herr Sinclair, nahm Bruder Sam wieder das Wort, wie konnte der alte Fischer, welcher Sie begleitete, nur so unklug sein, sich in jenen Wirbelstrom zu wagen...
– Deren Gefährlichkeit er als Landeskind doch kennen mußte? schloß Bruder Sib den Satz.
– Ihn trifft keine Schuld, meine Herren, antwortete Olivier Sinclair. Die Unklugheit war ganz auf meiner Seite, und kurze Zeit glaubte ich gar, mir den Tod des wackeren Mannes zuschreiben zu müssen. Aber da auf der Oberfläche des gurgelnden Wassers spielten so überraschende Farbentöne, daß es aussah, als wäre eine seine Spitze über einen Grund von blauer Seide ausgebreitet. Ohne weitere Ueberlegung, trieb es mich gleichsam zur Jagd auf einige neue Nuancen dieses lichtgeschwängerten Wasserstaubes. Dabei gelangte ich weiter und weiter vor. Mein alter Fischer kannte die Gefahr recht gut und bemühte sich, uns zurückzuhalten, er wollte nach der Insel Jura hinübersteuern, ich aber hörte ihn kaum, bis unser Boot endlich von einer Strömung gepackt und dann unwiderstehlich dem tollen Strudel zugetrieben wurde. Wir versuchten Alles, der Anziehung entgegen zu arbeiten... da verletzte ein heftiger Wogenschlag meinen Begleiter, der mich nun nicht ferner zu unterstützen vermochte, und ohne das Erscheinen des »Glengarry«, ohne die Hilfswilligkeit des Capitäns und die Menschenfreundlichkeit der Passagiere wären wir, mein Fischer und ich, nun schon der Legende verfallen und im Nekrolog des »Corryvrekan« katalogisirt gewesen!«
Miß Campbell hörte ihm zu, ohne ein Wort zu äußern, und erhob zuweilen ihre schönen Augen zu dem jungen Manne, der sie mit seinen Blicken keineswegs zu behelligen sachte. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er von seiner Jagd oder vielmehr von seinem Fischzug nach Farbennuancen des Meeres erzählte.
War sie nicht auf ähnliche, wenn auch weniger gefährliche Abenteuer ausgezogen, auf die Jagd nach einer Farbennuance des Himmels, auf die Jagd nach dem Grünen Strahle?
Die Brüder Melvill machten auch unwillkürlich eine dahinzielende Bemerkung, indem sie von der Veranlassung sprachen, die sie nach Oban geführt, d. h. von der Absicht, jenes physikalische Phänomen zu beobachten, dessen Natur sie dem jungen Maler erklärten.
»Der Grüne Strahl! rief Olivier Sinclair.[93]
– Hätten Sie ihn schon gesehen, mein Herr, fragte lebhaft das junge Mädchen, hätten Sie ihn schon einmal gesehen?
– Nein, Miß Campbell, antwortete Olivier Sinclair. Wenn ich überhaupt nur gewußt hätte, daß es irgendwo einen Grünen Strahl gebe! Nein, wirklich nicht! Nun wohl, auch ich will ihn sehen. Die Sonne wird niemals unter dem Horizont verschwinden, ohne daß sie mich zum Zeugen ihres Unterganges hat; und, beim heiligen Dunstan, ich werde nie mehr anderes, als das Grün ihres letzten Strahles wiedergeben!«
Es ließ sich zuerst nur schwierig unterscheiden, ob Olivier Sinclair nicht mit leichtem ironischen Anflug sprach oder aber sich wirklich von seiner Künstlernatur so plötzlich hinreißen ließ. Der Miß Campbell sagte ein gewisses Vorgefühl, daß der junge Mann nicht scherzte.
»Herr Sinclair, nahm sie das Wort, der Grüne Strahl ist nicht mein ausschließliches Eigenthum; er leuchtet für alle Welt und wird nichts an seinem Werthe verlieren, wenn er sich mehreren Neugierigen auf einmal zeigt. Wir können also, wenn es Ihnen recht ist, versuchen, ihn zusammen zu sehen.
– Mit großem Vergnügen, Miß Campbell.
– Doch es gehört ein wenig Geduld dazu.
– Daran soll's nicht fehlen...
– Und man darf nicht davor zurückschrecken, sich Augenschmerzen zuzuziehen, warf Bruder Sam ein.
– Der Grüne Strahl ist es schon werth, das um seinetwillen zu riskiren, versicherte Olivier Sinclair, und ich sage Ihnen, daß ich Oban nicht verlassen werde, ohne ihn gesehen zu haben.
– Wir haben uns schon einmal, sagte Miß Campbell, nach der Insel Seil begeben, um diesen Strahl zu beobachten, aber gerade in dem Augenblick, wo die Sonne versank, verhüllte sie eine kleine, am Horizont hinziehende Wolke.
– Das war ja fatal!
– Gewiß, höchst fatal, Herr Sinclair, denn seit jenem Tage haben wir noch nicht hinreichend reinen Himmel gehabt.
– Der wird wohl nicht ausbleiben, Miß Campbell, der Sommer hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen, und vor Eintritt der schlechten Jahreszeit, glauben Sie mir, wird die Sonne uns auch noch mit dem Almosen ihres Grünen Strahls bedenken.[94]
– Um Ihnen Alles zu gestehen, Herr Sinclair, fuhr Miß Campbell fort, hätten wir ihn am Abend des zweiten August am Horizont des Corryvrekan gewiß wahrnehmen können, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht durch eine gewisse Rettung abgelenkt worden wäre, an der...
– Wie, Miß Campbell, fiel ihr Olivier Sinclair in's Wort, ich wäre der Unglücksvogel gewesen, der ihre Augen in so entscheidendem Momente abgezogen hätte, meine Unbesonnenheit hätte Ihnen den Grünen Strahl gekostet! Dann bin ich Ihnen ja schuldig, Sie um Verzeihung zu bitten, und das thue ich hiermit unter größtem Bedauern meines ungeschickten Dazwischentretens. Das soll mir nicht wieder vorkommen!«
Man plauderte noch von Dem und Jenem auf dem Rückwege nach dem Caledonian-Hôtel, in dem auch Olivier Sinclair, nach Beendigung eines Ausflugs in die Umgebung von Dalmaly, abgetreten war. Der junge Mann, dessen freimüthiges Wesen und mittheilsame Heiterkeit den beiden Brüdern keineswegs mißfiel, wurde gelegentlich veranlaßt, von Edinburgh und seinem Onkel, dem Oberrichter Patrick Oldimer, zu sprechen. Da stellte sich heraus, daß die Brüder Melvill mit dem Oberrichter Oldimer mehrere Jahre bekannt gewesen waren. Zwischen den beiden Familien bestand damals ein ziemlich vertraulicher Verkehr, den nur die spätere örtliche Trennung unterbrochen hatte. Man war also eigentlich schon mit einander bekannt, und Olivier Sinclair wurde von den Brüdern Melvill aufgefordert, diese Verbindung fortzusetzen. Da dieser nun keinerlei Ursache hatte, sein Künstlerzelt anderswo als in Oban aufzuschlagen, so erklärte er sich mehr als je vorher entschlossen, hier zu bleiben, um an den Nachforschungen nach dem Grünen Strahle theilzunehmen.
Miß Campbell, die Brüder Melvill und er begegneten sich während der folgenden Tage häufig auf dem Strand von Oban. Sie prüften zusammen, ob der Zustand der Atmosphäre sich endlich günstiger gestalte. Zehnmal des Tages wurde das Barometer gefragt, das manchmal einige Neigung zu steigen bemerken ließ. In der That überschritt das liebenswürdige Instrument am Morgen des 14. August siebenunddreißigsiebenzehntel Zoll. – Mit welcher Befriedigung überbrachte Olivier Sinclair an diesem Tage die freudige Nachricht! Ein Himmel so rein wie das Auge einer Madonna; ein Azur, der nach und nach alle Schattirungen zwischen Indigo und Ultramarin durchlief. Nicht eine Spur hygrometrischen Dunstes in der Luft, die Aussicht auf einen herrlichen Abend und einen Sonnenuntergang, der jeden Astronomen einer Sternwarte entzückt hätte.[95]
»Wenn wir bei Sonnenuntergang unseren Grünen Strahl heut' nicht sehen, behauptete Olivier Sinclair, so müßten wir eben blind sein.
– Ihr hört, liebe Onkels, sagte Miß Campbell, es gilt heute Abend!«
Man kam also dahin überein, vor dem Abendessen nach der Insel Seil zu fahren, und das geschah gegen fünf Uhr.
Auf der pittoresken Straße von Glachan führte die Kalesche Miß Campbell dahin, welche vor Freude strahlte, Olivier Sinclair, der diese Strahlen wiederspiegelte, und die Brüder Melvill, welche auch ihren Theil von diesem Glanze absingen. Man hätte wahrlich sagen können, sie hätten die Sonne mit sich auf einem Wagensitze, und die vier Pferde des eleganten Gefährts wären die Hippogryphe des Wagens Apollos, des Tagesgottes.
Auf der Insel Seil befanden sich die schon vorher enthusiasmirten Beobachter gegenüber einem Horizonte, dessen scharfe Linien kein Hinderniß unterbrach. Sie nahmen auf der äußersten Spitze eines Vorgebirges Platz, welches zwei Einbuchtungen des Gestades trennte und eine Meile weit in's Meer hinaus[96] ragte. Hier konnte nach Westen und über ein Viertel des Horizonts nichts die Aussicht versperren.[97]
»Endlich werden wir ihn also schauen, diesen wunderlichen Strahl, der sich so gewaltig ziert, ehe er sich einmal blicken läßt, sagte Olivier Sinclair.
– Ich glaube es, sagte Bruder Sam.
– Ich bin dessen gewiß, setzte Bruder Sib hinzu.
– Und ich, ich hoffe es,« meinte Miß Campbell, als sie das verlassene Meer und den fleckenlosen Himmel betrachtete.
In der That deutete alles darauf hin, daß das Phänomen sich beim Untertauchen der Sonne im vollen Glanze zeigen werde.
Schon war das Strahlengestirn, das in schräger Linie niedersank, nur noch wenige Grade oberhalb des Horizonts. Seine rothglühende Scheibe übergoß den Abendhimmel mit gleichmäßiger Farbe und warf einen langen glänzenden Streifen auf das wie in Schlummer versunkene Meer.
Stumm in Erwartung der Erscheinung, etwas erregt von dem Ende eines schönen Tages, beobachteten Alle die Sonne, welche allmählich tiefer sank und einem ungeheuren Feuerballe ähnelte. Plötzlich entrang sich Miß Campbell ein unwillkürlicher Schrei; ihm folgte ein ängstlicher Ausruf, den weder die Brüder Melvill, noch Olivier Sinclair hatten unterdrücken können.
Von dem Eilande Easdale, am Fuße der Insel Seil, stieß eben eine Schaluppe ab, und schlug einen Cours nach Westen ein. Ihr gleich einem Lichtschirm aufgespanntes Segel überragte die Linie des Horizonts. Würde es die Sonne gerade in dem Augenblicke verhüllen, wo diese in den Wogen erlosch?
Das war nur eine Frage von Secunden. Zurückzueilen, sich nach einer oder der anderen Seite zu begeben, um sich gegenüber dem letzten Berührungspunkte zu befinden, dazu hatte man keine Zeit. Die Schmalheit des Vorberges gestattete es nicht, sich unter einem entsprechenden Winkel zu entfernen, um wieder in gleiche Richtung mit der Sonne zu kommen.
Verzweifelt über diese Widerwärtigkeit, lief Miß Campbell auf dem Felsen hin und her. Olivier Sinclair gab der Schaluppe möglichst deutliche Zeichen und rief sie an, das Segel einzuziehen.
Vergebliches Bemühen! Man sah ihn dort nicht, und konnte ihn unbedingt nicht hören. Die Schaluppe glitt unter leichtem Winde mit der Welle, die sie trug, immer weiter nach Westen.
In dem Augenblicke, als der obere Rand der Sonnenscheibe verschwinden sollte, strich das Segel vor derselben vorüber und verdeckte sie mit seinem undurchsichtigen Trapez.[98]
Grausame Enttäuschung! Dieses Mal war der Grüne Strahl von der untersten Linie des dunstlosen Horizonts ausgegangen, hatte sich aber in dem Segel gefangen, ehe er den Vorberg erreichte, auf dem so viele Blicke ihn begierig erwarteten.
Ganz verblüfft, und vielleicht erzürnter, als es der unglückliche Zufall verdiente, standen Miß Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Melvill wie versteinert auf ihrem Platze und vergaßen sogar fortzugehen, während sie nur die Schaluppe und Alle, die sie trug, verwünschten.
Inzwischen stieß das Boot an einem kleinen Einschnitt der Insel Seil, am Fuße des Vorberges, an's Land.
Da sprang ein Passagier an's Ufer, während die beiden Fischer, die ihn von der Insel Luing über das Meer hergebracht hatten, in dem Fahrzeuge zurückblieben; er lief um das Vorland herum und klomm die vordersten zugänglichen Felsen in die Höhe, offenbar in der Absicht, nach dem Vorberge zu gelangen.
Unzweifelhaft hatte der Pechvogel die auf dem oberen Plateau stehenden Beobachter bemerkt und erkannt, denn er grüßte dieselben mit einer gewissen Vertraulichkeit.
»Herr Ursiclos! rief Miß Campbell.
– Er! Er ist es gewesen! antworteten die Brüder.
– Wer mag dieser Herr sein?« fragte sich Olivier Sinclair.
In der That, es war Aristobulos Ursiclos in höchst eigener Person, der eben von seinem mehrtägigen Ausflug nach der Insel Luing zurückkehrte.
Wie er von Denen empfangen wurde, denen er die Erfüllung ihres innigsten Wunsches vereitelt hatte, braucht wohl kaum geschildert zu werden.
Bruder Sam und Bruder Sib vergaßen, aller Regeln gewöhnlicher Höflichkeit uneingedenk, sogar Olivier Sinclair und Aristobulos Ursiclos einander vorzustellen. Vor der bemerkbaren Unzufriedenheit Helenas senkten sie lieber die Augen, um den Prätendenten ihrer Wahl womöglich gar nicht zu sehen.
Die kleinen Hände geballt, die Arme über die Brust gekreuzt und die Augen feuersprühend, sah Miß Campbell ihn an, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich entfuhren ihrem Munde die Worte:
»Herr Ursiclos, Sie hätten auch besser gethan, nicht gerade zur rechten Zeit zu kommen, um eine Dummheit zu begehen.«
1 »Die alte Eingeräucherte«, ein Spitzname Edinburghs.
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