Fünftes Capitel.
Die »Mariepare« und die »Gallinetta«.

[59] Eine Ortschaft, die sich in dem Winkel eines Stromes hätte ansiedeln wollen würde Caïcara um seine Lage beneiden müssen. Es liegt da wie ein Gasthaus an einer Straßenbiegung oder vielmehr an einem Kreuzwege, was sein[59] Emporblühen, selbst vierhundert Kilometer vom Orinoco-Delta, vorzüglich begünstigt hat.

Caïcara erfreut sich auch herrlichen Gedeihens, Dank der Nachbarschaft eines großen Nebenflusses, des Apure, der stromaufwärts den Handelsverkehr Columbias und Venezuelas vermittelt.

Der »Simon Bolivar« hatte den Stromhafen erst gegen neun Uhr abends erreicht. Nachdem er Las Bonitas um ein Uhr mittags verlassen, dann nacheinander an dem Rio Cuchivero, am Manipare und an der Insel Taruma vorübergekommen war, hatte er seine Passagiere am Quai von Caïcara ans Land gesetzt.

Von den Passagieren natürlich nur die, die der Dampfer nicht auf dem Apure nach San-Fernando oder Nutrias weiter befördern sollte.

Das Geographenkleeblatt, der Sergeant Martial mit Jean von Kermor und eine kleine Anzahl andrer Reisender gehörten zu den letzteren. Am nächsten Morgen sollte der »Simon Bolivar« schon mit Tagesanbruch wieder abgehen, um den bedeutenden Zufluß des Orinoco bis zum Fuße der columbischen Anden hinauszufahren.

Herr Miguel hatte nicht verfehlt, seine beiden Freunde mit dem, was er aus dem Gespräche des Gouverneurs mit dem jungen Manne erfahren hatte, bekannt zu machen. Beide wußten nun also, daß Jean unter dem Schutze des alten Soldaten, des Sergeanten Martial, der sich seinen Onkel nannte, zur Aufsuchung seines Vaters auszog. Vor vierzehn Jahren hatte der Oberst von Kermor Frankreich verlassen und sich nach Venezuela begeben. Aus welchem Grunde er dem Vaterlande den Rücken gekehrt habe und was er in diesem weltfernen Lande treibe, das würde ihnen die Zukunft vielleicht noch entschleiern. Zur Zeit ergab sich nur als gewiß, aus dem von ihm an einen Freund gerichteten Schreiben, – einem Briefe, der erst viele Jahre nach seinem Eintreffen bekannt wurde – daß der Oberst im April 1879 durch San-Fernando gekommen war, als der Gouverneur des Caura damals seinen Sitz in genanntem Orte hatte.

Jean von Kermor unternahm die jetzige gefährliche und beschwerliche Reise also in der Absicht, seinen Vater wieder zu finden. Die Verfolgung eines solchen Zieles durch einen jungen Menschen von siebzehn Jahren war ja geeignet, das Interesse aller gefühlvollen Seelen wachzurufen. Die Herren Miguel, Felipe und Varinas nahmen sich auch vor, ihm bei allen Bemühungen, die er aufwenden[60] würde, den Oberst von Kermor betreffende Nachrichten zu erhalten, nach Kräften behilflich zu sein.

Nicht zu entscheiden blieb es freilich vorläufig, ob es Herrn Miguel und seinen beiden Collegen gelingen werde, den Widerstand des unzugänglichen Sergeanten Martial zu brechen, ob es diesem passen würde, daß sie mit seinem Neffen nähere Bekanntschaft machten, und ob sie den Triumph erleben würden, das ganz ungerechtfertigte Mißtrauen des alten Soldaten zu besiegen. Ob sich dann wohl seine Cerberusblicke, die jetzt jedermann abstießen, sänftigten? Das mochte schwierig sein, und doch kam es vielleicht dazu, vorzüglich wenn beide Parteien in demselben Fahrzeuge nach San-Fernando fuhren.

Caïcara zählt etwa fünfhundert Einwohner und wird von zahlreichen Reisenden besucht, die in Geschäften nach dem Oberlauf des Orinoco wollen. Man findet hier deshalb ein oder zwei Hôtels, in Wirklichkeit einfache Hütten, und in einer derselben sollten die drei Venezuolaner einerseits und die beiden Franzosen andrerseits für die wenigen Tage Unterkunft suchen, die sie hier am Orte blieben.

Schon am folgenden Tage, am 16. August, durchstreiften der Sergeant Martial und Jean Caïcara, um nach einem passenden Fahrzeug zu spähen.

Caïcara ist in der That ein hübscher, freundlicher kleiner Flecken; es liegt hineingeschmiegt zwischen den ersten Hügeln der Bergwelt des Parime und dem rechten Ufer des Stromes, gegenüber dem Dorfe Cabruta, das sich an der andern Seite am Apurito hinstreckt. Im Vordergrunde erblickt man eine der am Orinoco so häufigen, mit schönem Baumwuchs bedeckten Inseln. Sein kleiner Hafen liegt zwischen granitnen Felsenmassen, die steil aus dem Strome emporstreben. Man zählt daselbst hundertfünfzig Hütten, oder sagen wir Häuser, die, meist aus Stein errichtet, ein Dach aus Palmenblättern haben, während nur einzelne Dächer Ziegel aufweisen, deren Roth deutlich durch die grüne Umgebung schimmert. Die Ortschaft wird von einem etwa fünfzig Meter hohen Hügel beherrscht. Auf dessen Gipfel erhebt sich ein seit dem Zuge Miranda's und seit dem Unabhängigkeitskriege verlassenes Kloster von Missionären, in dem sich in frühester Zeit scheußliche Scenen von Cannibalismus abgespielt haben sollen, was den mit Recht schlechten Ruf begründete, in dem die alten Caraïben standen.

Manche alte Sitten und Gebräuche herrschen in Caïcara übrigens noch heute, nur daß sie mit denen des Christenthums in wunderlicher Weise verquickt erscheinen, so zum Beispiel die Sitte des Velorio, die der Todtenwache, welche der[61] französische Forscher einmal selbst kennen lernte. Zu einer solchen werden viele Bekannte eingeladen, die sich an Kaffee, Tabak, vorzüglich aber an Branntwein, dem Aguardiente, gütlich thun, und wo vor der Leiche des Gatten oder des Kindes die Gattin oder die Mutter... einen Ball eröffnet, bei dem getanzt wird, bis die berauschten Theilnehmer erschöpft zusammenbrechen. An eine Leichenfeier wird das schwerlich jemand erinnern.

Wenn die Ermiethung eines Fahrzeuges für die achthundert Kilometer lange Fahrt auf dem mittleren Orinoco zwischen Caïcara und San-Fernando Jean von Kermor's und des Sergeanten Martial erste Sorge war, so mußten sich auch die Herren Miguel, Felipe und Varinas in erster Linie damit befassen, galt es doch, sich vor allem die Weiterreise unter den günstigsten Bedingungen zu sichern.

Nun dürfte man wohl, ganz wie Herr Miguel, glauben, daß ein Einverständniß zwischen ihm und dem Sergeanten Martial die Sache wenigstens vereinfacht hätte. Ob drei oder fünf Personen eine Barke benutzten, kam ziemlich auf eins hinaus, denn diese waren im allgemeinen groß genug, so viele und auch noch etwas mehr Fahrgäste aufzunehmen, ohne daß das eine Verstärkung der Bedienungsmannschaften nöthig gemacht hätte.

Die Anwerbung solcher Schiffsleute ist nicht immer leicht, da man unbedingt geübte Männer engagieren muß. Dazu giebt es eine Menge gefährlicher Raudals und nicht wenige Stellen, die durch Gestein oder Sand schwer zu passieren sind oder gar dazu zwingen, die Fahrzeuge weite Strecken über Land zu transportieren. Der Orinoco hat seine Tücken, ganz wie der Ocean, und man trotzt ihnen nicht ohne Gefahr.

Die Schiffsleute wählt man gewöhnlich aus den am Ufer siedelnden Stämmen. Viele Eingeborne, die sich ausschließlich diesem Berufe widmen, zeigen sich ihrer Aufgabe mit ebenso vieler Gewandtheit wie Klugheit gewachsen. Als die Zuverlässigsten gelten die Banitas, die in der Hauptsache auf den von dem Guaviare, dem Orinoco und dem Atabapo durchflossenen Gebiete wohnen. Sind sie mit Passagieren oder mit Waaren den Strom hinausgefahren, so kehren sie bis Caïcara zurück, um neue Reisende oder neue Ladung zu erwarten.

Immerhin kann man sich auf alle diese Leute nur bis zu gewisser Grenze verlassen, und es hätte die Sache gewiß erleichtert, wenn nur eine einzige Mannschaft anzuwerben war. Dieser Ansicht war der gelehrte Herr Miguel, und[62] er hatte damit gewiß recht. Da er sich überdies lebhaft für den jungen Mann interessierte, konnte Jean eigentlich nur dabei gewinnen, wenn er ihn und seine beiden Freunde als Reisegesellschafter hatte.

Von diesem Gedanken eingenommen, war er auch entschlossen, die Meinung des Sergeanten Martial darüber zu erfahren, und sobald er sie an dem kleinen Hafen von Caïcara, wo Jean und sein Onkel ein Fahrzeug zu miethen suchten, wahrnahm, ging er schnellen Schrittes auf sie zu.

Der alte Haudegen runzelte die Stirn und warf dem Gelehrten einen nicht gerade aufmunternden Blick zu.

»Mein Herr Sergeant, begann Herr Miguel in ganz correctem Französisch, das er sehr gut beherrschte, wir haben das Vergnügen gehabt, an Bord des »Simon Bolivar« zusammen zu reisen...

– Und hier gestern Abend auszusteigen«, antwortete der Sergeant mit aneinandergestellten Fußabsätzen und steif wie ein Infanterist, wenn er präsentiert.

Herr Miguel sachte diesen Worten noch den besten Sinn unterzulegen und fuhr also fort:

»Meine beiden Freunde und ich haben – es war noch in Las Bonitas – aus einem Gespräche zwischen Ihrem Neffen...«

Der Sergeant fing an die Lippen zusammenzuziehen, was immer ein schlechtes Zeichen war, und unterbrach Herrn Miguel mit der Frage:

»Wie meinten Sie... aus einem Gespräche?

– Zwischen Herrn Jean von Kermor und dem Gouverneur erst erfahren, daß es Ihre Absicht war, in Caïcara ans Land zu gehen...

– Wir brauchen deshalb doch wohl niemand um Erlaubniß zu fragen?... erwiderte der Brummbär in barschem Tone.

– Natürlich niemand, sagte Herr Miguel, der sich auch durch diesen unfreundlichen Empfang von seinem Vorschlage nicht abbringen lassen wollte. Da wir nun aber gehört haben, welches das Ziel Ihrer Reise ist...

– Eins! grollte der Sergeant Martial zwischen den Zähnen, als wollte er zählen, wie viele Male er auf Fragen des höflichen Geographen zu antworten haben werde.

– Und unter welchen Verhältnissen Ihr Neffe den Oberst von Kermor seinen Vater, aufzusuchen gedenkt...

– Zwei!... stieß der Sergeant Martial hervor.[63]

– Da wir ferner wissen, daß Sie auf dem Orinoco bis San-Fernando hinausfahren wollen...

– Drei!... knurrte der Sergeant Martial.

– So möchte ich, da meine Collegen und ich uns ebendahin begeben wollen, Sie fragen, ob es Ihnen nicht gelegen, ob es nicht vortheilhafter, ja sogar sicherer wäre, von Caïcara bis San-Fernando eine Barke gemeinschaftlich zu benützen...«

Wenn je ein Anerbieten annehmbar war, so war es das, das Herr Miguel eben machte, und es ließ sich kaum ein Grund denken, es abzulehnen. Durch die Wahl einer hinreichend großen Pirogue mußten die fünf Reisenden ihre Fahrt gewiß unter weit günstigeren Bedingungen ausführen können.

Der Sergeant konnte sich dem Vorschlage vernünftiger Weise also gewiß nicht widersetzen, dennoch antwortete er, ohne seinen Neffen vorher zu befragen, wie einer, dessen Entschluß schon feststeht, trockenen Tones:

»Sehr verbunden, mein Herr, sehr verbunden! Ihr Vorschlag mag ja in mancher Beziehung vortheilhaft sein, doch annehmbar, nein... nein... wenigstens was uns Beide betrifft!

– Was könnte er Unannehmbares an sich haben? fragte Herr Miguel, erstaunt über eine solche unbegreifliche Ablehnung.

– Er hat... nun mit einem Worte, er paßt uns eben nicht! erklärte der Sergeant Martial.

– Ohne Zweifel haben Sie ihre besondern Gründe, so zu antworten, Herr Sergeant, antwortete Herr Miguel. Da mir aber nur daran lag, uns gegenseitige Unterstützung zu gewähren, hätte mein Vorschlag wohl eine minder verletzende Antwort verdient.

– Bedaure ich sehr, ja, recht sehr, werther Herr, antwortete der Sergeant Martial, der sich auf ein ihm nicht besonders zusagendes Gebiet gedrängt fühlte, ich konnte Ihnen aber nur mit einer Weigerung antworten...

– Einer Weigerung, die sich doch hätte in gewissen Formen halten können; an der Ihrigen vermißte ich die berühmte französische Höflichkeit!

– O, mein Herr, erwiderte der alte Soldat, der jetzt schon etwas warm wurde, es handelt sich hier aber nicht um Höflichkeiten! Sie haben uns einen Vorschlag gemacht, und ich hatte meine Gründe, diesen Vorschlag nicht anzunehmen, das hab' ich Ihnen einfach gesagt, wie es mir auf die Zunge gekommen ist. Wenn Sie darüber Klage führen wollen...«[64]

Die stolze Haltung, welche Herr Miguel annahm, war nicht gerade geeignet, den Sergeanten Martial, der die Tugend der Geduld nicht kannte, zu beruhigen. Das veranlaßte Jean von Kermor, selbst das Wort zu ergreifen.

»Ich bitte Sie, meinen Onkel zu entschuldigen, verehrter Herr, sagte er, er hat Sie gewiß nicht beleidigen wollen. Was Sie uns da angeboten haben, zeigt von einer besondern Zuvorkommenheit Ihrerseits, und bei jeder andern Gelegenheit würden wir nicht gezaudert haben, die dargebotene Hand zu ergreifen. Wir wünschen jetzt aber gerade ein Boot für uns allein zu haben, über das uns[65] unter allen Umständen freie Verfügung zusteht, denn es ist möglich, daß die Auskünfte, die wir unterwegs erhalten, uns zwingen, von dem jetzt ins Auge gefaßten Reisewege abzuweichen, in einem oder dem andern Orte Halt zu machen... kurz, wir müssen nothwendig für unsre Bewegungen volle Freiheit haben.


Die beiden Fahrzeuge glitten der Mitte des Stromes zu. (S. 71.)
Die beiden Fahrzeuge glitten der Mitte des Stromes zu. (S. 71.)

– Sehr schön, Herr von Kermor, antwortete Herr Miguel, uns liegt es gewiß fern, Sie in irgend einer Weise belästigen zu wollen, und trotz der... der etwas trocknen Antwort Ihres Onkels...

– Der eines alten Soldaten, mein Herr! warf der Sergeant Martial ein.

– Zugegeben! Immerhin, wenn meine Freunde und ich Ihnen während der Fahrt irgendwie von Nutzen sein können...

– Ich danke Ihnen in meines Onkels und in meinem Namen, mein Herr, erklärte der junge Mann, und seien Sie überzeugt, daß wir im Nothfalle nicht zögern werden, Ihre freundliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

– Hören Sie es, Herr Sergeant? fügte Herr Miguel in halb scherzendem, halb ernsthaftem Tone hinzu.

– Ja, ja, ich höre es, Herr Geograph!« gab der Sergeant Martial mürrisch zurück, denn er wollte sich trotz der Anerbietungen des Herrn Miguel – übrigens eines der besten und hilfswilligsten Menschen – nicht entwaffnen lassen.

Herr Miguel bot hierauf Jean von Kermor die Hand, die dieser freundschaftlich drückte, was schon genügte, aus den Augen seines Onkels zwei von Donnergrollen begleitete Blitze hervorschießen zu lassen.

Als der Sergeant Martial und der junge Mann wieder allein waren, begann der erstere:

»Du hast ja gesehen, wie ich ihn empfangen habe, den wunderlichen Kauz da!

– Ja, Du hast ihn schlecht empfangen und daran unrecht gethan.

– Ich hätte unrecht gehabt?

– Unbedingt!

– Es hätte also nur noch gefehlt, das Anerbieten, eine Pirogue mit den drei Bolivaren zu theilen, anzunehmen?

– Nein, daß Du das abgelehnt hast, war ganz in der Ordnung, es hätte nur etwas höflicher geschehen können, lieber Onkel!

– Einem Aufdringling gegenüber brauche ich nicht höflich zu sein.[66]

– Herr Miguel ist nicht aufdringlich gewesen, er hat sich sehr dienstwillig gezeigt, und sein Vorschlag hätte verdient, angenommen zu werden.... wenn das in unserm Falle möglich wäre. Wenn Du ihn ablehntest, mußtest Du gleichzeitig Deinen Dank dafür aussprechen. Wer weiß, ob seine Freunde und er nicht berufen sind, uns unsre Aufgabe zu erleichtern, schon in Folge der Bekanntschaften, die sie in San-Fernando jedenfalls haben und die uns von Nutzen sein könnten, Du Deinen Obersten, mein lieber Martial, und ich meinen Vater wiederzufinden.

– Also ich... ich habe unrecht gehabt?

– Ja, lieber Onkel.

– Ich danke, lieber Neffe!«

Von den Piroguen des Orinoco sind die kleinsten aus einem Baumstamme, gewöhnlich dem Stamme eines Cachicamo ausgehöhlt. Die größeren, aus abgepaßten Planken bestehend, sind an den Seiten abgerundet und vorn etwas zugespitzt.

Die recht solid hergestellten Fahrzeuge widerstehen sehr gut der Beschädigung beim Schleifen über Untiefen und den Erschütterungen, denen sie bei der Beförderung über Land unumgänglich ausgesetzt sind, wenn sie über nicht schiffbare Stromschnellen hinweggeschafft werden müssen.

In ihrer Mitte erhebt sich ein Mast, der von einem Stag und zwei Rüstleinen gehalten wird, die ein viereckiges Segel tragen, das bei Rücken- und selbst bei günstigem Seitenwinde zu gebrauchen ist. Eine Art Pagaie, die gleichzeitig als Steuerruder dient, wird von dem Schiffer gehandhabt.

Der vordere Theil des Fahrzeuges, vom Maste bis zum Bug, ist ganz unbedeckt. Dieser Theil dient als Aufenthaltsraum am Tage und als Schlafraum in der Nacht für die meist aus zehn Indianern, einem Führer und neun Leuten, bestehende Mannschaft.

Der hintere Theil, vom Maste bis zum Achter, ist mit einer Art Deckhaus versehen, mehr einem Dache ähnlich, das mit Palmenblättern, die an aufrechtstehenden Bambusstäben befestigt sind, bedeckt wird.

Dieses Deckhaus dient den Passagieren als Cabine. Es enthält die Lagerstätten – einfache Esteras, die über trocknem Stroh ausgebreitet sind – die Küchen- und Tischgeräthe, den kleinen Kochofen zur Bereitung der Speisen, vielfach der unterwegs erbeuteten Jagdthiere oder der von Bord aus gefangenen Fische. Der Raum kann nur mittelst herablaßbarer Matten in mehrere Theile[67] geschieden werden, denn er nimmt von den zehn bis elf Metern, die das Fahrzeug mißt, nur fünf bis sechs Meter Länge ein.

Die Piroguen des Orinoco werden mit dem Namen Falcas bezeichnet. Bei günstigem Winde fahren sie unter Segel, doch auch dann nur recht langsam, denn sie haben zwischen den zahlreichen Inseln, womit der Strom durchsetzt ist, oft eine sehr mächtige Strömung zu überwinden. Fehlt es an Wind, so fährt man entweder in der Mitte des Flußbettes mit Hilfe der Bootshaken oder dicht am Ufer mit Hilfe von Schleppleinen weiter.

Unter Bootshaken versteht man hier gleichzeitig die Palanca, eine Gabelstange, deren sich die Leute am Vordertheil bedienen, und den Garapato, einen festen Bambusstab mit Haken, den der Schiffer auf dem Hintertheile regiert.

Die Schleppleine, Espilla genannt, ist ein leichtes Kabel aus sehr elastischen Fasern der Chiquichiquipalme gesponnen, gewöhnlich von hundert Fuß Länge und dabei so leicht, daß sie auf dem Wasser schwimmt. Man schafft sie, wo es nöthig erscheint, ans Ufer, befestigt sie an einem Baumstamm oder einer Wurzel und zieht sich vom Boote aus an ihr weiter hin.

Das ist also die Einrichtung einer Falca, die zur Beschiffung des Stromes auf seinem Oberlaufe dient, und der man noch zwecks Benutzung der Espilla, ein kleines Boot anhängt, das in der Indianersprache Curiare heißt.

Mit dem Führer einer solchen Pirogue müssen die Reisenden verhandeln, und der Miethpreis richtet sich hier nicht nach der Länge der zurückzulegenden Strecke, sondern nach der Zeit, die das Fahrzeug benutzt wird. Die zu zahlende Entschädigung wird dabei für den einzelnen Tag festgestellt. Es könnte wohl auch nicht anders sein. Die Fahrt auf dem Orinoco erleidet ziemlich häufig Verzögerungen, entweder durch plötzliches Hochwasser, durch stürmische Winde oder durch Stromschnellen, die das Fahrzeug zurückwerfen, wie durch die Schwierigkeiten des Landtransports, der da, wo man gar nicht weiter fahren kann, nöthig wird. Eine Reise, die vielleicht in drei Wochen zurückzulegen ist, erfordert wohl gleich die doppelte Zeit, wenn gar zu ungünstige Witterungsverhältnisse herrschen. Deshalb würde sich auch kein Schiffer verpflichten, seine Fahrgäste von Caïcara entweder nach der Mündung des Meta oder nach San-Fernando in einer vorausbestimmten Zeit zu befördern. Unter solchen Umständen mußte hier also mit indianischen Banivas verhandelt werden, die den Reisenden denn auch zwei Piroguen zur Verfügung stellten.[68]

Herr Miguel war so glücklich, einen sehr erfahrenen Stromschiffer zu wählen. Es war ein Indianer, namens Martos, ein vierzigjähriger, kräftiger und intelligenter Mann, der für seine Mannschaft, neun tüchtige, mit der Handhabung der Palanca, des Garapato und der Espilla vertraute Eingeborne, mit seinem Worte einstand. Der Tagespreis, den er forderte, mochte wohl hoch erscheinen, wem wäre es indeß in den Sinn gekommen, darum zu feilschen, wo es sich um die Lösung der wichtigen Guaviare-Orinoco-Atabapo-Frage handelte!

Die Wahl Jeans von Kermor und des Sergeanten Martial war jedenfalls auch nicht minder glücklich ausgefallen – neun Banivas unter Führung eines halbindianischen, halbspanischen Mestizen, der recht gute Zeugnisse aufzuweisen hatte. Der Mestize nannte sich Valdez, und wenn die Fahrt seiner Passagiere sich jenseits San-Fernandos auf dem Oberlaufe des Stromes weiter erstrecken sollte, verpflichtete er sich, da er dort auch schon gefahren war, gern zu deren Verfügung zu bleiben. Das war jedoch eine Frage, die erst später entschieden werden konnte, je nach der Auskunft, die in San-Fernando über den Obersten zu erhalten sein würde.

Die beiden Piroguen hatten jede ihren Namen: die der Herren Miguel, Felipe und Varinas hieß »Maripa re«, gleich einer der zahlreichen Inseln des Orinoco; den einer andern Insel, »Gallinetta«, trug das Fahrzeug des Sergeanten Martial und seines Neffen. Beide waren an den obern Theilen weiß, am Rumpfe durchweg schwarz angestrichen.

Es versteht sich von selbst, daß die beiden Piroguen dicht bei einander fahren sollten und keine die andre zu überholen suchen würde. Der Orinoco ist ja nicht der Mississippi, die Falcas sind keine Dampfschiffe, und hier lag kein Grund vor, gegen einander zu wetteifern oder sich den Record an Schnelligkeit zu sichern. Außerdem hat man auch immer Ueberfälle durch Indianer aus den nahen Savannen zu befürchten, und deshalb ist es rathsamer, in größerer Zahl aufzutreten, um dem Raubgesindel Respect einzuflößen.

Die »Maripare« und die »Gallinetta« wären schon an demselben Abend zur Abreise fertig gewesen, wenn nicht erst noch Vorräthe an Lebensmitteln u. s. w. zu besorgen gewesen wären. Bei den Händlern in Caïcara war ja alles zu haben was man zu einer mehrwöchigen Bootsreise bis San-Fernando, wo neue Einkäufe gemacht werden konnten, nöthig hatte. Sie haben alles zu verkaufen: Conserven, Kleidungsstücke, Schießbedarf, Angel- und Jagdgeräthe, und waren ihren Kunden gern zu Diensten, wenn diese nur in schönen Piastern zahlten[69] Reisende auf dem Orinoco können freilich nebenbei darauf rechnen, daß sie Wild an den daran reichen Stromufern erbeuten und Fische in großer Menge fangen können Herr Miguel war nun ein ebenso guter Schütze wie der Sergeant Martial, und auch die leichte Jagdflinte Jeans von Kermor sollte gewiß nicht unthätig und nutzlos bleiben. Man lebt aber doch nicht allein von Jagd und Fischfang. Jedenfalls mußten Thee, Zucker, getrocknetes Fleisch, Dörrgemüse, Cassavenmehl, das aus dem Manioc gewonnen wird und hier die Stelle des Weizen- und Roggenmehls vertritt, und auch einige Tönnchen Tafia und Aguardiente mitgenommen werden. An Brennmaterial würde es den Oefen der Piroguen aus den Uferwäldern nicht fehlen. Zum Schutze gegen die Kälte, oder vielmehr gegen die Feuchtigkeit, konnte man sich leicht wollene Decken besorgen, die in allen venezuolanischen Ortschaften käuflich sind.

Diese Vorbereitungen nahmen immerhin einige Tage in Anspruch, und man hatte übrigens keine Ursache, diese Verzögerung zu bedauern, denn vierundzwanzig Stunden lang herrschte gerade jetzt abscheuliches Wetter. Caïcara wurde von einem der schweren Stürme heimgesucht, die die Indianer als Chubasco bezeichnen. Er kam aus Südwesten und war von so überreichen Regengüssen begleitet, daß eine starke Anschwellung des Stromes eintrat.

Der Sergeant Martial und sein Neffe bekamen hier bei einen Vorgeschmack von den Schwierigkeiten, die die Schifffahrt auf dem Orinoco gelegentlich bietet. Die Falcas hätten jetzt weder gegen die durch die Hochfluth entstandene stärkere Strömung, noch gegen den Sturmwind aufkommen können, der sie von vorn gepackt hätte. Jedenfalls wären sie gezwungen gewesen, unter solchen Umständen nach Caïcara, und vielleicht gar schwer beschädigt, zurückzukehren.

Die Herren Miguel, Felipe und Varinas nahmen diese Widerwärtigkeiten mit philosophischer Ruhe hin; sie hatten ja keine besondre Eile und es kam wenig darauf an, wenn ihre Reise sich auch um einige Wochen verlängerte. Der Sergeant Martial dagegen murrte, schimpfte und wetterte über die Hochfluth und gebrauchte französische und spanische Kraftausdrücke, womit er den Strom belegte, so daß Jean von Kermor Mühe hatte, ihn einigermaßen zu beruhigen.

»Es genügt nicht, den nöthigen Muth zu haben, mein lieber Martial, sagte er wiederholt, man muß sich auch mit tüchtigem Vorrath an Geduld ausrüsten, denn die werden wir gelegentlich brauchen.

– Daran soll es mir zwar nicht fehlen, Jean, doch dieser verwünschte Orinoco, konnte er sich uns wenigstens zu Anfang nicht etwas liebenswürdiger zeigen?[70]

– So bedanke Dich, lieber Onkel; ist es nicht vorzuziehen, wenn er uns seine Liebenswürdigkeiten bis zu Ende bewahrt? Wer weiß denn, ob wir nicht gezwungen sein werden, bis an seine Quellen zu gehen?

– Ja, wer weiß das, brummte der Sergeant Martial, und wer weiß, was uns da unten passiert!«

Im Laufe des 20. August verminderte sich, während der Wind mehr nach Norden umlief, die Heftigkeit des Chubasco zusehends. Hielt sich der Wind in dieser Richtung, so konnten ihn die Piroguen mit Vortheil benutzen. Gleichzeitig fiel auch das Wasser – der Strom trat in sein gewöhnliches Bett zurück. Die beiden Schiffer Martos und Valdez erklärten, daß man am nächsten Tage vormittags abfahren könne.

Das fand denn auch unter den günstigsten Bedingungen statt. Gegen zehn Uhr hatten sich die Bewohner des Orts nach dem Ufer begeben. Die Flagge Venezuelas flatterte an der Mastspitze jeder Pirogue. Auf dem Vordertheile der »Maripare« standen die Herren Miguel, Felipe und Varinas und beantworteten grüßend die Zurufe der Einwohner.

Dann drehte sich Herr Miguel nach der »Gallinetta« um.

»Glückliche Reise, Herr Sergeant! rief er heitern Tones.

– Glückliche Reise, Herr Miguel! erwiderte der Sergeant, denn wenn sie für Sie glücklich verläuft...

– So wird das auch für uns Alle der Fall sein, fuhr Herr Miguel fort, denn wir machen sie ja zusammen!«

Die Palancas stemmten sich gegen die Ufer, die Segel wurden gehißt, und, von günstiger Brise getrieben, glitten die beiden Fahrzeuge unter den letzten Vivats vom Land her der Mitte des Stromes zu.[71]

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 59-72.
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