[250] Schon seit achtundvierzig Stunden zeigten sich am östlichen Horizont die Umrisse eines Berges, den die beiden Schiffer Valdez und Parchal für den Cerro Yapacana erklärten. Sie fügten dem auch hinzu, daß dieser Berg von Geistern bewohnt sei, die alljährlich, im Februar und März, auf seinem Gipfel ein mächtiges Feuer auflodern ließen, dessen Widerschein die ganze Gegend erhellt und bis zum Himmel hinanreicht.
Am Abend des 11. October hatten die Piroguen die Stelle erreicht, von wo aus jener vier Kilometer lange, anderthalb Kilometer breite und etwa zwölfhundert Meter hohe Cerro sich am besten überblicken läßt.
In den drei Tagen nach der Abreise von Carida war die von einer beständigen Brise unterstützte Fahrt der Falcas ziemlich schnell und unbehindert verlaufen. Die Reisenden waren dabei an der Insel Luna vorübergekommen und den von dicht mit Palmenhainen bedeckten Ufern eingefaßten Strom hinausgefahren, ohne jede andre Schwierigkeit, als die der Passage eines unbedeutenden[250] Raudal, das die »Teufelsbarre« genannt wird – obwohl sich der Teufel hier keineswegs quer vor den Weg gelegt hat.
Der Cerro von Yapacana steigt aus der Ebene empor, die sich an der rechten Seite des Orinoco hinzieht. Wie bereits Chaffanjon bemerkt hat, zeigt er sich in der Gestalt eines riesenhaften Sarkophags.
»Das erklärt es ja, bemerkte Germain Paterne, daß allerlei Feld- und Waldgeister, Gespenster, Hexen und andre Fabelwesen mythologischen Ursprungs sich mit Vorliebe dahin zurückziehen.«
Am linken Ufer, gegenüber dem Cerro und oberhalb der Insel Mavilla, befand sich die Niederlassung eines venezuolanischen Handelscommissars, eines Mestizen, namens Manuel Assomption. Der Mann lebte hier mit seiner Gattin, ebenfalls einer Mestizin, und mehreren Kindern – im Ganzen eine recht interessante Familie.
Als die Falcas vor Danaco anhielten, was erst in der Dunkelheit erfolgte, war die Fahrt durch eine der »Gallinetta« zugestoßene Havarie etwas verzögert gewesen. Trotz seiner Gewandtheit hatte Valdez es nicht verhindern können daß seine von einem Wasserwirbel erfaßte Pirogue an einen Felsblock anprallte. Durch den Stoß war ein zum Glück nur kleines Leck entstanden, das schon mit einer mäßigen Menge trocknen Grases wenigstens nothdürftig geschlossen werden konnte. Für die weitere Reise mußte die beschädigte Stelle freilich gründlich ausgebessert werden, und dazu bot sich in Danaco günstige Gelegenheit.
Die Passagiere blieben die Nacht über am Fuße des Uferrandes an der Südseite der Insel Mavilla, ohne daß ihre Ankunft dem Commissar sofort gemeldet worden wäre.
Am nächsten Tage steuerten die Piroguen mit dem ersten Frühroth über den schmäleren Arm des Stromes und legten sich an einer Art Schiffbrücke fest, die jedenfalls zur Beladung und Löschung von Fahrzeugen diente.
Danaco war jetzt ein Dorf, nicht mehr ein einfacher Rancho, als welchen es der französische Reisende (Chaffanjon) noch verzeichnet hatte.
Dank der verständnißvollen Thätigkeit Manuel Assomption's war die Ansiedlung in einigen Jahren auffallend gewachsen und versprach bei ihrem blühenden Zustande noch weiter zuzunehmen. Es war von dem Mestizen ein glücklicher Gedanke gewesen, seinen früheren »Sitio« in Guachapana aufzugeben, wo er wegen der geringeren Entfernung San-Fernandos von dem Gouverneur daselbst ärgerlichen Vexationen leicht ausgesetzt war. In Danaco war er nahezu[251] ganz frei, konnte sich seinen Handelsgeschäften nach Belieben widmen, und diese Ungebundenheit hatte denn auch zu recht glücklichen Ergebnissen geführt.
Frühzeitig am Morgen erhielt Manuel Kenntniß von dem Eintreffen der Piroguen. Von einigen seiner Leute begleitet, kam er jetzt herbei, um die Reisenden zu begrüßen.
Auch diese gingen ihm ein Stück entgegen, und Jean hielt es für angezeigt, ihm eines der Empfehlungsschreiben zu überreichen, die der Gouverneur von San-Fernando dem jungen Mann für die Commissare am obern Orinoco eingehändigt hatte.
Manuel Assomption nahm den Brief, durchlas ihn, sagte darauf aber mit einigem Selbstbewußtsein:
»Es hätte für mich dieses Briefes nicht bedurft, um Fremden, die in Danaco Halt machen, einen wohlwollenden Empfang zu bereiten. Reisende, und vor allem Franzosen, können stets darauf rechnen, in unsern venezuolanischen Dörfern willkommen zu sein.
– Nehmen Sie dafür unsern Dank, Herr Manuel, antwortete ihm Jacques Helloch. Die Ausbesserung einer Havarie, die eine unsrer Falcas erlitten hat, wird uns aber nöthigen, achtundvierzig Stunden lang hier liegen zu bleiben...
– O, gern acht Tage lang, mein Herr, wenn Sie es wünschen. Danaco steht immer den Landsleuten des Franzosen Truchon offen, dem die Pflanzer am obern Orinoco so viel Dank schuldig sind.
– Wir wußten im voraus, daß wir hier gute Aufnahme finden würden, Herr Manuel, bemerkte Jean.
– Und woher wußten Sie das, junger Freund?
– Weil Sie die Gastfreundschaft, die Sie uns anbieten, schon vor fünf Jahren einem unsrer Landsleute, der bis zu den Quellen des Orinoco vordrang, in gleich freundlicher Art erwiesen haben.
– Ah, Sie sprechen von Herrn Chaffanjon! rief der Commissar. Ja, das war ein kühner Forscher, den ich ebenso wie seinen Begleiter Moussot im besten Andenken habe...
– Und der sich Ihrer, Herr Manuel, mit aller Wärme erinnert, fiel Jean ihm ins Wort, ebenso wie der Dienste, die Sie ihm geleistet haben, wie er sich in seinem Reiseberichte darüber äußert.
– Besitzen Sie vielleicht dieses Buch? fragte Manuel mit lebhafter Neugier.[252]
– Gewiß, antwortete Jean, und wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen gern die betreffenden Stellen übersetzen.
– Das würde mir viel Vergnügen machen,« versicherte der Commissar, indem er den Passagieren der Falcas die Hände entgegenstreckte.
In dem betreffenden Berichte wird nicht nur des Herrn Manuel Assomption und seines Anwesens in Danaco rühmlichst gedacht, sondern auch des Herrn Truchon, dem es die Franzosen zu verdanken haben, daß sie am Oberlaufe des Orinoco in so gutem Ansehen stehen.
Der genannte Truchon hatte nämlich vor einigen vierzig Jahren im Gebiete des obern Orinoco eine Ansiedlung gegründet. Vorher verstanden sich die Indianer nun noch gar nicht auf die Gewinnung des Kautschuks; durch das Verfahren, das er einführte, wurde die sehr ausgiebige Ausbeute der betreffenden Bäume dagegen zum reichen Segen für diese entlegenen Landestheile. Daher rührt die gerechtfertigte Beliebtheit des französischen Namens in allen Provinzen, wo jene Cultur die Hauptindustrie bildet.
Manuel Assomption zählte jetzt sechzig Jahre. Er bot das Bild eines noch kraftvollen Mannes mit stark gebräunter Haut, intelligenten Zügen und lebhaften Augen, eines Mannes, der sich, weil er zu befehlen verstand, Gehorsam zu erzwingen wußte, der aber andrerseits gütig, aufmerksam, ja zuvorkommend gegen die in seinem Rancho beschäftigten Indianer war.
Diese gehörten zu den Mariquitarern, zu einer der besten angestammten Rassen Venezuelas, und das Dorf, das er rings um seinen Rancho hatte entstehen lassen, barg eine ausschließlich mariquitarische Bevölkerung.
Nachdem die Passagiere die ihnen von dem Commissar angebotene Gastfreundschaft angenommen hatten, wurde sofort Auftrag gegeben, mit Ausbesserung der Beschädigungen der »Gallinetta« zu beginnen. Hierzu war es nöthig, Alles, was sich darauf befand, auszuladen, sie auf das Ufer zu ziehen und umzulegen, um den Boden frisch kalfatern zu können. Mit den Arbeitskräften, die der Commissar dem Schiffer Valdez dazu zur Verfügung zu stellen versprach, mußte das binnen zwei Tagen beendigt sein.
Es war jetzt um sieben Uhr morgens. Dazu herrschte ein bedeckter Himmel mit hochziehenden, keinen Regen verkündenden Wolken und eine erträgliche Temperatur, die siebenundzwanzig Centigrade nicht überstieg.
Alle brachen also in der Richtung nach dem unter dichten Baumkronen versteckten Dorfe auf, das etwa fünfhundert Meter vom linken Ufer entfernt lag.[253]
Manuel Assomption, Jacques Helloch und Jean gingen auf einem ziemlich breiten, geschickt angelegten und gut unterhaltenen Fußwege voraus, und der Sergeant Martial folgte ihnen mit Germain Paterne nach.
Unterwegs erweckte der Commissar schon die Bewunderung der Reisenden über die vielfältigen Erzeugnisse seines Rancho, dessen Culturen fast bis zum Strome herabreichten und die starke Bestände von Mango- und Citronenbäumen, von Bananen, Cacaostauden und Macanillepalmen aufwiesen. Weiter draußen sah man noch höchst fruchtbare Bananengärten, Mais- und Maniocfelder, sowie Anpflanzungen von Zuckerrohr und Tabak. Eigentlich lieferten aber die zu den Euphorbiaceen gehörenden Kautschukbäume und Tonkabohnensträuche, die die auch unter dem Namen Sarrapia vorkommenden länglichen Schoten tragen, die wichtigste Ernte der ganzen Besitzung.
»Wenn Ihr Landsmann jetzt wieder zu uns kommen könnte, wiederholte Manuel öfters, wie verändert würde er den Rancho von Danaco finden, ganz abgesehen von dem Dorfe, das in weiter Umgebung schon eines der bedeutendsten ist!
– Auch bedeutender als la Esmeralda? fragte Jacques Helloch, der damit ein weiter stromaufwärts liegendes Dorf nannte.
– Gewiß, denn diese kleine Ortschaft ist jetzt verlassen, antwortete der Commissar, während Danaco in erfreulicher Weise aufblüht. Sie werden selbst ebenso urtheilen, wenn Sie an la Esmeralda vorüberkommen. Dazu sind die Mariquitarer anstellige und fleißige Arbeiter, und Sie können sich durch den Augenschein überzeugen, daß ihre Wohnstätten weit besser hergestellt und eingerichtet sind, als die der Mapoyos und der Piaroas des mittleren Orinoco.
– Nun, wandte Jacques Helloch ein, wir haben indeß in la Urbana einen Herrn Mirabal kennen gelernt...
– Ich weiß... ich weiß schon, fiel ihm Manuel Assomption ins Wort, den Besitzer des Hato von Tigra. Das ist ohne Zweifel ein intelligenter Mann, ich hab' ihn schon mehrfach rühmen hören. Sein Hato wird sich jedoch niemals zu einem Flecken entwickeln, zu einem solchen erhebt sich aber bald unser Dorf Danaco, bei dem wir in diesem Augenblick angelangt sind.«
Vielleicht war der Commissar etwas eifersüchtig auf die Erfolge des Herrn Mirabal.
»Und wo sich einmal die Eifersucht einnistet...« dachte Jacques Helloch recht zur Zeit für sich. Manuel Assomption hatte bezüglich des Dorfes, von dem er mit berechtigtem Stolze sprach, übrigens nur die Wahrheit gesagt.[254]
Zur Zeit bestand Danaco aus etwa fünfzig Wohnstätten, worauf man die Bezeichnung Strohhütten nicht wohl anwenden konnte.
Die kleinen Baulichkeiten bestehen aus einem cylindrisch-konischen Theile, der ein mit Palmenblättern bedecktes Dach trägt, woraus noch eine, an ihrem Fuße mit Pflanzenbüscheln verzierte Spitze hervorragt. Die Wände sind aus fest mit einander verbundenen Zweigen gebildet und mit einer Art Mörtel aus fetter Erde berappt, dem vertiefte Linien das Aussehen von Backsteinmauerwerk verleihen.
Zwei einander gegenüberliegende Thüren vermitteln den Eintritt ins Innere, das, statt wie gewöhnlich einen Raum, zwei getrennte Stuben für den Gebrauch ein und derselben Familie bildet und noch ein gemeinschaftliches Zimmer zwischen diesen aufweist. Ein bemerkenswerther Fortschritt gegenüber den gebräuchlichen Indianerhütten, der jede Gemeinsamkeit ausschließt; daneben zeigen die Wohnungen einen gleichen Fortschritt in der, wenn auch auf das Nöthigste beschränkten Ausstattung, die mit ihren Truhen, Tischen, Schemeln, Bastkörben, Hängematten u. s. w. den Anspruch auf eine gewisse Behaglichkeit verräth.
Bei dem Gange durch das Dorf konnten die Reisenden die männliche und die weibliche Bewohnerschaft von Danaco sehen, denn weder Frauen noch Kinder suchten bei ihrer Annäherung zu entfliehen.
Die gut gebauten, kräftig und gesund aussehenden Männer ließen jetzt vielleicht weniger von einer »Localfärbung« erkennen, als zur Zeit, wo ihre Bekleidung nur aus dem durch einen Gürtel zusammengehaltenen Guayneo bestand. Dasselbe galt für die Frauen, die sich früher mit einer einfachen, großen, mit aus Glasperlen bestehendem Muster verzierten Schürze begnügten, welche über den Hüften durch einen Gürtel aus Perlen befestigt war. Jetzt näherte sich ihre Tracht mehr der der Mestizen oder civilisierten Indianer und verstieß in keiner Weise gegen die Regeln der Schicklichkeit. Bei den Männern fand man übrigens ein Aequivalent für den mexikanischen Poncho, und die Frauen würden doch ihr Geschlecht gänzlich verleugnet haben, wenn sie nicht um Hand und Fußgelenk zahlreiche Spangen oder Armbänder getragen hätten.
Nach etwa hundert Schritten durch das Dorf führte der Commissar seine Gäste nach links hin, und zwei Minuten darauf standen sie vor der Hauptwohnung Danacos. Vergegenwärtige man sich darunter ein Doppelh aus oder vielmehr zwei aneinandergefügte, doch im Innern verbundene Wohnstätten,[255] die sich auf ihrem Unterbau ziemlich hoch erhoben und deren Mauern Fenster und Thüren hatten. Sie waren von einem Gehege aus Flechtwerk umgeben, durch Pallisaden noch weiter geschützt, und hatten an der Front einen geräumigen Vorhof. Kräftige Bäume spendeten ihnen Schatten, und auf beiden Seiten derselben standen besondere Schuppen, worin die Ackergeräthe untergebracht wurden, oder Ställe zur Aufnahme der Hausthiere.
Der Empfang fand im ersten Raume einer der beiden Wohnhäuser statt, worin sich schon die Gattin Manuel Assomption's mit ihren zwei Söhnen aufhielt, sie eine Mestizin von einem Indianer und einer Brasilianerin, die Söhne ein Paar kräftige Erscheinungen von fünfundzwanzig und von dreißig Jahren, auch von weniger dunkelm Teint, als ihr Vater und ihre Mutter.
Jacques Helloch und seine Begleiter wurden hier ungemein herzlich aufgenommen. Da die ganze Familie spanisch verstand und geläufig sprach, kam eine Unterhaltung bald und ohne Schwierigkeiten in Gang.
»Und zunächst, wandte sich Manuel an seine Gattin, werden, da die »Gallinetta« hier achtundvierzig Stunden in Reparatur liegt, der Sergeant und sein Neffe bei uns wohnen. Mache ihnen ein Zimmer oder zwei zurecht.
– Zwei, wenn ich bitten darf, sagte eiligst der Sergeant Martial.
– Gut, recht gern zwei, antwortete der Commissar, und wenn Herr Helloch und sein Freund auch im Rancho zu übernachten wünschen...
– Nein, besten Dank für Ihre Freundlichkeit, Herr Manuel, erklärte Germain Paterne. Unsre Pirogue, die »Maripare« ist im besten Zustande, und um Ihnen nicht zu viele Mühe zu machen, werden wir heute Abend an Bord zurückkehren.
– Wie es Ihnen beliebt, meine Herren, erwiderte der Commissar. Sie würden uns nicht im mindesten belästigen, wir wollen Sie in Ihren Entschließungen aber auch nicht beschränken.«
Dann richtete er das Wort an seine beiden Söhne:
»Wir werden einige unsrer besten Leute hinschicken müssen, um den Mannschaften der Falcas zu helfen.
– O, wir betheiligen uns auch gleich selbst an der Arbeit,« antwortete der ältere der beiden Brüder.
Er äußerte diese Worte unter einer gleichzeitigen respectvollen Verbeugung vor Vater und Mutter, ein Beweis von Ehrerbietung, dem man in venezuolanischen Familien fast überall begegnet.
Nach dem Frühstück, wobei es Wild, Früchte und Gemüse in großer Menge gab, fragte Herr Manuel seine Gäste nach dem Zwecke ihrer Reise. Bisher wurde der obere Orinoco kaum von Andern besucht, als von vereinzelten Kaufleuten, die sich meist nur bis zum Cassiquiare, stromaufwärts von Danaco begaben. Noch weiter hinauf hörte auch der Handelsverkehr auf dem Strome gänzlich auf, und nur Forschungsreisenden konnte der Gedanke kommen, auch noch bis zu den Quellen vorzudringen.
Der Commissar erstaunte deshalb nicht wenig, als Jean ihm die Veranlassung zu dieser Reise mitgetheilt hatte, bei der ihn seine beiden Landsleute freiwillig begleiteten.
»Sie stehen also im Begriff, Ihren Vater zu suchen? sagte er mit sichtlicher Rührung, die seine Söhne und seine Gattin offenbar theilten.
– Ja, Herr Manuel, und wir hoffen, in Santa-Juana seine Spur wiederzufinden.
– Sie haben nicht zufällig von dem Oberst von Kermor reden hören? wandte sich Jacques Helloch jetzt an den Herrn des Hauses.
– Niemals ist ein solcher Name an mein Ohr gedrungen.
– Und Sie waren doch, fragte Germain Paterne, auch schon vor zwölf Jahren in Danaco ansässig?
– Nein, zu jener Zeit wohnten wir noch im Sitio von Guachapana; es ist aber nichts davon zu unsrer Kenntniß gekommen, daß man dort von der Ankunft eines Oberst von Kermor gesprochen hätte.
– Und doch kann man, warf der Sergeant Martial ein, der von diesem Gespräch genug verstand, um sich daran zu betheiligen, zwischen San-Fernando und Santa-Juana keinen andern Weg einschlagen, als den auf dem Orinoco?
– Das ist wenigstens der bequemste und der kürzeste, antwortete Herr Manuel. Der Reisende setzt sich dabei weniger Gefahren aus, als wenn er durch die von Indianern bewohnten Gebiete im Innern ginge. Hat sich der Oberst von Kermor nach den Quellen des Stromes begeben, so ist er diesen ebenso hinausgefahren, wie Sie es vorhaben.«
Als er sich in dieser Weise äußerte, zeigte Manuel Assomption doch, daß die Sache auch ihm nicht ganz gewiß erschien. Es war ja zu auffallend, daß der Oberst von Kermor, als er sich nach Santa-Juana begab, bei seiner Fahrt auf dem Orinoco von San-Fernando aus gar keine Spuren hinterlassen hätte.[259]
»Haben Sie, Herr Manuel, fragte da Jacques Helloch, die Mission jemals besucht?
– Nein; nach Osten zu bin ich nie über die Mündung des Cassiquiare hinausgekommen.
– Oder haben Sie gelegentlich von Santa-Juana reden hören?
– Ja, als von einer Niederlassung, die dank der Arbeitsfreudigkeit ihres Chefs recht gut aufblühen soll.
– Sie kennen den Pater Esperante nicht?
– O doch... ich hab ihn einmal gesehen... vor etwa drei Jahren. Er war in Angelegenheiten der Mission den Fluß heruntergekommen und hat sich damals einen Tag in Danaco aufgehalten.
– Was für ein Mann ist es, dieser Missionär?« fragte der Sergeant Martial.
Der Commissar entwarf von dem Pater Esperante ein Bild, das ganz den Aussagen des Spaniers Jorres entsprach. Es war also sicher, daß dieser, wie er damals behauptete, den Missionär in Caracas getroffen hatte.
»Und seit seinem Erscheinen in Danaco, fuhr Jean fort, haben Sie mit dem Pater Esperante in keinerlei Verbindung gestanden?
– Nein, niemals, erklärte Herr Manuel. Wiederholt hab' ich dagegen von Indianern, die aus dem Osten kamen, gehört, daß Santa-Juana sich Jahr für Jahr vergrößere. Es ist ein lobenswerthes Liebeswerk, dem sich jener Missionär zu Ehren der Menschheit widmet.
– Gewiß, Herr Commissar, ließ sich Jacques Helloch vernehmen, und es ehrt auch das Land, das solche Männer hervorbringt. Ich bin überzeugt daß wir beim Pater Esperante den besten Empfang finden werden.
– Ganz zweifellos, erwiderte Herr Manuel, er wird Sie aufnehmen, als ob Sie seine Landsleute wären. Derselbe Empfang hätte des Herrn Chaffanjon gewartet, wenn dieser je nach Santa-Juana gekommen wäre.
– Und möchte uns dort, setzte Jean hinzu, endlich Nachricht werden, die uns auf die Spuren meines Vaters führte!«
Am Nachmittage mußten die Gäste des Commissars dessen Rancho besuchen, seine gut bearbeiteten Felder und wohl unterhaltenen Anpflanzungen besichtigen und seine Wälder – worin er gegen die so schädlichen Affen einen unausgesetzten Vernichtungskrieg führte – sowie die von weidenden Herden bevölkerten Wiesengründe durchstreifen.[260]
Eben jetzt war die Kautschukernte in vollem Gange – dieses Jahr etwas vorzeitig, denn gewöhnlich beginnt sie erst im November und dauert dann bis Ende März.
»Wenn es für Sie Interesse hat, meine Herren, sagte darüber Herr Manuel, so zeige ich Ihnen morgen, wie es bei dieser Ernte zugeht.
– Es wird uns ein großes Vergnügen bereiten, versicherte Germain Paterne, und ich hoffe, dabei zu lernen...
– Unter der Bedingung, daß Sie sehr frühzeitig aufstehen, fiel ihm der Commissar ins Wort. Meine Gomeros gehen mit Tagesanbruch an die Arbeit.
– Wir werden sie nicht warten lassen, verlassen Sie sich darauf, erklärte Germain Paterne. Dir paßt es doch, Jacques?
– Ich werde zur richtigen Zeit bereit sein, versprach Jacques Helloch. Und Sie, lieber Jean?
– Ich werde diese Gelegenheit nicht verfehlen, antwortete Jean, und wenn mein Onkel etwa noch schliefe...
– So wirst Du mich wecken, lieber Neffe, ja ich erwarte bestimmt, daß Du mich dann weckst! fiel der Sergeant Martial ein. Da wir einmal ins Land des Kautschuks gekommen sind, ist es nur recht und billig, auch kennen zu lernen...
– Wie man das Gummi elasticum gewinnt, Sergeant, das Gummi elasticum!« rief Germain Paterne.
Damit ging es endlich nach der Wohnung zurück, nach einem Spaziergange, der den ganzen Nachmittag gedauert hatte.
Das Abendessen versammelte die Gäste des Commissars wieder an der Tafel. Das Gespräch dabei drehte sich in der Hauptsache um die Reise und deren Zwischenfälle seit der Abfahrt von Caïcara, um die Massenwanderung der Schildkröten und das Auftreten des Chubasco, wodurch die Piroguen und das Leben der Passagiere so ernstlich gefährdet worden waren.
»Diese Chubascos sind in der That entsetzlich, sagte Herr Manuel, und auch der obere Orinoco bleibt davon nicht verschont. Was die Einfälle von Schildkröten angeht, so haben wir solche in unserm Landestheile nicht zu befürchten, denn hier finden sich keine geeigneten Strandflächen zum Ablegen der Eier, und jene Thiere trifft man nur vereinzelt an.
– O, sagen Sie ihnen nichts Schlechtes nach! meldete sich Germain Paterne. Ein richtig zubereiteter Sancocho von Schildkröten ist etwas Ausgezeichnetes.[261] Nur durch diese Thiere und – wer möchte es glauben? – durch die Affen ist einem bei der Fahrt auf Ihrem Strome eine leckere Mahlzeit ermöglicht.
– Das ist ja richtig, stimmte der Commissar zu. Doch um auf die Chubascos zurückzukommen, so hüten Sie sich davor, meine Herren. Sie treten ebenso plötzlich und ebenso heftig oberhalb wie unterhalb San-Fernandos auf, und Herrn Helloch, lieber Herr Jean, sollte besser nicht zum zweitenmale die Gelegenheit, Sie zu retten, geboten werden.
– Ganz recht... ganz recht! rief der Sergeant Martial, der diesen Gesprächsgegenstand nicht sonderlich liebte. Wir werden auf die Chubascos achten, Herr Commissar, wir werden sie schon überwachen!«
Da schlug Germain Paterne ein andres Thema an und sagte:
»Haben wir denn unsre Reisegefährten schon so gänzlich vergessen, daß wir Herrn Manuel gegenüber gar nicht von ihnen reden?
– Wahrhaftig, antwortete Jean, den ehrenwerthen Herrn Miguel... und die Herren Felipe und Varinas.
– Wer sind die Herren, die Sie eben nannten? erkundigte sich der Commissar.
– Drei Venezuolaner, mit denen wir die Fahrt von Ciudad-Bolivar nach San-Fernando zusammen gemacht haben.
– Einfache Reisende? fragte Herr Manuel.
– Und auch Gelehrte, erklärte Germain Paterne.
– Und was wissen sie, die gelehrten Herren?
– Sie würden besser thun, zu fragen, was sie nicht wissen, bemerkte Jacques Helloch.
– Nun, was wissen sie denn nicht?
– Sie wissen nicht, ob der Strom, woran Ihr Rancho liegt, der Orinoco ist.
– Alle Wetter, rief Herr Manuel, sie erkühnten sich, das zu bezweifeln?
– Der eine, Herr Felipe, behauptet, daß der eigentliche Orinoco dessen Nebenfluß, der Atabapo, sei, und der andre, Herr Varinas, hält den Guaviare für den richtigen Hauptstrom.
– Das ist ja die reine Frechheit! polterte der Commissar hervor. Sapperment, der Orinoco sollte nicht der Orinoco sein!«[262]
Er war wirklich wüthend, der würdige Herr Manuel Assomption, und seine Gattin wie seine beiden Söhne theilten seinen Ingrimm. Ihre Eigenliebe war tief verletzt in dem, was ihrem Herzen am nächsten lag, in ihrem Orinoco, d. h. dem »Großen Wasser« oder – in der Tamanaquensprache – dem »Könige der Ströme«.
Jetzt mußte nun näher erklärt werden, was Herr Miguel und seine beiden Collegen in San-Fernando vorhatten und welchen Untersuchungen – die gewiß von stürmischen Auseinandersetzungen begleitet wurden – sie sich in der nächsten Zeit widmen wollten.
»Welche Ansicht vertritt denn jener Herr Miguel? fragte der Commissar.
– Er ist der Meinung, antwortete Germain Paterne, daß der Fluß, auf dem wir von San-Fernando nach Danaco gekommen sind, der wirkliche Orinoco sei.
– Der aus dem Gebirgsstock der Parima hervorbricht! setzte der Commissar mit laut schallender Stimme hinzu. Nun, Herr Miguel möge nur zu uns kommen, er wird mit aller Herzlichkeit empfangen werden. Die beiden Andern mögen sich's aber nicht einfallen lassen, im Rancho Rast machen zu wollen; wir würden sie in den Strom werfen, und von dessen Wasser könnten sie genug verschlucken, sich zu überzeugen, daß es das des Orinoco ist!«
Es war gar lustig, Herrn Manuel mit solcher Lebhaftigkeit reden und so furchtbare Drohungen ausstoßen zu hören. Doch von jeder Uebertreibung abgesehen: der Besitzer des Rancho hielt auf seinen Strom und hätte ihn wohl bis aufs äußerste vertheidigt.
Gegen zehn Uhr abends verabschiedeten sich Jacques Helloch und sein Begleiter von der Familie Assomption, sagten dem Sergeanten Martial und Jean Gute Nacht und begaben sich nach ihrer Pirogue zurück.
Unwillkürlich oder in Folge einer Art Vorgefühls richteten sich die Gedanken Jacques Helloch's auf Jorres. Es unterlag keinem Zweifel, daß dieser Spanier den Pater Esperante gekannt hatte und ihm in Caracas oder sonstwo begegnet war, da er ihn ganz so, wie eben jetzt Herr Manuel, geschildert hatte. Man konnte den Mann also nicht wohl beschuldigen, ein Zusammentreffen mit dem Missionär nur erfunden zu haben, um sich den Fahrgästen der Piroguen, die nach Santa-Juana wollten, aufzudrängen.
Dem entgegen stand freilich die Aussage des Baré-Indianers, der ja behauptete, daß Jorres bereits den Orinoco, mindestens bis zum Rancho von[263] Carida, hinausgekommen sei, und er blieb dabei, auch trotz der Verneinungen des Spaniers. Fremdlinge, die durch die Gebiete des mittleren Orinoco kommen, sind nun nicht so zahlreich, daß man so leicht eine Verwechslung der Personen begehen könnte, wenn das auch einem Eingebornen gegenüber vielleicht am ehesten anzunehmen wäre. War es wirklich der Fall, hier, wo es sich um diesen Spanier mit dem so leicht wiedererkennbaren Gesicht handelte?...
Wenn Jorres aber schon nach Carida und folglich auch nach den Dörfern und Sitios unterhalb desselben gekommen war, warum leugnete er das? Welche Gründe hatte er, es zu verheimlichen? Was konnte es ihm bei denen schaden, die er nach der Mission Santa-Juana begleitete?
Vielleicht täuschte sich der Baré aber doch. Wenn einer sagt: »Ich hab' Euch hier gesehen!« und ein andrer sagt: »Ihr könnt mich hier nicht gesehen haben, da ich niemals hierher gekommen bin!«, kann der Irrthum nicht wohl bei dem zweiten liegen.
Und dennoch wollte die Sache Jacques Helloch nicht aus dem Kopfe. Zwar flößte sie ihm keine Besorgniß um seiner selbst willen ein, doch Alles, was die Reise der Tochter des Oberst von Kermor betraf, was sie verzögern oder ihren Erfolg gefährden konnte, beschäftigte, beunruhigte und erregte ihn mehr, als er sich selbst zugestehen wollte.
Diese Nacht schlief er erst spät ein, und am nächsten Morgen mußte Germain Paterne ihn noch mit einem freundschaftlichen Rippenstoß wecken, als die Sonne schon etwas über den Horizont aufgestiegen war.
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