[72] Die Fahrt auf dem mittleren Orinoco hatte also begonnen. Viele eintönige Stunden und Tage sollten nun an Bord der Piroguen dahingehen. Welche Verzögerungen gab es auf diesem Strome, der sich zu einer schnellen Schifffahrt thatsächlich wenig eignet! Für Herrn Miguel und seine Begleiter gab es diese Eintönigkeit freilich kaum. Schon am Zusammenfluß des Guaviare und des Atabapo sollten sie ja ihre geographischen Arbeiten beginnen, die hydrographischen Verhältnisse eingehender erforschen, die Lage der zahlreichen Zuflüsse und Inseln studieren, die Stellen der vielen Raudals bestimmen und überhaupt die Irrthümer berichtigen, an denen es den bisherigen Karten dieses Landestheiles nicht mangelte. Für Gelehrte, die noch immer mehr zu lernen streben, vergeht die Zeit ja im Fluge.
Es war vielleicht zu bedauern, daß der Sergeant Martial so heftig dagegen gestimmt hatte, die Reise in einunddemselben Fahrzeuge zu unternehmen, denn dann wären ihnen die Stunden wohl nicht so endlos lang vorgekommen. In diesem Punkte hatte der Onkel aber hartnäckig seinen Kopf aufgesetzt und der Neffe übrigens nicht den geringsten Einwand erhoben, als ob es eben so sein müsse.
Der junge Mann mußte sich damit begnügen, das Werk seines Landsmannes, das übrigens in Bezug auf alles, was den Orinoco betrifft, höchst zuverlässig ist, immer und immer wieder durchzustudieren, und einen bessern Führer, als jenen französischen Reisenden, hätte er auch gar nicht finden können.
Als die »Maripare« und die »Gallinetta« die Strommitte erreicht hatten, bemerkte man die Cerros (Hügel), die die benachbarten Ebenen unterbrechen. Gegen elf Uhr wurde am linken Ufer ein Haufen von Hütten sichtbar, der am Fuße granitner Anhöhen lagerte. Es war das Dorf Cabruta, das aus etwa fünfzig Strohhütten bestand, und wenn man deren Zahl mit acht multiplicierte, erhielt man annähernd die seiner Einwohner. Hier verdrängten seiner Zeit Mestizen die jetzt thatsächlich zerstreuten Guamos-Indianer, Eingeborne, deren[72] Haut übrigens weißer ist, als die der Mulatten. Da jetzt grade Regenzeit war, konnten der Sergeant Martial und Jean von Kermor doch einzelne der Guamos, die dann auf ihren Baumrindenbooten dem Fischfange obliegen, zuweilen in großer Nähe beobachten.
Der Schiffer der »Gallinetta« sprach spanisch. Der junge Mann richtete häufig verschiedene Fragen an ihn, die Valdez willig beantwortete. Am Abend, als die Falca sich mehr dem rechten Ufer näherte, sagte Valdez zu Jean:
»Dort sehen Sie Capuchino, eine alte, aber schon längst verlassene Mission.[73]
– Denken Sie da anzulegen, Valdez? fragte Jean.
– Das ist nicht zu umgehen, da der Wind in der Nacht ganz abflauen wird. Uebrigens befährt man schon aus Vorsicht den Orinoco nur am Tage, denn viele enge Fahrstellen wechseln zu häufig in ihrer Lage und man braucht unbedingt helle Beleuchtung, um sich zurecht zu finden.«
Die Schiffer pflegen in der That jeden Tag an einem der Ufer oder einer Insel anzulegen. Auch die »Maripare« ging jetzt am Strande von Capuchino ans Land. Nach dem Abendessen, bei dem einige von den Fischern von Cabruto erkaufte Fische von der Art der Dorades aufgetragen wurden, verfielen die Passagiere der Piroguen bald in tiefen Schlaf.
Wie der Schiffer Valdez vorausgesagt hatte, legte sich der Wind schon in den ersten Nachtstunden ganz und gar, sprang aber mit Tagesanbruch wieder auf und wehte stetig aus Nordost. Die Segel wurden also gehißt, und mit dem Winde im Rücken trieben die beiden Falcas ohne Unfall den Strom hinaus.
Capuchino gegenüber zeigte sich die Mündung des Apurito, eines Armes des Apure. Das eigentliche Delta dieses mächtigen Nebenflusses wurde erst zwei Stunden später sichtbar. Auf diesem Nebenflusse dampft der »Simon Bolivar«, nachdem er Caïcara verlassen hat, weiter nach den im Westen von den Anden begrenzten Gebieten Columbias.
Mit Bezug hierauf fragte Herr Miguel seine beiden Gefährten, warum denn der Apure nicht weit eher als der Atabapo oder Guaviare der eigentliche Orinoco sein könne.
»Sapperment! fuhr Herr Felipe auf. Kann denn der Apure überhaupt etwas anderes sein, als der Zufluß eines Stromes, der hier fast dreitausend Meter breit ist?
– Und ist sein Wasser nicht trüb und weißlich, rief Herr Varinas, während das hier schon von Ciudad-Bolivar an klar und durchsichtig ist?
– Das geb' ich zu, sagte Herr Miguel lächelnd, wir wollen den Apure also außer Concurs setzen; unterwegs finden sich schon noch andre Mitbewerber.«
Herr Miguel hätte hier wenigstens anführen können, daß der Apure unvergleichlich reichere Ilanos als die des Orinoco befruchtet und daß er ihn wirklich nach Westen fortzusetzen scheint, während letzterer, einen scharfen Winkel bildend, von San-Fernando her aus Süden heranströmt. Auf einer Strecke von fünfhundert Kilometern, fast bis nach Palmirito, folgen die Dampfer, die[74] von seiner Mündung nicht weiter (den Orinoco) hinausfahren können, seinem wasserreichen Laufe. Man hat ihn mit Recht den »Strom der Ilanos« genannt, der weiten, für jede Cultur geeigneten Flächen, die vorzüglich zur Aufzucht von Schlachtvieh dienen und die kräftigste und arbeitsamste Bevölkerung des innern Venezuela aufweisen.
Hier hätte erwähnt werden können – und Jean sollte sich davon mit eignen Augen überzeugen – daß es in dem weniger durchsichtigen Wasser von Kaimans wimmelt, die sich infolge dieser Eigenschaft ihrer Beute weit leichter nähern können. Mehrere solcher ungeschlachter Saurier tummelten sich zuweilen nur wenige Fuß von der »Gallinetta«. Volle sechs Meter lang, kommen diese Riesen vom Krokodilgeschlechte in den Nebenflüssen des Orinoco in großer Menge vor, während die in den Flußläufen, die die Ilanos durchschneiden, von geringerer Größe sind.
Auf eine bezügliche, von dem jungen Manne gestellte Frage antwortete der Schiffer Valdez:
»Wirklich gefährlich sind diese Bestien nicht alle, denn es giebt welche – unter andern die Bavas – die nicht einmal einen Badenden angreifen. Die Cebados freilich, das sind die Burschen, die schon Menschenfleisch gekostet haben, würden nicht zaudern, bis in die Boote zu dringen und Einen mit Haut und Haar zu verzehren!
– Na, sie sollen nur herankommen! rief der Sergeant Martial.
– Nein, sie mögen uns fern bleiben, lieber Onkel!« antwortete Jean, indem er auf eines der ungeheuern Thiere hinwies, dessen mächtige Kiefern sich geräuschvoll öffneten und schlossen.
Krokodile sind es übrigens nicht allein, die die Gewässer des Orinoco und seiner Nebenflüsse unsicher machen; man trifft auch Cariben, das sind Fische von solcher Körperkraft daß sie die stärksten Angelhaken mit einem Schlage zerbrechen, und deren, von dem Worte Caraïba abgeleiteter Name sie als Wasser-Cannibalen kennzeichnet. Außerdem hat man alle Ursache, sich vor den Zitterrochen und Zitteraalen zu hüten, vor jenen Gymnoten, die hier Trembladors (Erschütterer) genannt werden. Mit einem sehr sinnreich zusammengesetzten (elektrischen) Organe ausgerüstet, tödten sie andere Fische mit ihren Entladungsschlägen, die auch ein Mensch nicht ungestraft aushalten würde.
Im Laufe dieses Tages segelten die Falcas an mehreren Inseln vorüber, längs deren Ufer die Strömung sehr stark war, so daß zum Fortkommen wiederholt[75] die an einer dicken Wurzel befestigte Espilla zu Hilfe gezogen werden mußte.
Beim Vorüberfahren an der Insel Verija de Mono, die ein fast undurchdringlicher Urwald bedeckt, krachten an Bord der »Maripare« plötzlich mehrere Schüsse. Ein halbes Dutzend Wildenten fiel auf das Wasser herunter. Herr Miguel und seine Freunde waren es gewesen, die sich hier als treffliche Schützen erwiesen hatten.
Bald darauf näherte sich der Curiare der andern Pirogue der »Gallinetta«.
»Zur Abwechslung im gewohnten Speisezettel!« rief Herr Miguel, der ein Paar der schmackhaften Vögel anbot.
Jean von Kermor dankte Herrn Miguel verbindlich, während der Sergeant Martial nur eine Art Dank brummte.
Nachdem er den jungen Mann gefragt, wie er die beiden ersten Reisetage verlebt hätte, und eine befriedigende Antwort erhalten hatte, wünschte Herr Miguel dem Neffen wie dem Onkel noch eine gute Nacht und fuhr in dem Curiare wieder davon.
Mit Anbruch der Nacht wurden die beiden Falcas an der Insel Pajaral vertäut, da das rechte Ufer des Stromes vielfach mit erratischen Blöcken bedeckt war, auf denen Chaffanjon zahlreiche Inschriften entdeckt hatte, die von den Strom bereisenden Händlern mit dem Messer eingeritzt waren.
Das Abendessen wurde mit gutem Appetit verzehrt. Die Enten – zubereitet von dem Sergeanten Martial, der sich wie der Cantineninhaber eines Regiments auf die Kochkunst verstand – lieferten ein saftiges, herrlich duftendes Fleisch, das denen der europäischen Arten weit überlegen ist. Um neun Uhr ging man zu Bett, oder der junge Mann streckte sich wenigstens auf der Estera in dem ihm als Schlafzimmer dienenden Raume des Deckhauses aus, wo ihn der Onkel, seiner Gewohnheit getreu, mit dem Muskitonetze sorgsam umhüllte.
Das erwies sich als eine sehr nothwendige Vorsicht. Wie viele Muskitos und was für Muskitos schwirrten hier umher! Wenn man dem Sergeanten Martial glauben darf, hatte Chaffanjon gewiß nicht übertrieben, als er behauptete daß diese »vielleicht die größte Schwierigkeit bei einer Bereisung des Orinoco bilden«. Myriaden giftiger Stacheln verletzen den Menschen hier ohne Unterlaß, und jeder Stich erzeugt eine entzündete Stelle, die noch nach vierzehn Tagen Schmerzen verursacht, wenn sie nicht gar ein heftiges Fieber auslöst.
Wie aufmerksam breitete der Onkel aber auch den schützenden Schleier über die Lagerstätte des Neffen! Und dazu qualmte seine Pfeife wie ein Schornstein,[76] um die schrecklichen Insecten für den Augenblick zu vertreiben. Suchten aber einzelne durch schlecht geschlossene Falten des Netzes zu schlüpfen, so tödtete er sie durch einen Schlag mit der Hand.
»Mein lieber Martial, Du wirst Dir noch die Hand verstauchen! So viele Mühe brauchst Du Dir nicht zu machen; mich hindert schon nichts mehr am Schlafen.
– Nein, antwortete der alte Soldat, ich will nicht, daß eine einzige der abscheulichen Bestien Dir um die Ohren summt!«
Und er setzte sein Morden fort, so lange sich noch ein verdächtiges Schwirren vernehmen ließ. Erst als er sah, daß Jean wirklich eingeschlummert war, suchte auch er sein Lager auf. Er selbst machte sich ja nichts aus solchen Angriffen. Obwohl er sich aber für zu »lederhart« hielt, um davon zu leiden, wurde er doch wie jeder Andre tüchtig zerstochen und kratzte sich, daß die ganze Pirogue erzitterte.
Am nächsten Morgen wurden die Haltetaue gelöst, und wieder ging es unter Segel weiter. Der Wind war noch günstig, setzte aber dann und wann aus. Große Haufenwolken hingen niedrig am Himmel. Der Regen stürzte in Strömen herab, und Alle mußten im Deckhause bleiben.
Nun galt es noch obendrein, einige Stromschnellen zu überwinden, die eine Folge der Einengung des Bettes durch mehrere kleine Inseln waren. Schließlich mußte sogar ganz nahe am linken Ufer, wo eine schwächere Strömung stand, hingefahren werden.
Das Uferland hier hatte ein sumpfiges Aussehen mit einem Gewirr von Canälen und Tümpeln. Den gleichen Charakter bewahrt es von der Mündung des Apurito an bis zu der des Arauca auf eine Strecke von hundert Kilometern. Hier ist die Gegend, wo die zahlreichsten Wildenten vorkommen. Wenn sie über die Ebenen hinflatterten, sah es aus, als wäre der Himmel mit schwarzen Flecken übersäet.
»Wenn es deren auch so viele wie Muskitos giebt, so sind sie doch weniger lästig meinte der Sergeant Martial, ganz abgesehen davon, daß man sie essen kann!«
Die Richtigkeit dieses Ausspruchs dürfte wohl niemand bezweifeln.
Sie wurde auch durch ein Vorkommniß erhärtet, das Elisée Reclus nach Carl Sachs berichtet. Man erzählt sich, versichert er, daß ein neben einer Lagune dieser Gegend lagerndes Reiterregiment sich vierzehn Tage lang ausschließlich[77] von solchen Wildenten ernährt habe, ohne daß nur eine Abnahme der Schaaren dieser Vögel bemerkt worden wäre.
Die Jäger von der »Gallinetta« und der »Maripare« verminderten ebensowenig wie das Reiterregiment die Legionen dieses Geflügels. Sie begnügten sich, davon einige Dutzend zu erlegen, die dann mittels der Curiares von der Wasserfläche aufgefischt wurden. Dem jungen Mann gelangen einige recht glückliche Schüsse, zur großen Genugthuung des Sergeanten Martial, und da dieser sich sagte, daß eine Höflichkeit eine andre werth sei, übersandte er Herrn Miguel und seinen Gefährten, die damit schon reichlich genug versehen waren, einen Theil der Jagdbeute. Er wollte gegen die andre Gesellschaft keine Verbindlichkeiten haben.
Am nächsten Tage hatten die Führer der Piroguen öfters Gelegenheit, ihre Gewandtheit in der Vermeidung von Felsenvorsprüngen zu beweisen. Stießen sie gegen einen solchen an, so bedeutete das, bei dem infolge des Regens hohen Wasserstande, den Verlust des ganzen Fahrzeugs. Das Manöver erforderte nicht allein eine ganz sichere Handhabung der Pirogue am Hintertheile, sondern es galt daneben auch, auf abschwimmende Baumstämme zu achten und ihnen aus dem Wege zu gehen. Diese Bäume rührten alle von der Insel Zamuro her, deren stückweiser Zerfall schon vor einigen Jahren begonnen hatte. Die Insassen der Piroguen konnten sich durch den Augenschein überzeugen, daß die genannte, vielfach unterspülte Insel ihrer gänzlichen Zerstörung entgegenging.
Die Falcas lagen die Nacht über an der stromaufwärts gerichteten Spitze der Insel Casimirito fest. Sie fanden hier hinreichenden Schutz gegen einzelne Windstöße, die sich mit ungeheurer Gewalt entfesselten. Einige leere, gewöhnlich von Schildkrötensängern benützte Hütten dienten den Passagieren als sichrerer Schutz, als ihn das Deckhäuschen bot. Hier ist aber nur von den Passagieren der »Maripare« die Rede, denn die von der »Gallinetta« gingen trotz erhaltener Aufforderung nicht mit ans Land.
Uebrigens war es vielleicht nicht einmal klug, die Insel Casimirito zu betreten, die außer von vielen Affen auch von Pumas und Jaguaren bevölkert ist. Zum Glück nöthigte der Sturm die Raubthiere, sich in ihre Schlupfwinkel zu verkriechen, wenigstens wurde das nächtliche Lager nicht angegriffen. Wenn es in der Luft einmal ruhiger war, vernahm man wohl dann und wann ein wildes Brüllen und lärmendes Geschrei einer Affenart, die den Namen Heulaffen, den ihnen die Naturforscher gegeben haben, gründlich verdient.[78]
Am folgenden Morgen zeigte der Himmel ein etwas freundlicheres Gesicht. Die Wolken hatten sich noch mehr gesenkt, und an Stelle des in hohen Luftschichten gebildeten Platzregens rieselte es ganz sein, wie Wasserstaub, hernieder, und auch das hörte mit Tagesanbruch bald auf. Dann und wann blickte die Sonne durch das Gewölk und eine Nordostbrise frischte auf, bei der die Piroguen ihr Segel voll ausnutzen konnten, da der Strom hier und jenseits Buena Vista nach Westen abbiegt, ehe er sich mehr nach Süden wendet.
Das Bett des jetzt sehr breiten Orinoco bot da einen Anblick, über den Jean von Kermor und der Sergeant Martial als Nanteser wohl stutzen mochten. Das veranlaßte den alten Soldaten auch zu der Bemerkung:
»He, lieber Neffe, sieh' Dich doch einmal um, wo wir heute sind...«
Aus dem Deckhause tretend, begab sich der junge Mann nach dem Vordertheile des Fahrzeugs, dessen Segel sich hinter ihm blähte. Die sehr klare Luft ließ überall den entfernten Horizont der Ilanos erkennen.
Da vervollständigte der Sergeant Martial noch seine Worte.
»Sollten wir etwa gar nach unsrer geliebten Bretagne zurück versetzt sein? sagte er.
– Ich verstehe Dich, antwortete Jean, hier gleicht der Orinoco ganz der Loire...
– Ja, Jean, unsrer Loire oberhalb wie unterhalb Nantes'. Siehst Du dort die gelben Sandbänke? Wenn hier ein halbes Dutzend Küstenfahrer mit ihrem großen viereckigen Segel einer im Kielwasser des andern dahinzögen, würd' ich glauben, wir müßten bald in Saint-Florent oder in Mauves ankommen!
– Du hast recht, mein guter Martial, die Aehnlichkeit ist frappierend. Die weiten Ebenen, die sich längs der beiden Ufer ausdehnen, erinnern mich jedoch eher an die Wiesenflächen der untern Loire, wie bei Pellerin oder bei Paimboeuf...
– Richtig, lieber Neffe, mir ist's auch so, als müßte jeden Augenblick der Dampfer von Saint-Nazaire auftauchen – der Pyroscaph, wie man da unten mit einem Worte sagt, das mir aus dem Griechischen, das ich nie begreifen konnte, zu stammen scheint.
– Und wenn der Pyroscaph auch käme, lieber Onkel, antwortete der junge Mann lachend, würden wir uns seiner doch nicht bedienen, sondern ihn vorüberrauschen lassen. Nantes ist jetzt da, wo mein Vater ist... nicht wahr?[79]
– Ja, da wo mein wackrer Oberst weilt; und wenn wir ihn gefunden haben, wenn er erst weiß, daß er auf der Welt nicht allein steht, dann... dann fährt er mit uns den Strom wieder hinunter, erst in einer Pirogue, dann mit dem »Simon Bolivar«... und schließlich besteigen wir den Dampfer von Saint-Nazaire, aber nur, um beglückt nach Frankreich heimzukehren...
– Möge Gott Dich hören!« murmelte Jean.
Und bei diesen Worten irrte sein Blick stromaufwärts hinaus nach den Cerros, deren entfernte Silhouette sich im Südosten zeigte.
Dann kam er wieder auf die übrigens ganz richtige Bemerkung zurück, die der Sergeant Martial über die Aehnlichkeit der Loire und des Orinoco in diesem Theile seines Laufes gemacht hatte.
»Ja, meinte er, was man aber zu gewissen Zeiten auf den Sandstrecken hier beobachten kann, das würde man auf der obern wie auf der untern Loire doch niemals sehen.
– Und was wäre das?
– Das sind Schildkröten, die jedes Jahr hierherkommen, ihre Eier abzulegen und sie in den Sand zu vergraben.
– Ah so... hier giebt es also Schildkröten...
– Zu Tausenden! Der Rio, den Du dort am rechten Ufer siehst, hieß auch Rio Tortuga, ehe er den Namen Rio Chaffanjon erhielt.
– Und wenn er Rio Tortuga hieß, hatte er diesen Namen gewiß verdient. Bisher indeß sah ich keine...
– Nur Geduld, Onkel Martial; obgleich die Legezeit schon lange vorüber ist, wirst Du Schildkröten noch in unglaublicher Menge zu sehen bekommen.
– Wenn sie aber nicht mehr legen, werden wir auch ihre Eier nicht kosten können, die, wie mir gesagt wurde, herrliche Leckerbissen sein sollen.
– Ganz vorzügliche! Das Fleisch des Thieres ist aber ebenso wohlschmeckend. Ich hoffe doch, daß unser Schiffer Valdez einige für unsre Suppenschüssel fangen wird.
– O, eine Schildkrötensuppe! rief der Sergeant Martial, mit der Zunge schnalzend.
– Ja, und hier wird sie nicht wie in Frankreich mit Theilen vom Kalbskopf bereitet.
– Es wäre auch, erwiderte der Sergeant Martial, eine so weite Reise nicht werth, wenn man hier nur ein einfaches Kalbsragout zu essen bekäme!«[80]
Der junge Mann täuschte sich nicht in der Annahme, daß die Piroguen nach den Gegenden kommen würden, wo jene Schildträger die Indianer der Nachbargebiete herbeilocken. Wenn diese Eingebornen jetzt hier nur zur Fangzeit erscheinen, so hausten sie dagegen früher in großer Menge auf dem Uferlande des Stromes. Die Taparitos, die Panares, die Yaruros, die Guamos und die Mapoyos bekriegten einander lange Zeit mit größter Bitterkeit, um sich den Besitz dieser Ländereien zu sichern. Vor den Genannten wohnten hier auch früher jedenfalls die jetzt in alle Winde verstreuten Otomacos.
Nach den Berichten Humboldt's waren diese Indianer, die von steinernen Vorfahren abzustammen behaupteten, unermüdliche Ballspieler und als solche noch gewandter als die nach Venezuela eingewanderten Basken europäischer Abkunft. Man zählte sie ferner den Geophagen zu, das heißt den Völkerschaften, die zur Zeit, wo es an Fischen fehlte, halbfeuchte Kugeln aus Lehm oder reinem Thon verzehrten. Das ist übrigens eine Gewohnheit, die auch heute noch da und dort besteht. Diese Unsitte – von etwas Anderem kann man dabei doch kaum reden – eignen sich die Leute schon in früher Kindheit an und können später unmöglich davon ablassen. Die Geophagen verschlingen Erde, wie die Chinesen Opiumrauchen – beide können dem Verlangen danach nicht widerstehen. Chaffanjon hat mehrere solcher Elenden getroffen, die sogar den Lehm von ihren Strohhütten abnagten.
Am Nachmittage hatten die Falcas mit tausenderlei Schwierigkeiten zu kämpfen, die den Mannschaften viel Mühe bereiteten. Die Strömung war in diesem Theile des von hereinragenden Sandbänken eingeengten Bettes ungemein schnell.
Bei einem mit schweren Wolken bedeckten Himmel und mit Elektricität geschwängerter Luft, hörte man von Süden her das Rollen des Donners, die Brise schwächte sich mehr und mehr ab, und nur dann und wann machte sich ein leichter Windhauch bemerkbar.
Unter diesen Umständen verlangte es die Klugheit, schützendes Unterkommen zu suchen, denn man weiß niemals, wie sich die Unwetter über dem Orinoco gestalten und ob sie nicht die ärgsten atmosphärischen Störungen mitbringen. Die Bootsleute beeilen sich deshalb gern, in eine tiefe Bucht einzulaufen, deren hohe Uferwände sie vor den Angriffen verheerender Windstöße schützt.
Leider zeigte dieser Theil des Stromes keinen derartigen Schlupfwinkel. Auf beiden Seiten dehnten sich die Ilanos bis über Sehweite hinaus aus, ungeheure ganz baumlose Prärien, über die der Sturm, ohne irgend ein Hinderniß zu treffen, hinwegfegen konnte.[83]
Herr Miguel, der sich bei dem Schiffer Martos erkundigen wollte, was dieser zu thun gedenke, fragte ihn, ob er sich nicht genöthigt sehen werde, bis zum nächsten Tage mitten im Strome zu ankern.
»Das wäre gefährlich, antwortete Martos. Unser Anker würde hier keinen Halt finden; wir selbst würden auf den Sand getrieben, umgeworfen und in Stücke geschlagen werden...
– Was ist dann also zu beginnen?
– Wir wollen versuchen, das nächste, stromaufwärts gelegene Dorf zu erreichen; erscheint das unmöglich, so kehren wir nach der Insel Casimirito zurück, an der wir in letzter Nacht gelegen haben.
– An welches Dorf denken Sie?
– An Buena Vista am linken Ufer.«
Dieses Verhalten schien so angezeigt, daß Valdez, ohne sich mit Martos verabredet zu haben, schon die Richtung nach jenem Dorfe einschlug.
Augenblicklich hingen die Segel schlaff an den Masten herunter. Die Bootsleute zogen sie gänzlich ein, um dem erwarteten Wind jeden Angriffspunkt zu nehmen. Vielleicht brach dieser vor Ablauf von einer oder zwei Stunden noch nicht los. Die bleigrauen Wolken schienen am südlichen Horizont wie festgenagelt zu stehen.
»Schlechtes Wetter, sagte der Sergeant Martial, sich an den Schiffer Valdez wendend.
– Freilich, schlechtes Wetter, bestätigte dieser, doch suchen wir darüber Herr zu werden!«
Die beiden Piroguen schwammen etwa fünfzig Fuß, nicht mehr, entfernt von einander dahin. Die langen gabelförmigen Stangen wurden auf den sandigen Grund gestoßen, um die Fahrzeuge vorwärts zu bewegen. Es war eine harte Arbeit mit nur wenig Erfolg, da die Strömung überwunden werden mußte. Auf andre Weise konnte man aber gar nicht vorwärts kommen. Daneben erschien es von Wichtigkeit, immer nahe dem linken Stromufer zu bleiben, um sich nöthigenfalls mittelst Espilla fortlootsen zu können.
Eine gute Stunde dauerte diese Arbeit schon an. Wie oft drängte sich da die Besorgniß auf, daß die Falcas, wenn sie nicht vor Anker gingen, stromabwärts gerissen und vielleicht auf Klippen geschleudert würden. Dank der Geschicklichkeit der Schiffer und der kräftigen Anstrengungen der Mannschaften, denen die Herren Miguel, Felipe und Varinas auf der einen und der Sergeant[84] Martial nebst Jean auf der andern Seite zu helfen sich bemühten, gelang es aber den beiden Fahrzeugen, das linke Ufer zu erreichen, ohne bei der schrägen Fahrt über den Strom besonders an Weg verloren zu haben.
Jetzt konnte und mußte die Espilla zu Hilfe genommen werden, und bei einiger Kraftanstrengung konnte man hoffen, nicht stromabwärts verschlagen zu werden.
Auf den Vorschlag des Schiffers Valdez verband man die Piroguen eine hinter der andern, und die Mannschaften von beiden unterstützten sich nun, sie längs des Ufers hinaufzuschleppen. Wenn die Gestaltung des Ufers es erlaubte, gingen sie gleich ans Land und zogen die Fahrzeuge weiter, die die Pagaie des Steuermanns in gewünschter Richtung hielt. Konnte man zu Fuß auf dem Uferlande nicht weiter so wurde die Espilla etwa vierzig Meter stromaufwärts geschafft und an einem Felsstück oder Baumstumpf befestigt. Darauf kehrten die Leute an Bord der »Maripare« zurück und zogen vereint die Fahrzeuge ein Stück stromauf.
Auf diese Weise kam die Reisegesellschaft an den Inseln Seiba, Cururuporo und Estiliero, die links liegen blieben, und bald nachher an der dem rechten Ufer naheliegenden Insel Posso Redondo vorüber.
Inzwischen stieg das Gewitter bis zum Zenith empor. Ueber den ganzen Horizont zuckten häufig die mächtigsten Blitze. Das Krachen und Rollen des Donners setzte fast keine Secunde aus. Zum Glück befanden sich aber die beiden Piroguen gegen acht Uhr abends, als der mit Hagelschauern gemischte Sturm am schlimmsten wüthete, am linken Ufer des Orinoco vor dem Dorfe Buena Vista in Sicherheit.
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