[264] Kaum dürfte es nöthig sein, hier bei den Empfindungen Jacques Helloch's seit jenem Tage zu verweilen, wo Jeanne an Stelle Jeans getreten war, seit dem Tage, wo die Tochter des Oberst von Kermor, nachdem sie[264] vom Tode gerettet worden war, sich nicht mehr unter der Maske eines Neffen des Sergeanten Martial verstecken konnte.
Es ist wohl erklärlich, daß die Natur dieser Gefühle Jeanne von Kermor nicht entgehen konnte, zählte sie doch bereits zweiundzwanzig Jahre, wenn sie auch die Verkleidung als junger Mann erst als siebzehn Sommer alt erscheinen ließ.
Germain Paterne, der, wenn man seinem Gefährten glauben durfte, »von solchen Dingen nichts verstand«, hatte übrigens recht wohl bemerkt,[265] welche immer zunehmende Veränderungen im Herzen Jacques Helloch's vor sich gingen. Hätte er jetzt diesem gerade ins Gesicht gesagt: »Jacques, Du liebst Fräulein Jeanne von Kermor!« so wäre es sehr fraglich gewesen, ob Jacques zu antworten gewagt hätte: »Mein armer Junge, von solchen Dingen verstehst Du ja nichts!«
Germain Paterne wartete auch nur auf eine passende Gelegenheit, sich mit ihm darüber auszusprechen, und wäre es auch nur zu dem Zwecke, mit seiner eignen Person für die Ehre der Naturforscher, Botaniker und andrer Gelehrten einzutreten, die für die süßesten Empfindungen des Herzens gar nicht so unempfänglich sind, wie es die böse Welt zu behaupten liebt. Welchen Gedanken gab sich aber erst der Sergeant Martial hin, wenn er sich die verschiedenen Zufälligkeiten, die sich bisher ereignet hatten, vor Augen führte, wenn er sein Geheimniß entdeckt, seinen Plan gescheitert sah, wenn er sich sagen mußte, daß alle seine sein ausgesonnenen Vorsichtsmaßregeln durch jenen verwünschten Chubasco zerstört worden waren und daß seine Stellung als Onkel Jean von Kermor's unwiderruflich erschüttert war, da man diesen Neffen als eine Nichte erkannt hatte, zu der er nicht einmal in dem Verhältnisse eines Onkels stand!
Natürlich war er wüthend – wüthend gegen sich selbst und gegen alle Andern. Jean hätte bei dem plötzlichen Sturme nicht in den Strom fallen dürfen und er hätte sich ihm nachstürzen sollen, statt seine Rettung einem Dritten zu überlassen! Jacques Helloch's Sache war es ja gar nicht gewesen, ihm Hilfe zu bringen! Was ging ihn denn die Sache an? Und doch hatte er recht daran gethan, denn ohne ihn wäre er... nein, sie... jedenfalls ums Leben gekommen. Freilich durfte man hoffen, daß das keine weiteren Folgen haben werde. Das Geheimniß war sorgsam gehütet worden. Wenn er sich das zurückhaltende Benehmen des Retters Jeanne's vergegenwärtigte, glaubte der Sergeant Martial sich beruhigen zu dürfen, und sein Oberst würde ihm, wenn sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, keinerlei Vorwürfe zu machen haben.
Armer Sergeant Martial!
Sehr frühzeitig wurde er von Jean geweckt, den Herr Manuel und seine Söhne schon vor dem Hause erwarteten.
Fast gleichzeitig trafen die beiden Franzosen ein, die ihre Pirogue eine Viertelstunde vorher verlassen hatten.
Man sagte einander Guten Tag. Jacques Helloch meldete, daß die Ausbesserung der »Gallineta« gut vorwärts schreite und die Falca am folgenden[266] Morgen wieder weiterfahren könne. Nun ging es sofort nach den Feldern hinaus, wo die Gomeros schon versammelt waren.
Diese »Felder« sind eigentlich Wälder, worin bestimmte Bäume, ganz wie beim Baumfällen, vorher bezeichnet sind. Hier handelte es sich freilich nicht darum, sie umzulegen, sondern nur darum, ihre Rinde zu ritzen, sie, wie man in Australien von den Milchbäumen sagt, zu »melken«.
In Begleitung seiner Gäste betrat Herr Manuel die seltsamen Gruppen von Kautschukbäumen grade zur Zeit, als die Gomeros ihre Arbeit begannen.
Der wißbegierigste unter den Besuchern, der, der sich in seiner Eigenschaft als Botaniker vorzüglich für das hier geübte Verfahren interessierte, war – wen könnte das überraschen? – natürlich Germain Paterne. Er beobachtete die Arbeit mit größter Aufmerksamkeit, und der Commissar ließ es sich angelegen sein, alle seine Fragen zu beantworten.
Die Operation selbst war höchst einfach.
Zuerst schnitt jeder Gomero, dem je etwa hundert Bäume einer sogenannten »Estrade« zugetheilt waren, deren Rinde mit einer sehr scharfen, kleinen Axt an.
»Ist die Zahl dieser Einschnitte eine bestimmte? fragte Germain Paterne.
– Sie wechselt je nach der Dicke der Bäume zwischen vier und zwölf, und die Beilhiebe müssen dabei mit größter Genauigkeit geführt werden, um die Rinde nicht tiefer als nöthig zu spalten.
– Dann handelt es sich also, meinte Germain Paterne, nicht um eine Amputation, sondern nur um einen Aderlaß.«
Gleich nachdem der Einschnitt erfolgt war, begann der Saft des Baumes an diesem herunter und in ein kleines Gefäß zu laufen, das so angebracht war, daß kein Tropfen verloren ging.
»Und wie lange dauert das Auslaufen? fragte Germain Paterne.
– Gegen sechs bis sieben Stunden,« belehrte ihn Herr Manuel.
Einen Theil des Vormittags durchwanderten Jacques Helloch und seine Gefährten diese Anpflanzung, während die Gomeros die Bäume »ansteckten«, ein ganz treffender Ausdruck, dessen sich der Sergeant Martial bediente. Siebenhundert Bäume wurden in dieser Weise einem Aderlaß unterzogen, der eine reiche Ernte an Kantschuk versprach.
Nach der Wohnung kam die Gesellschaft erst zur Zeit des Frühstücks zurück, dem Alle mit gutem Appetit große Ehre anthaten. Die beiden Söhne[267] Manuels hatten am Morgen in dem benachbarten Walde mit Erfolg gejagt, und das Wildpret, dessen Zubereitung ihre Mutter überwacht hatte, war wirklich ausgezeichnet. Ausgezeichnet auch die Fische, die zwei Bauern am nämlichen Morgen im Orinoco gefangen oder mit Pfeilen geschossen hatten; ausgezeichnet endlich die Früchte und die Gemüse des Rancho, darunter die Ananas, die dieses Jahr fast überreichlich gediehen waren.
Der Anfangsarbeit der Kautschukernte beigewohnt und gesehen zu haben, wie die Einschnitte gemacht wurden, das konnte die Wißbegierde Germain Paterne's noch nicht befriedigen, und er bat Herrn Manuel, ihn auch über das weitere Verfahren aufzuklären.
»Verweilten Sie noch einige Tage in Danaco, antwortete der Commissar, so würden Sie zunächst gesehen haben, daß der Gummisaft in den frühen Morgenstunden nach dem Einschneiden der Rinde nur langsam ausläuft. Es vergeht auch eine ganze Woche, ehe die Bäume ihren Saft ganz abgegeben haben.
– All dieses Gummi werden Sie also erst in acht Tagen eingebracht haben?
– Nein, Herr Paterne. Heut Abend schon bringt jeder Gomero die Ernte dieses Tages hierher und dann entzündet er sofort ein sehr rauchgebendes Feuer, um den Saft zum Gerinnen zu bringen. Nach dem Ausbreiten der dicken Flüssigkeit auf einem Brette setzt man dieses dem dichten Rauch von grünem Holze aus. Dabei bildet sich eine erste, mehr erhärtete Schicht, über die sich nach dem wiederholten Bestreichen des Brettes eine zweite lagert und so weiter. Auf diese Weise stellt man eine Art Laib aus Kautschuk her, der nun zum Versenden fertig ist.
– Und vor dem Eintreffen unsers Landsmanns Truchon, fragte Jacques, verstanden sich die Indianer ja wohl noch gar nicht auf dieses Verfahren?
– Gar nicht oder doch kaum, bestätigte der Commissar. Sie hatten nicht einmal eine Ahnung von dem Werthe dieses Naturerzeugnisses. Niemand konnte auch die Wichtigkeit voraussehen, die es für Handel und Gewerbe später gewinnen sollte. Der Franzose Truchon, der sich erst in San-Fernando und später in la Esmeralda aufhielt, war es, der den Indianern die Weiterbearbeitung des Kautschuksaftes lehrte, die in diesem Theile Amerikas jetzt ihre Hauptthätigkeit bildet.
»Vivat also Herr Truchon und Vivat das Land, dem er einst entsproß!« rief oder sang vielmehr Germain Paterne halblaut vor sich hin.[268]
Darauf trank man voller Begeisterung erst auf die Gesundheit Truchon's und dann auf das glückliche Gedeihen Frankreichs.
Am Nachmittage und nach mehrstündiger Ruhe ersuchte der Commissar seine Gäste, sich mit ihm nach dem kleinen Hafen hinunter zu begeben, wo an der Ausbesserung der Pirogue gearbeitet wurde. Er wollte sich selbst überzeugen, daß dabei nichts vernachlässigt würde.
So wanderten denn Alle durch die Felder des Rancho und lauschten dabei den Worten des Herrn Manuel, der von seiner Domäne mit dem berechtigten Stolze des Besitzers sprach.
Als man am Hafen angelangt war, sollte die inzwischen völlig reparierte »Gallinetta« eben wieder neben der »Moriche«, die an ihrem Haltetau leicht schaukelte, ins Wasser gesetzt werden.
Von ihren eignen Leuten und einigen Bauern unterstützt, hatten Valdez und Parchal die Arbeit sehr gut ausgeführt. Der Commissar sprach seine volle Befriedigung darüber aus und erklärte, daß ihm beide Falcas für die Fortsetzung der Fahrt jetzt in gleich gutem Zustande zu sein schienen.
Die »Gallinetta« brauchte nur noch über den Strand hin geschleppt zu werden. Wenn sie dann wie der schwamm, konnte das Deckhaus aufgesetzt, der Mast errichtet und endlich die vorher getragene Fracht u. s. w. neu verladen werden. Noch denselben Abend sollten der Sergeant Martial und Jean sie wieder beziehen und die Abreise sollte erfolgen, sobald sich der Horizont mit dem ersten Morgenscheine färbte.
Eben jetzt versank die Sonne hinter einer purpurnen Dunstwand, die das Eintreten von Westwind versprach – ein günstiger Umstand, der nicht unbenutzt gelassen werden durfte.
Während die Schiffsmannschaften und die andern Hilfskräfte Anstalt trafen, die »Gallinetta« wieder aufs Wasser zu setzen, lustwandelten Herr Manuel Assomption, dessen beide Söhne und die Passagiere der Piroguen am Strande auf und ab.
Unter den Leuten, die bei jener letzten Arbeit mit Hand anlegten, fiel dem Commissar zufällig Jorres auf, der sich von seinen Gefährten schon dem Aeußern nach so merkwürdig unterschied.
»Wer ist der Mann da? fragte er.
– Einer der Leute, die zur »Gallinetta« gehören, antwortete Jacques Helloch.[269]
– Das ist aber kein Indianer...
– Nein, ein Spanier.
– Wo haben Sie ihn angeworben?
– In San-Fernando.
– Und er verdingt sich berufsmäßig als Flußschiffer auf dem Orinoco?
– Berufsmäßig wohl nicht; uns fehlte aber gerade ein Mann, und da jener die Absicht hatte, nach Santa-Juana zu gehen, und er sich uns zur Aushilfe anbot, hat ihn der Schiffer Valdez in Dienst genommen.«
Jorres hatte offenbar bemerkt, daß von ihm die Rede war, denn ohne seine Arbeit zu unterbrechen, lauschte er gespannt auf Alles, was hier gesprochen wurde.
Da kam es Jacques Helloch in den Sinn, an den Commissar selbst eine weitere, naheliegende Frage zu stellen.
»Kennen Sie etwa diesen Mann? sagte er.
– Nein, erwiderte Herr Manuel. Ist er schon früher nach dem obern Orinoco gekommen?
– Ein Baré-Indianer behauptet, ihn in Carida gesehen zu haben, obwohl Jorres versichert, dort noch niemals gewesen zu sein.
– Mir kommt er hier bestimmt das erste Mal vor Augen, fuhr der Commissar fort, und er fiel mir nur auf, weil man ihn unmöglich mit einem Indianer verwechseln kann. Sie sagen, daß er sich nach Santa-Juana begiebt?
– Es schien ihm daran gelegen, in den Dienst der Mission einzutreten, denn er hatte schon sein Noviciat hinter sich, als er als Seemann die Welt zu durchstreifen begann. Seiner Aussage nach kennt er den Pater Esperante, den er schon vor zwölf Jahren in Caracas gesehen haben will, und das mag wohl richtig sein, denn er hat uns von jenem Missionär ganz dasselbe Bild entworfen, wie Sie, Herr Manuel.
– Na, es kommt ja darauf nicht viel an, wenn er nur jetzt seine Stelle ordentlich ausfüllt. Freilich soll man hierzulande allen Abenteurern mißtrauen, die irgendwoher kommen und irgendwohin gehen wollen.
– Eine Warnung, die ich mir hinters Ohr schreiben werde, Herr Manuel, versicherte Jacques Helloch. Ich werde den Spanier stets scharf im Auge behalten!«
Es ließ sich zwar nicht sagen, ob Jorres gehört hatte, was hier mit Beziehung auf ihn gesagt worden war; jedenfalls ließ er sich's nicht merken, obwohl[270] seine Augen wiederholt in seltsamer Gluth, die er nicht zu dämpfen vermochte, dabei aufflammten. Obgleich dann nicht mehr von ihm die Rede war, als sich der Commissar und die Reisenden der »Gallinetta« näherten, die jetzt neben der »Moriche« vertäut lag, lauschte er doch noch immer möglichst unauffällig auf jedes Wort, das in der kleinen Gruppe fiel.
Das Gespräch drehte sich jetzt um die Nothwendigkeit, die Piroguen tadellos in Stand zu haben, wenn es sich darum handelte, die im obern Theil des Flußbetts oft sehr starke Strömung zu bewältigen, und Herr Manuel wies auf diese Anforderung mit großem Nachdruck hin.
»Sie werden noch auf Raudals stoßen, sagte er, die zwar weniger lang und gefährlich als die von Apure und Maipure sind, der Schifffahrt aber doch ernstliche Schwierigkeiten bieten. Gelegentlich müssen die Fahrzeuge sogar über Klippen hinweggeschleppt werden, was sie leicht zur Weiterbenutzung untauglich machen kann, wenn sie nicht ganz solid gebaut sind. Ich sehe, daß bei der des Sergeanten Martial nichts vernachlässigt worden ist, doch ist denn die Ihrige, Herr Helloch, nicht auch gründlich untersucht worden?...
– Ich hoffe es wenigstens, Herr Manuel, denn ich hatte es ausdrücklich empfohlen. Parchal hat sich gewiß überzeugt, daß der Boden der »Moriche« fest ist. Wir dürfen also annehmen, daß die beiden Falcas ohne Beschädigung über die Raudals hinwegkommen und auch den Chubascos gut widerstehen werden, wenn diese selbst, wie Sie sagen, weiter oben noch ebenso schrecklich auftreten, wie weiter unten...
– Das ist auch richtig, versicherte der Commissar, und wenn die Schiffsmannschaften den Strom nicht genau kennen, werden sie kaum den Gefahren derselben trotzen können. Das sind überdies noch nicht die schlimmsten...
– Welche denn? fragte der Sergeant Martial etwas beunruhigt.
– Nun die, die das Vorkommen von Indianern längs der Ufer mit sich bringt.
– Sie haben dabei doch nicht die Guaharibos im Sinne, Herr Manuel? sagte Jean.
– O nein, liebes Kind, antwortete der Commissar lächelnd, diese Indianer sind ganz harmloser Natur. Ich weiß, daß sie früher für gefährlich galten. Gerade 1879, zur Zeit, wo der Oberst von Kermor also nach den Quellen des Orinoco hinaufgegangen wäre, schrieb man ihnen die Zerstörung mehrerer Dörfer und die Ermordung der Bewohner derselben zu...[271]
– Mein Vater hätte sich also gegen Ueberfälle dieser Guaharibos zu vertheidigen gehabt, rief Jean, und könnte ihnen dabei vielleicht gar in die Hände gefallen sein...
– Nein, nein! beeilte sich Jacques Helloch zu versichern. Jedenfalls hat Herr Manuel davon nie etwas gehört.
– Niemals, Herr Helloch, niemals, mein liebes Kind! Ich wiederhole Ihnen übrigens: Ihr Vater kann gar nicht ein Opfer jener Indianersippen geworden sein, weil diese ihren übeln Ruf vielleicht gar nicht, seit den letzten fünfzehn Jahren aber gewiß nicht verdient haben.
– Haben Sie selbst mit ihnen zu thun gehabt? fragte Germain Paterne.
– Ja freilich, mehr als einmal, und ich habe die Gewißheit erlangt, daß Herr Chaffanjon nur die Wahrheit gesagt hatte, als er mir bei seiner Rückkehr jene Indianer als armselige, kleine, schwächliche Burschen schilderte, die sehr furchtsam, scheu und überhaupt nicht zu fürchten wären. Ich ermahne Sie also auch nicht: Achtung vor den Guaharibos! sondern: Achtung vor den Abenteurern aus allen Nationen, die sich in den Savannen umhertreiben! Hüten Sie sich vor all solchem, jedes Verbrechens fähigen Raubgesindel, von dem die Regierung unser Land durch Entsendung von Milizen säubern sollte.
– Noch eine Frage, ließ sich Germain Paterne vernehmen. Ist das, was eine Gefahr für Reisende bildet, nicht auch eine für die Ranchos und deren Besitzer?
– Gewiß, Herr Paterne, meine Söhne, meine Feldarbeiter und ich selbst, wir bleiben auch stets auf unsrer Hut. Jede Annäherung solcher Banditen an den Rancho würde so zeitig gemeldet werden, daß sie uns nicht überrumpeln können. Dann empfingen wir sie mit Gewehrfeuer, das ihnen wohl das Wiederkommen verleiden dürfte. Von hier, von Danaco, wissen sie übrigens, daß die Mariquitarer keine Furcht kennen, und sie werden es kaum wagen, uns anzugreifen. Die Reisenden auf dem Strome müssen aber, vorzüglich oberhalb des Cassiquiare, stets strenge Wacht halten, denn die Ufergelände sind dort niemals sicher.
– Uns ist auch schon mitgetheilt worden, bemerkte hierzu Jacques Helloch, daß eine zahlreiche Bande von Quivas jene Gebiete durchstreift.
– Ja, leider! bestätigte der Commissar.
– Man nennt als ihren Anführer sogar einen entsprungenen Sträfling...
– Ganz recht, einen höchst gefährlichen Kerl!
– Da hören wir nun, bemerkte der Sergeant Marti[272] al, immer wieder von diesem Sträfling reden, der aus dem Bagno von Cayenne entwichen sein soll.
– Aus Cayenne, das stimmt.
– Ist es denn ein Franzose? fragte Jacques Helloch.
– Nein, ein Spanier, der aber in Frankreich verurtheilt worden war, erklärte Herr Manuel.
– Und er heißt?...[273]
– Alfaniz.
– Alfaniz?... Vielleicht ein angenommener Name? bemerkte Germain Paterne.
– Nein, nein, es scheint sein richtiger Name zu sein.«
Hätte Jacques Helloch in diesem Augenblicke Jorres angesehen, so würde er jedenfalls erstaunt gewesen sein über ein Zittern in den Zügen des Mannes, das dieser nicht zu unterdrücken vermochte. Der Spanier ging langsam an der Uferböschung so hin, daß er sich der Gruppe wie zufällig mehr näherte, und, während er verschiedene, auf dem Sande umherliegende Gegenstände auflas, das Gespräch der Herren besser hören konnte.
Jacques Helloch hatte sich aber grade auf einen plötzlichen Aufruf hin umgedreht.
»Alfaniz? hatte der Sergeant Martial, an den Commissar gewendet, gerufen, Sie sagten, Alfaniz?
– Jawohl, Alfaniz.
– O, Sie haben ganz recht. Hier ist von keinem falschen Namen die Rede... es ist der jenes elenden Wichtes...
– Sie kennen diesen Alfaniz? fiel ihm Jacques Helloch, über diese Erklärung verwundert, lebhaft ins Wort.
– Ob ich ihn kenne! Rede Du, Jean, und erzähle, wie es kam, daß wir von ihm erfuhren. Ich würde mit meinem schlechten Spanisch nicht weit kommen und Herr Manuel verstände mich am Ende nicht einmal richtig.«
Jean erzählte nun die Geschichte, die er vom Sergeanten Martial her kannte, eine Geschichte, die der alte Soldat mehrfach vor ihm wiederholt hatte, wenn sie in ihrem Hause in Chantenay von dem Oberst von Kermor sprachen.
Im Jahre 1871, kurz vor dem Ende des unseligen Krieges, wo der Oberst ein Infanterieregiment befehligte, hatte er in einer Diebstahls- und Verrathssache als Zeuge aufzutreten.
Der Dieb war kein andrer als der Spanier Alfaniz gewesen. Der Verräther, der für den Feind arbeitete, indem er ihm Spionendienste leistete, beging verschiedene Diebstähle im Einverständnisse mit einem alten Verwaltungssoldaten, der sich der Hinrichtung nur durch einen Selbstmord entzog.
Als Alfaniz seine Schandthaten entdeckt sah, gewann er noch Zeit zu entfliehen, so daß man ihn nicht gleich dingfest machen konnte. Nur durch einen glücklichen Zufall gelang zwei Jahre später, 1873, seine Verhaftung, die[274] etwa sechs Monate vor dem Verschwinden des Oberst von Kermor erfolgte Vor das Criminalgericht der Untern Loire gebracht und durch die Aussage des Oberst schwer belastet, wurde er hier zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt. Seit diesem Ausgang der Sache hegte er gegen den Oberst von Kermor den grimmigsten Haß, einen Haß, der sich mit den schrecklichsten Drohungen Luft machte in der Erwartung, die Worte einst noch in Thaten übersetzen zu können.
Der Spanier wurde nach dem Bagno von Cayenne gebracht, von wo es ihm nach neunzehn Jahren, 1892, mit zwei seiner Mitgefangenen auszubrechen glückte. Da er zur Zeit seiner Verurtheilung dreiundzwanzig Jahre alt war, zählte er jetzt also zweiundvierzig Jahre, und da man ihn als sehr gefährlichen Verbrecher betrachtete, sendete die französische Verwaltung Häscher aus, seine Spur zu verfolgen. Das erwies sich fruchtlos. Alfaniz war es gelungen, über die Grenzen von Guyana zu flüchten, und in den ausgedehnten, wenig bevölkerten Gebieten, in den ungeheuern Ilanos Venezuelas war gar nicht mehr an die Auffindung seiner Fährte zu denken.
Die Verwaltung erfuhr über ihn weiter nichts – und die venezuolanische Polizei glaubte dessen sicher zu sein – als daß er sich an die Spitze einer Quivasbande gestellt habe, die nach ihrer Vertreibung aus Columbia im rechten Ufergebiete des Orinoco hauste. Durch den Tod des Häuptlings Meta Sarrapia's ihres Anführers beraubt, unterwarfen sich die Indianer, die gefürchtetsten aller Eingebornen, willig Alfanizens Befehle, und dieser Rotte von Uebelthätern waren auch die Plünderungen und Metzeleien zuzuschreiben, deren Schauplatz die mittleren Provinzen der Republik seit Jahresfrist gewesen waren.
Das Unglück wollte es also, daß dieser Alfaniz gerade die Gebiete durchstreifte, in denen Jeanne von Kermor und Sergeant Martial den Oberst von Kermor suchen wollten. Wenn sein Ankläger aber ihm in die Hände fiel unterlag es keinem Zweifel, daß der Verbrecher sich ohne alles Mitleid an ihm rächen würde. Das bildete also für das junge Mädchen zu den vielen andern eine neue Beunruhigung, und die Thränen stürzten ihr aus den Augen bei dem Gedanken, daß der elende, nach Cayenne verbannte Sträfling von da hatte entweichen können.
Jacques Helloch und Herr Manuel bemühten sich, ihr beruhigend zuzureden. Wo lag die Wahrscheinlichkeit, meinten sie, daß Alfaniz den Ort, an dem der[275] Oberst von Kermor sich aufhielt, hätte entdecken können, während doch alle Nachforschungen danach vergeblich gewesen wären. Nein, es war nicht zu befürchten, daß der Oberst in seines Feindes Hände gefallen wäre.
Jedenfalls galt es aber, jetzt Alles aufzubieten, die Nachforschungen fortzusetzen, keine Verzögerung eintreten zu lassen und vor keinem Hinderniß zurückzuschrecken.
Uebrigens sollte für die Weiterfahrt bald Alles bereit sein. Die Leute des Schiffers Valdez, und Jorres unter ihnen, beschäftigten sich schon mit der Wiederbeladung der »Gallinetta«, die am nächsten Morgen segelfertig sein sollte.
Herr Manuel führte seine Gäste, die für die zuvorkommende Aufnahme in Danaco herzlich dankbar waren, nach der Wohnstätte im Rancho zurück, wo sie auch den letzten Abend mit ihm zubringen sollten.
Nach dem Abendessen plauderten Alle noch bis zehn Uhr. Jeder merkte sich bestens die dringenden Ermahnungen des Commissars, vorzüglich soweit sie die Achtsamkeit betrafen, die man an Bord der Piroguen nicht vernachlässigen sollte.
Als die Trennungsstunde geschlagen hatte, begleitete die Familie Assomption's die Passagiere nach dem kleinen Hafen.
Hier nahm man von einander Abschied, wechselte unter dem Versprechen eines Wiedersehens bei der Rückkehr die letzten Händedrücke, und Herr Manuel unterließ es nicht, zu sagen:
»Ah, Herr Helloch, und auch Sie, Herr Paterne, wenn Sie Ihre in San-Fernando verlassenen Reisegefährten wieder treffen sollten, so bringen Sie dem Herrn Miguel meine besten Empfehlungen, seinen beiden Freunden aber meine Verwünschung mit einem Hoch auf den Orinoco – wohl verstanden, den einzigen, wahren Orinoco, auf den, der bei Danaco vorüberfluthet und die Ufer meines Landbesitzes bewässert!«[276]
Buchempfehlung
»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro