Dreizehntes Capitel.
Zwei Monate in der Mission.

[390] Seit dem Verschwinden des Oberst von Kermor, seit seiner Abfahrt nach der Neuen Welt, waren vierzehn Jahre verflossen, und die Geschichte dieser vierzehn Jahre mag hier in wenigen Zeilen Platz finden.

Es war im Jahre 1872, wo von Kermor die Nachricht erhielt, daß mit dem Untergange des »Norton« auch seine Gattin und sein Kind den Tod gefunden hatten. Die Umstände, unter denen der Unfall sich zutrug, gestatteten ihm gar nicht zu glauben, daß von den beiden ihm so theuern Wesen das eine, sein Töchterchen Jeanne, damals noch ein ganz kleines Kind, hätte gerettet werden können. Er kannte Jeanne ja nicht einmal, da er Martinique kurz vor ihrer Geburt hatte verlassen müssen.[390]

Ein Jahr lang blieb der Oberst von Kermor noch an der Spitze seines Regiments. Dann kam er um seine Entlassung ein, und da ihn keine Familienbande an diese Welt mehr fesselten, beschloß er, den Rest seines Lebens dem gottgefälligen Werke der äußern Mission zu weihen.

Schon immer lebte in ihm neben der des Soldaten die Seele des Apostels. Der Officier war ganz dazu vorbereitet, sich in den Priester, den streitbaren Priester zu verwandeln, der sich der Bekehrung oder, mit andern Worten, der Civilisierung wilder Volksstämme widmet.

Heimlich verließ der Oberst von Kermor, ohne irgend jemand, nicht einmal den Sergeanten Martial, in seine Pläne eingeweiht zu haben, das französische Vaterland im Jahre 1875 und begab sich nach Venezuela, wo so viele Indianerstämme, in Unwissenheit dahinlebend, dem leiblichen und geistigen Verfall entgegengingen.

Als er in diesem Lande seine kirchlichen Studien beendet hatte, erhielt er die Ordination als Priester und trat in die Gesellschaft für äußere Mission unter dem Namen Pater Esperante ein, der sein Incognito in der neuen Lebensbahn schützen sollte.

Seine Entlassung als Officier erfolgte im Jahre 1873 und seine Ordination 1878, als er neunundvierzig Jahre zählte.

In Caracas war es, wo sich der Pater Esperante dafür entschied, seinen Aufenthalt in den fast unbekannten Gebieten des südlichen Venezuela zu wählen, wohin Missionäre nur sehr selten vordrangen. Eine ganze Menge eingeborner Stämme hatten wohl noch nie etwas von der veredelnden Lehre des Christenthums gehört oder waren wenigstens trotzdem Wilde geblieben wie vorher. Diese aufzusuchen bis zu den Landstrichen, die schon an Brasilien grenzten, das war die Aufgabe, zu der sich der französische Missionär berufen fühlte, und ohne daß jemand von seinem frühern Beruf das Geringste ahnte, brach er zu Anfang des Jahres 1879 dahin auf.


Seine strömenden Freudenthränen glichen einer Taufe. (S. 395.)
Seine strömenden Freudenthränen glichen einer Taufe. (S. 395.)

Nachdem er den Mittellauf des Orinoco hinausgefahren war, kam der Pater Esperante, der nun das Spanische wie seine Muttersprache beherrschte, nach San-Fernando, wo er sich einige Monate aufhielt. Von diesem Orte aus richtete er einen Brief an einen seiner Freunde, einen Notar in Nantes. Diesen Brief – den letzten, den er mit seinem wahren Namen unterzeichnete und der nur die Ordnung einer Familienangelegenheit betraf – bat er den Empfänger geheim zu halten.[391]

Hier muß daran erinnert werden, daß dieser in den hinterlassenen Papieren des Notars vorgefundene Brief dem Sergeanten Martial erst 1891, als Jeanne schon fast sechs Jahre bei ihm lebte, in die Hand gekommen war.

Dank seinen persönlichen Hilfsmitteln konnte sich der Pater Esperante in San-Fernando Alles beschaffen, was ihm zur Errichtung einer Station jenseits der Quellen des Stromes nöthig war. In demselben Orte nahm er auch den Bruder Angelos in seine Dienste, der, schon vertraut mit den Sitten der Indianer, sich ihm ebenso nützlich, wie für die edle Aufgabe begeistert erweisen sollte.[392]

Der Bruder Angelos lenkte die Aufmerksamkeit des Pater Esperante auf die Guaharibos, die zum größten Theile an den Ufern des obern Orinoco und in der Nachbarschaft der Sierra Parima umherzogen. Grade diese Indianer zu bekehren, war eine That warmen Mitgefühls, denn man zählte sie zu den verwildertsten Eingebornen Venezuelas. Die Guaharibos standen ja, wie erwähnt, in dem Rufe von Räubern, Mördern und Menschenfressern, ein Leumund, den sie wenigstens in diesem Grade keineswegs verdienten.


 »Reizend als junger Mann und reizend als junges Mädchen!« (S. 400.)
»Reizend als junger Mann und reizend als junges Mädchen!« (S. 400.)

Das war aber nicht dazu angethan, einen so entschlossenen Mann wie den ehemaligen Oberst von Kermor zurückzuschrecken, und er blieb bei dem Vorsatze, eine Mission im Norden des Roraima zu begründen und die Eingebornen der Umgegend um sich zu sammeln.

Der Pater Esperante und der Bruder Angelos verließen San-Fernando in zwei Piroguen, die mit allem für ihre erste Einrichtung unentbehrlichen Material beladen waren. Das Weitere sollte je nach Bedarf zur kleinen Colonie nachgesendet werden. Die Falcas segelten also den Strom hinauf, legten dabei bei den bedeutenderen Ortschaften und den Ranchos am Ufer an und erreichten glücklich den Rio Torrida im Gebiete der Guaharibos.

Nach vielen fruchtlosen Versuchen, zwecklosen Bemühungen und mancherlei Fährlichkeiten gelang es dem Pater Esperante durch seine Güte und Hochherzigkeit doch schließlich, die Indianer zu sich heranzuziehen. Auf der Landkarte gab das bald ein neues Dorf, dem der Missionär den Namen Santa-Juana beilegte... Juana, den Namen, der der seines Töchterchens gewesen war.

So vergingen vierzehn Jahre. Die Mission blühte empor – der Leser weiß, unter welchen Verhältnissen. Es hatte schon den Anschein, daß den Pater Esperante nichts wieder mit seiner schmerzlichen Vergangenheit verknüpfen sollte, als sich die Vorgänge abspielten, die den Inhalt dieser Erzählung bilden.

Nach der Erklärung des Sergeanten Martial hatte der Oberst Jeanne in seine Arme gepreßt, und seine strömenden Freudenthränen glichen einer Taufe, mit der er die Stirn seines Kindes benetzte. Mit kurzen Worten berichtete das junge Mädchen ihm über ihren Lebenslauf, ihre Rettung an Bord des »Vigo«, über ihren Aufenthalt bei der Famlie Eridia in Havana und ihre Rückkehr nach Frankreich, ferner über den Entschluß, den sie gefaßt hatte, sobald ihr und dem Sergeanten Martial sein in San-Fernando aufgegebener Brief übermittelt worden war. Dann schilderte sie ihre Reise nach Venezuela, die sie als junger Mann verkleidet und unter dem Namen Jean antrat, die Fahrt auf dem[395] Orinoco, den Ueberfall durch den schurkischen Alfaniz und seine Quivas an der Furt von Frascaes und endlich die jetzige, so wunderbare Rettung.

Darauf begaben sich Beide nach dem Wagen zu dem alten Soldaten. Der Sergeant Martial fühlte sich wie neugeboren... er »strahlte«, wie man zu sagen pflegt, doch er weinte gleichzeitig, und immer und immer wieder sagte er:

»Mein Oberst... mein Oberst! Nun unsre Jeanne ihren Vater wiedergefunden hat, kann ich getrost sterben...

– Das verbiete ich Dir strengstens, alter Kriegskamerad!

– Ja, wenn Sie mir's freilich verbieten...

– Natürlich. Wir werden Dich pflegen, Dich wiederherstellen.

– O, wenn Sie mich pflegen, dann sterb' ich nicht... gewiß noch nicht!

– Du bedarfst aber dringend der Ruhe.

– Die wird mir nicht fehlen, Herr Oberst. Schon kommt der Schlaf wieder über mich, und diesmal wird es ein guter, stärkender Schlaf werden.

– Immer schlaf' Du, mein alter Freund, schlafe nur!... Wir kehren nach Santa-Juana zurück. Die Fahrt dahin wird Dir keine Beschwerden machen, und in wenigen Tagen bist Du wieder auf den Füßen.«

Der Oberst von Kermor hatte sich über das Lager des Verletzten gebeugt, hatte die Lippen auf die Stirn des Sergeanten Martial gedrückt, und sein alter Freund war dabei lächelnd eingeschlummert.

»Mein Herzensvater, rief Jeanne, wir werden ihn doch wohl retten?

– Mit Gottes Hilfe, ja, meine geliebte Jeanne!« antwortete der Missionär.

Germain und er hatten schon vorher die Verwundung des Sergeanten Martial genau untersucht, und sie glaubten, daß diese keine tödliche Folge haben werde.

Später erfuhr man auch, daß es der verruchte Alfaniz gewesen war, der auf den alten Soldaten in dem Augenblicke geschossen hatte, wo dieser sich in einem Anfall von Wuth auf ihn gestürzt hatte.

Der Pater Esperante sagte dann:

»Heute mögen meine wackern Indianer ausruhen und Ihre Gefährten, Herr Helloch, ebenfalls, denn Alle bedürfen einer gründlichen Erholung. Morgen schlagen wir den kürzesten Weg nach der Mission wieder ein, wobei uns Gomo führen wird.

– O, diesem muthigen Kinde verdanken wir im Grunde unsre Rettung, bemerkte Jeanne.[396]

– Ja, ich weiß es,« antwortete der Pater Esperante.

Darauf rief er den jungen Indianer herbei.

»Komm hierher, Gomo, komm zu mir!... Ich umarme Dich im Namen Aller, die Du gerettet hast!«

Und nachdem er aus den Armen des Pater Esperante freigekommen war, umschlangen ihn noch die Jeannes, die er in seiner Verwirrung immer noch: Mein Freund Jean! nannte.

Da das junge Mädchen die seit Beginn der Reise getragene Männerkleidung, wie wir wissen, noch nicht abgelegt hatte, fragte sie der Pater, ob ihre Begleiter wohl wüßten, daß Jean von Kermor eigentlich Jeanne von Kermor wäre. Darüber sollte er bald genug Aufklärung erhalten.

Als er nun Jacques Helloch und Germain Paterne, sowie Parchal und Valdez, den beiden Schiffern, deren opferfreudige Dienstwilligkeit sich im Verlaufe der langen und beschwerlichen Fahrt stets bewährte, dankend die Hand gedrückt hatte, nahm Jeanne von Kermor das Wort.

»Ich muß Dir sogleich mittheilen, liebster Vater, was ich unsern beiden Landsleuten Alles zu danken habe – ach, so viel, daß ich es in meinem Leben nicht wieder gut machen kann.

– Mein Fräulein, fiel da Jacques Helloch ein, ich bitte Sie... ich habe ja gar nichts für Sie gethan!

– Lassen Sie mich ausreden, Herr Helloch....

– Sprechen Sie aber nur von Jacques, nicht von mir, Fräulein von Kermor, rief Germain Paterne lachend, ich verdiene überhaupt keinen Dank.

– Ich bin Ihnen Beiden tief verpflichtet, liebe Reisegefährten, fuhr Jeanne fort, ja wohl, Beiden, mein theurer Vater. Wenn Herr Helloch mir das Leben gerettet hat...

– Sie haben meinem Kinde das Leben gerettet?« rief der Oberst von Kermor.

Jacques Helloch mußte es sich nun wohl oder übel gefallen lassen, den Bericht mit anzuhören, den Jeanne über den Schiffbruch der Piroguen kurz vor San-Fernando erstattete, und wie sie dabei, dank seinem Opfermuthe, dem Tode entgangen sei.

Weiter setzte das junge Mädchen dann hinzu:

»Ich sagte, lieber Vater, daß mir Herr Helloch das Leben gerettet hat; er hat aber auch noch mehr gethan, indem er uns, Martial und mich, begleitete,[397] sich an unsern Nachforschungen betheiligte... er sowohl, wie Herr Germain Paterne...

– Ei der Tausend! entgegnete der Letztere abwehrend. Sie dürfen wohl glauben, mein Fräulein, daß wir von Anfang an beabsichtigten, bis zu den Quellen des Orinoco hinauszugehen. Dahin lautete der Auftrag, den uns der Minister der öffentlichen Aufklärung...

– O nein, Herr Germain, nein, erwiderte Jeanne lächelnd, Sie sollten und wollten sich nur bis San-Fernando begeben, und wenn Sie nun bis Santa-Juana mitgegangen sind...

– So war das nichts weiter als unsre Pflicht!« erklärte Jacques Helloch.

Selbstverständlich erhielt der Oberst von Kermor später mehr ins Einzelne gehende Mittheilungen, und erfuhr er die verschiedenen Ereignisse während dieser abenteuerlichen Fahrt. Doch trotz der Zurückhaltung, die Jacques Helloch sich auferlegte, erkannte der Vater, als er Jeanne von so warmem Danke überströmen sah, doch schon ein wenig, welche Gefühle das Herz seiner Tochter erfüllten.

Während Jean von Kermor, Jacques Helloch, Germain Paterne und er über diese Dinge sprachen, ordneten Parchal und Valdez das Lager, wo der Rest des Tages und die folgende Nacht verbracht werden sollten. Ihre Leute hatten die im Kampfe Gefallenen in zwischen tiefer in den Wald geschafft. Der verwundeten Guaharibos nahm sich Germain Paterne an und versorgte sie mit zweckmäßigem Verbande.

Nachdem dann aus dem Wagen Nahrungsmittel geholt und an Alle in reichlicher Menge vertheilt waren, begaben sich, als schon an verschiedenen Stellen lustige Feuer aufloderten, Jacques Helloch und Germain Paterne in Begleitung des Oberst von Kermor und seiner Tochter nach den nahe am Ufer auf dem Trocknen liegenden Piroguen hinunter.

Diese erwiesen sich unbeschädigt, denn Alfaniz hatte sich ihrer bedienen wollen, um, den Ventuari hinaufsegelnd, nach den westlichen Gebieten zu gelangen. Sobald sich der Wasserstand ein wenig hob, konnten die beiden Falcas also wieder den Strom hinuntergleiten.

»Und die elenden Spitzbuben, rief Germain Paterne, haben wenigstens meine Sammlungen verschont! Wenn ich nun ohne sie nach Europa zurückgekehrt wäre! Erst überall so Vieles photographiert zu haben, und dann keine einzige Platte mit heimzubringen!... Niemals hätte ich es gewagt, dem Minister für öffentliche Aufklärung mit so leeren Händen vor Augen zu treten!«[398]

Die Freude des Naturforschers kann man sich wohl ebenso vorstellen, wie die Befriedigung der andern Passagiere der »Moriche« und der »Gallinetta«, als diese an Bord noch alle ihre Reiseeffecten wiederfanden, abgesehen von den Waffen, die sie auf der Waldblöße wieder zusammensuchen konnten.

Jetzt konnten die Piroguen, ohne irgend etwas zu fürchten zu haben, unter der Obhut der Mannschaften an der Mündung des Rio Torrida liegen bleiben. Wenn die Stunde zur Wiedereinschiffung herankam – wenigstens für die Insassen der »Moriche« – hatten Jacques Helloch und Germain Paterne nur einfach an Bord zu gehen.

Vorläufig war natürlich von einer Abfahrt keine Rede. Der Pater Esperante sollte nach Santa-Juana neben seiner Tochter auch deren treue Begleiter, den Sergeanten Martial, den jungen Gomo und den allergrößten Theil seiner Indianer zurückführen.

Wie hätten sich da die beiden Franzosen weigern können, einige Tage, selbst einige Wochen auf der Mission im Hause eines Landsmanns zuzubringen?

Sie nahmen die Einladung also ohne Widerrede an.

»Es geht gar nicht anders, bemerkte Germain Paterne gegen Jacques Helloch. Bedenke nur einmal... nach Europa zurückzukehren, ohne Santa-Juana besucht zu haben! Nein, ich hätte es gar nicht gewagt, mich dem Minister für öffentliche Aufklärung vorzustellen, und Du auch nicht, Jacques!

– Nein, ich auch nicht, Germain!

– Sapperment, wir hätten uns schämen müssen!«

Am heutigen Tage wurden alle Mahlzeiten gemeinschaftlich eingenommen. Die Vorräthe der Piroguen und der von Santa-Juana mitgeführte Proviant lieferten dazu alles Nöthige. Nur der Sergeant Martial befand sich nicht unter den Theilnehmern, doch er war ja so glücklich, so glücklich, seinen Oberst – wenn dieser auch die Kutte des Pater Esperante trug – endlich wiedergefunden zu haben. Die gute Luft in Santa-Juana mußte ihn doch binnen wenigen Tagen völlig wiederherstellen. Daran zweifelte er keinen Augenblick.

Selbstverständlich mußten Jacques Helloch und Jeanne dem Oberst von Kermor noch ganz eingehend über den Verlauf der Reise berichten. Er hörte ihnen zu, beobachtete Beide und erkannte leicht die Gefühle, die sich in Jacques Helloch's Herzen regten. Das machte ihm Gedanken. Welch neue Pflichten würde die ganz neue Sachlage ihm nun auferlegen?[399]

Natürlich legte Jeanne von Kermor noch am heutigen Tage die ihr zukommende Kleidung an, die in einem im Deckhause der »Gallinetta« untergebrachten Koffer aufbewahrt war.

Da sagte Germain zu seinem Freunde:

»Reizend als junger Mann und reizend als Mädchen! Wahrlich, ich habe mich auf derlei Dinge doch nicht recht verstanden!«


Er durfte unter dem Schatten der Palmen sitzen. (S. 402.)
Er durfte unter dem Schatten der Palmen sitzen. (S. 402.)

Am nächsten Tage und nach Verabschiedung von Parchal und Valdez, die es vorzogen, zur Bewachung der Piroguen zurückzubleiben, verließen der Pater[400] Esperante, seine Gäste und die Guaharibos das Lager am Pic Maunoir. Mit Hilfe der Pferde und der Wagen konnte der Weg durch die Wälder und die Savanne nicht besonders anstrengend werden.


Die »Gallinetta« und die »Moriche« mußten mühsam geschleppt werden. (S. 406.)
Die »Gallinetta« und die »Moriche« mußten mühsam geschleppt werden. (S. 406.)

Jetzt wurde auch nicht die vorher eingehaltene Richtung nach den Quellen des Orinoco hin gewählt. Am kürzesten war es ja, dem rechten Ufer des Rios zu folgen, wie es Jacques Helloch unter Führung des jungen Indianers schon gethan hatte. Die ganze Truppe kam jetzt so schnell vorwärts, daß zu Mittag bereits die Furt von Frascaes erreicht war.[401]

Von den jetzt in alle Winde verstreuten Quivas war keine Spur zu entdecken. Von ihnen hatte man nichts zu fürchten.

An der Furt wurde eine Stunde lang Halt gemacht, und da sich der Sergeant Martial von der Wagenfahrt keineswegs angegriffen fühlte, brach man dann getrosten Muthes nach Santa-Juana zu wieder auf.

Die Strecke zwischen dem Halteplatze und dem Dorfe wurde in einigen Stunden zurückgelegt, und noch am Nachmittage war die Mission glücklich erreicht.

An dem Empfange, der dem Pater Esperante hier zutheil wurde, erkannten Jacques Helloch und seine Begleiter, wie innig seine treuen Indianer ihn liebten.

Zwei Zimmer im Pfarrhause wurden nun Jeanne von Kermor und dem Sergeanten Martial eingeräumt, zwei andre Jacques Helloch und Germain Paterne in einem anstoßenden Häuschen, wo Bruder Angelos die Fremden willkommen hieß.

Am folgenden Tage rief die Glocke der kleinen Kirche das ganze Dorf zu einem Dankgottesdienst zusammen. Was empfand da, bei der vom Pater Esperante celebrierten heiligen Messe, das junge Mädchen, als sie ihren Vater zum ersten Male vor dem Altare sah! Und welchen Eindruck hätte das auf den Sergeanten Martial gemacht, wenn er dem von seinem Oberst geleiteten Gottesdienste hätte beiwohnen können!

Es erübrigt wohl, von den einzelnen Tagen, die in der Mission von Santa-Juana vergingen, hier eingehend zu berichten, und es genüge zu wissen, daß das Befinden des Verwundeten die erfreulichsten raschen Fortschritte machte. Schon am Ende der Woche durfte er auf einem mit weichem Hirschleder überzogenen Lehnstuhle unter dem Schatten der Palmen sitzen.

Der Oberst und seine Tochter hatten wiederholt längere Zwiegespräche über die Vergangenheit. Jeanne erfuhr nun erst, wie der der Gattin beraubte Gatte, der des Kindes beraubte Vater sich entschlossen hatte, sein ganzes Leben diesem apostolischen Werke zu widmen. Konnte er's jetzt, in noch unvollendetem Zustande, wieder aufgeben?... Nein, gewiß nicht! Jeanne sollte aber hier bleiben und ihm ihr späteres Leben weihen.

An einen solchen Gedankenaustausch schlossen sich auch häufiger Gespräche zwischen dem Pater Esperante und dem Sergeanten Martial an. Der Missionär dankte dem alten Waffengefährten für Alles, was er für seine Tochter gethan... und vorzüglich auch, daß er der Reise hierher zugestimmt hatte. Dann fragte er ihn mehr beiläufig über Jacques Helloch und erkundigte sich, ob Martial[402] die Beiden – Jeanne und den jungen Mann – wohl ein wenig näher beobachtet habe.

»Ja, ich versichere Ihnen, Herr Oberst, daß ich die strengsten Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte. Da gab es nur einen Jean, einen jungen Burschen aus der Bretagne, einen Neffen, dem sein Onkel, wenn auch nicht freudigen Herzens, nach diesem Lande der Wilden zu reisen gestattete. Es hat, wie es scheint, eben so sein sollen, daß Jacques Helloch und unsre liebe Tochter einander unterwegs kennen lernten. Ich habe Alles gethan, es zu verhindern... hab' es aber nicht gekonnt. Da hat der Teufel seine Hand mit im Spiele gehabt!

– O nein... doch Gott, mein braver Kriegsgefährte!« antwortete der Pater Esperante.

Inzwischen verstrich die Zeit, und die Dinge kamen um keinen Schritt weiter. Warum zögerte eigentlich Jacques Helloch, sich offen auszusprechen? Meinte er vielleicht, sich doch zu täuschen?... O nein, weder über seine eigenen Gefühle, noch über die, die er Jeanne von Kermor eingeflößt hatte. Nur eine ihn gewiß ehrende Zurückhaltung gebot ihm Schweigen. Das Gegentheil hätte ja ausgesehen, als beanspruche er nun den Preis für die von ihm geleisteten Dienste.

Sehr zu gelegener Zeit brachte Germain Paterne indeß »den Stein zum Rollen«, und eines Tages begann er zu seinem Freunde:

»Nun... wann reisen wir denn wieder ab?

– Sobald Du willst, Germain.

– Das ist ja recht schön, nur wirst Du es nicht wollen, wenn ich es will...

– O... warum denn?

– Weil Fräulein von Kermor dann verheiratet sein wird...

– Verheiratet!...

– Ja... denn ich werde um ihre Hand anhalten.

– Was kommt Dir in den Sinn? rief Jacques fast heftig.

– Na, na, nur gelassen! Natürlich nicht für mich, sondern für Dich!«

Und das that er denn auch, ohne sich durch Einwendungen, die ihm unangebracht erschienen, abhalten zu lassen.

Jacques Helloch und Jeanne von Kermor traten in Gegenwart Germain Paterne's und des Sergeanten Martial vor den Missionär, der sie nach ihrem Begehr fragte.[403]

»Jacques, begann das junge Mädchen mit tief erregter Stimme, ich bin bereit, die Ihrige zu werden... das wird in meinem ganzen Leben nicht genug sein, Ihnen meine Dankbarkeit zu bezeugen.

– Jeanne, meine theure Jeanne, antwortete Jacques Helloch, ach, ich liebe Sie... ja, ich liebe Sie schon längst!

– Nun, sage nichts weiter, lieber Freund, rief Germain Paterne. Etwas Besseres würdest Du doch nicht zu sagen finden!«

Der Oberst von Kermor zog seine beiden Kinder an sich, die, an seinem Herzen liegend, den Bund für's Erdenleben schlossen.

Die Trauung des jungen Paares sollte in Santa-Juana nach Verlauf von vierzehn Tagen stattfinden. Nachdem der Pater Esperante als Standesbeamter in der Mission die Civiltrauung verrichtet hätte, würde er auch die kirchliche Einsegnung der Neuvermählten folgen lassen und ihnen dabei den väterlichen Segen ertheilen. Jacques Helloch, der völlig frei dastand und dessen Familie der Oberst von Kermor früher gekannt hatte, brauchte keine Genehmigung einzuholen. Sein Vermögen und das vom Sergeanten Martial verwaltete Vermögen Jeannes mußte den jungen Leuten ein reichliches Auskommen sichern. Einige Wochen nach der Hochzeit sollten sie abreisen und dann über Havana fahren, um dort die Familie Eridia aufzusuchen. Darauf würden sie nach Europa reisen, in Frankreich, in der Bretagne, ihre Angelegenheiten ordnen und schließlich nach Santa-Juana zum Oberst von Kermor und zu dem alten Soldaten zurückkehren.

So lauteten die Bestimmungen, die allseitigen Beifall fanden, und am 25. November vollzog, im Beisein der festlich gekleideten Einwohnerschaft und in Gegenwart Germain Paterne's und des Sergeanten Martial, die als Zeugen dienten, der Vater die civile und die kirchliche Trauung seiner Tochter Jeanne von Kermor mit dem überglücklichen Jacques Helloch.

Es war eine ergreifende Feierlichkeit, die im Dorfe allgemeinster Theilnahme begegnete und eine tiefe Erregung zurückließ. Die wackern Guaharibos gaben dabei ihrer Freude in lautester Weise Ausdruck.

Nahezu ein Monat ging noch dahin, dann kam Germain Paterne der Gedanke, daß es doch wohl Zeit wäre, der wissenschaftlichen Mission, womit sein Genosse und er vom Minister für öffentliche Aufklärung betraut worden waren, endlich Rechnung zu tragen. Man sieht, daß es immer der Minister war, den er als Vermittler seiner Absichten zu Hilfe nahm.[404]

»Schon jetzt?« antwortete ihm Jacques Helloch auf seine Erinnerung.

Jacques Helloch hatte eben die Tage nicht gezählt... er war zu glücklich, um solche Rechnungen anzustellen.

»Ja wohl... schon! erwiderte Germain Paterne. Seine Excellenz muß ja annehmen, wir wären von venezuolanischen Jaguaren aufgezehrt worden, wenn unsre Erdenlaufbahn nicht etwa im Magen von Caraïben geendet hätte!«

In Uebereinstimmung mit dem Pater Esperante wurde nun die Abreise auf den 22. December festgesetzt.

Nicht ohne schwere Beklemmung des Herzens sah der Oberst von Kermor die Stunde herannahen, wo er sich von seiner Tochter trennen sollte, wenn es auch beschlossen war, daß diese nach einigen Monaten zu ihm zurückkäme. Die jetzige Reise erfolgte ja unter wesentlich günstigeren Bedingungen, und Frau Jacques Helloch war dabei nicht solchen Unannehmlichkeiten und Gefahren wie Jeanne von Kermor ausgesetzt. Die Thalfahrt auf dem Strome bis Ciudad-Bolivar verlief voraussichtlich schnell genug – freilich ohne die Gesellschaft der Herren Miguel, Felipe und Varinas, die San-Fernando jetzt jedenfalls wieder verlassen hatten.

Es war zu erwarten, daß die Piroguen binnen fünf Wochen Caïcara erreichten, und von da aus sollte einer der auf dem untern Orinoco verkehrenden Dampfer benutzt werden. Was aber die schließliche Rückkehr nach Santa-Juana betraf, konnte man Jacques Helloch wohl zutrauen, daß er sie mit größter Schnelligkeit und in möglichster Sicherheit auszuführen wissen werde.

»Obendrein, mein Herr Oberst, bemerkte der Sergeant Martial, hat unsre Tochter den besten Ehemann, sie in Schutz zu nehmen, und der ist mehr werth als so ein Dreiviertels-Invalid... ein alter dummer Kerl, der nicht einmal im Stande war, sie zu retten... weder aus den Fluthen des Orinoco, noch vor der Liebe dieses braven, ehrenfesten Jacques Helloch!«[405]

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 390-393,395-406.
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