[277] Die Fahrt auf dem Oberlaufe des Stromes ist jetzt also wieder aufgenommen. Die Reisenden sind voll guten Vertrauens auf den Erfolg ihres Vorhabens. Sie haben es nur eilig, nach der Mission Santa-Juana zu kommen, und gebe der Himmel, daß der Pater Esperante ihnen dann den richtigen Weg weisen könne, daß eine zuverlässige Auskunft sie endlich zu ihrem Ziele führe! Möchte ihnen auch ein Zusammentreffen mit der Bande jenes Alfaniz, das das Schicksal Aller in Frage stellen könnte, gnädig erspart bleiben!
An diesem Morgen, zur Stunde der Abfahrt, hatte sich Jeanne von Kermor an Jacques Helloch, als sie allein waren, mit folgenden Worten gewendet:
»Sie haben mir nicht allein das Leben gerettet, Herr Helloch, sondern wollen auch meine Bemühungen zur Auffindung meines Vaters freundlich unterstützen. Mein Herz ist voller Dankbarkeit! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das jemals entgelten soll...
– O, sprechen wir nicht von Dankbarkeit, geehrtes Fräulein, antwortete Jaques Helloch. Unter Landsleuten sind solche kleine Dienste nur eine Pflicht, und diese Pflicht bis zum Ende zu erfüllen, wird mich nichts abhalten können!
– Vielleicht gehen wir aber neuen und sehr ernsten Gefahren entgegen, Herr Jacques!
– Nein, das fürchte ich nicht. Uebrigens wäre das für mich nur ein weiterer Grund, Fräulein von Kermor nicht zu verlassen. Ich... Sie verlassen... denn – setzte er mit einem Blick auf das junge Mädchen, das die Augen niederschlug, hinzu – das... das haben Sie mir doch zu verstehen geben wollen.
– Herr Helloch... ja... ich wollte... ich mußte es... Ich kann Ihren Edelmuth nicht mißbrauchen. Allein hatte ich mich auf diese weite Reise begeben... Gott hat Sie mir in den Weg gesendet, und ich danke ihm dafür aus Herzensgrund... doch...
– Doch Ihre Pirogue erwartet Sie, mein Fräulein, wie mich die meinige, und beide werden zusammen dem Ziele zustreben. Ich habe diesen Beschluß[277] mit gutem Bewußtsein gefaßt, und was ich einmal zu thun beschlossen habe, das führ' ich auch aus! Wenn Sie dafür, daß ich Sie diese Fahrt allein fortsetzen ließe, keine andern Gründe haben, als die Gefahren, die Sie andeuten...
– Herr Jacques, fiel Fräulein von Kermor lebhaft ein, welch andre Gründe könnt' ich dazu haben?...
– Nun also, Jean, mein lieber Jean – ich muß Sie ja noch so nennen – sprechen wir nicht mehr von einer Trennung, und nun muthig vorwärts!«
Das Herz klopfte ihm mächtig, diesem »lieben Jean«, während er nach der »Gallinetta« zurückkehrte. Und als Jacques Helloch wieder zu seinem heimlich lächelnden Freunde kam, empfing ihn dieser mit den Worten:
»Ich möchte gleich darauf wetten, daß Fräulein von Kermor Dir gedankt hat für das, was Du für Sie gethan hast, und daß sie Dich gleichzeitig bat es damit genug sein zu lassen...
– Ich hab' ihr das aber abgeschlagen, rief Jacques Helloch. Ich werde sie nie und nimmer verlassen!
– Sapperment, das ist viel gesagt!« erwiderte einfach Germain Paterne, der den Freund leicht auf die Schulter klopfte.
Daß der letzte Theil der Reise den Insassen der Piroguen noch schwere Unannehmlichkeiten vorbehalten könnte, war nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Vorläufig hatten sie sich aber nicht zu beklagen. Der Wind hielt sich sehr stetig aus Westen, und die Falcas kamen mit ihren Segeln recht gut gegen die nicht unbedeutende Strömung auf.
An diesem Tage gelangte man, nach dem Vorüberkommen an mehreren Inseln, auf denen der Wind die Kronen der hohen Bäume beugte, gegen Abend nach der nahe einer Biegung des Orinoco gelegenen Insel Bayanon. Bei dem Ueberflusse an Proviant, den man der Freigebigkeit des Herrn Manuel Assomption und seiner Söhne verdankte, war es nicht nöthig, jagen zu gehen. Da ferner die Nacht besonders klar und vom Mond hell erleuchtet war, schlugen Parchal und Valdez vor, erst am nächsten Morgen Halt zu machen.
»Wenn der Strom frei von Klippen und Felsen ist, meinte Jacques Helloch dazu, und wenn Sie nicht fürchten, gegen einen Kiesel anzustoßen...
– Nein, nein, versicherte der Schiffer Valdez, wir müssen aber die schöne Witterung benutzen, um ein Stück stromaufwärts zu kommen. Es ist selten, daß man sich in dieser Jahreszeit so begünstigt sieht.«[278]
Der Vorschlag war gut, er wurde angenommen, und die Piroguen sandten ihre Haltetaue nicht ans Land.
Die Nacht verstrich ohne Unfall, obgleich der ohnehin nur dreihundertfünfzig Meter breite Strom zuweilen durch eine Kette von Inselchen – vorzüglich bei der Mündung des Rio Guanami, eines Zuflusses am rechten Ufer – noch weiter eingeengt wurde.
Am Morgen befanden sich die »Gallinetta« und die »Moriche« in der Höhe der Insel Tremblador, wo Chaffanjon mit einem intelligenten und dienstwilligen Neger namens Ricardo in Beziehung getreten war. Dieser Neger aber, der damals den Titel eines Commissars des Cunucunuma und des Cassiquiare führte, hatte inzwischen seinen Wohnsitz gewechselt. Nach Aussage des französichen Reisenden war es ein sehr strebsamer, streng nüchterner und energischer Mann gewesen, dessen Unternehmungen gewiß gediehen waren und der nun jedenfalls einen andern Rancho im nördlicheren Theile der Savanne eingerichtet hatte.
»Ich bedaure, daß dieser Ricardo nicht mehr hier ist, bemerkte Jacques Helloch. Vielleicht hätten wir von ihm erfahren, ob Alfaniz in der Nachbarschaft des Stromes aufgetaucht sei.«
Dann wendete er sich an den Spanier.
»Haben Sie, Jorres, bei Ihrem Aufenthalte in San-Fernando wohl von den Flüchtlingen von Cayenne reden hören, und von der Indianerbande, die sich ihnen angeschlossen hat?
– Gewiß, Herr Helloch, antwortete der Spanier.
– Hat man ihr Auftreten in den Provinzen des obern Orinoco gemeldet?
– Daß ich nicht wüßte. Man sprach nur von einer Rotte Quivas-Indianer.
– Ganz recht, Jorres, und Alfaniz, ein Sträfling ist es, der sich an ihre Spitze gestellt hat.
– Das ist das erste Mal, daß mir dieser Name zu Ohren kommt, erklärte der Spanier. Auf keinen Fall hätten wir aber ein Zusammentreffen mit jenen Quivas zu fürchten, denn wie man allgemein behauptete, suchten sie wieder nach Columbia, woraus man sie vertrieben hatte, zu gelangen, und wenn das zutrifft, können sie nicht auf dieser Seite des Orinoco sein.«
Es war ja möglich, daß Jorres recht unterrichtet war, als er sagte, daß die Quivas sich mehr nördlich nach den Ilanos Columbias zu zurückgezogen[279] hätten. Trotzdem vergaßen die Reisenden aber die Empfehlungen des Herrn Manuel Assomption keine Minute und hielten sich immer auf ihrer Hut.
Der Tag ging hin, ohne daß sich ein besondrer Zwischenfall ereignete. Die Piroguen kamen ziemlich schnell vorwärts und gingen von Insel zu Insel, von denen immer die eine gleich auf die andre folgte.
Am Abend legten sie sich an der Spitze der Insel Caricha fest.
Da Windstille eingetreten war erschien es rathsamer. Halt zu machen, als in der Dunkelheit zu den Palancas zu greifen.
Bei einem kurzen Ausflug, den Jacques Helloch und der Sergeant über das Uferland der Insel unternommen hatten, erlegten sie eines jener Faulthiere, die gern zwischen den Aesten einer Cecropia hocken, deren Blätter ihnen als gewöhnliche Nahrung dienen. Darauf nach der Mündung des Rio Caricha zurückgekehrt, wo ein Paar jener, zur Familie der Chironecten gehörigen, Sarignen auf eigene Rechnung fischten gelang den Jägern noch ein Doppelschuß, der ebenso geschickt als glücklich zu nennen war. Da sich jene Sarignen nur von Fischen nähren, ist ihr Fleisch aber zähe und so thranig, daß selbst die Indianer nichts davon wissen wollen. Sie können also keineswegs die Affen ersetzen, die, selbst für europäische Gaumen, ein wirklich vortreffliches Gericht abgeben.
Dagegen fanden die Chironecten einen freundlichen Empfang bei Germain Paterne, der mit Unterstützung Parchal's sofort daran ging, sie auszunehmen und zu präparieren, um ihr Fell haltbar zu machen.
Das sich ausschließlich von Früchten nährende Faulthier wurde geröstet, indem man es in ein mit glühend heißen Steinen ausgelegtes Loch steckte, worin es die Nacht über bleiben sollte. Die Passagiere freuten sich darauf, es zu verspeisen, wenn es am nächsten Tage beim Frühstücke erschien, und wenn sein Fleisch dann ja etwas zu stark nach Rauch schmeckte, so fanden sich unter den Leuten der Piroguen dafür gewiß immer noch Liebhaber genug. Diese Indianer waren ja überhaupt nicht wählerischer Natur, und als einer von ihnen am nämlichen Abende einige Dutzend großer, fast einen Fuß langer Regenwürmer mitgebracht hatte, sotten sie diese mit Kräutern ab und verzehrten sie mit behaglichem Schmunzeln.
Natürlich wollte Germain Paterne, getreu seinem Grundsatze, Alles womöglich selbst zu prüfen, zuerst auch davon kosten. Der Widerwille siegte hier aber doch über den Wissenstrieb, wenigstens brachte er die »Speise« nur bis an den Rand der Lippen.[280]
»Ich glaubte, Du wärest Deiner Wissenschaft inniger ergeben! scherzte Jacques Helloch über den Widerwillen des Freundes, der mit seinem Naturforscherinstinct ja eigentlich unvereinbar war.
– Ich bitte Dich, Jacques, auch der Opfermuth des Naturforschers hat seine Grenzen! antwortete Germain Paterne, bemüht, nicht merken zu lassen, daß es ihm noch einmalschlimm und übel wurde.
Am nächsten Tage wurde eiligst aufgebrochen, um einen Morgenwind zu benutzen, der kräftig genug war, die Segel der Falcas zu schwellen. Von[281] jetzt ab sah man auch eine hohe Bergkette die Waldmassen überragen, die sich am rechten Ufer bis zum Horizont ausdehnten. Es war das Duldogebirge, eines der bedeutendsten dieser Gegenden, das den Reisenden mehrere Tage in Sicht blieb.
Nach vierundzwanzig Stunden einer anstrengenden Fahrt, während der der Wind öfters aussetzte und Regenschauer mit kurzem Aufklären des Himmels sich ablösten, machten Valdez und Parchal für die Nacht an der Piedra Pintada Halt.
Dieser »Bemalte Stein« ist nicht mit dem zu verwechseln, den die Reisenden schon bald nach der Abreise von San-Fernando gesehen hatten. Wenn er dieselbe Bezeichnung hat, so rührt das daher, daß die Felsen am linken Ufer ähnliche Spuren von symbolischen Figuren und hieroglyphischen Schriftzeichen aufweisen. In Folge des schon recht niedrigen Wasserstandes waren solche Zeichen auch schon am Fuße des Gesteins sichtbar, und Germain Paterne konnte sie nach Belieben studieren.
Auch Chaffanjon hatte das gethan; er erwähnt es in seinem Reiseberichte, den die Passagiere unaufhörlich zu Rathe zogen. Hierzu muß indeß darauf hingewiesen werden, daß ihr Landsmann diesen Theil des Orinoco in der zweiten Hälfte des November bereist hatte, während Jacques Helloch und seine Gefährten schon in der zweiten Hälfte des October hier waren. Der Zeitunterschied eines Monats kommt aber durch einen sehr deutlichen Witterungsunterschied in einem Lande zum Ausdruck, wo die trockne Jahreszeit sich sozusagen schroff an die Regenzeit anlehnt.
Der Wasserstand des Flusses war also jetzt noch etwas höher, als er es nach einigen Wochen sein mußte, und dieser Umstand sollte die Fahrt der beiden Piroguen begünstigen, denn gerade der Wassermangel wird hier oft zur Ursache der ärgerlichsten Hindernisse.
Am heutigen Abend rastete die kleine Gesellschaft an der Mündung des Cunucunuma, eines der Hauptzuflüsse der rechten Seite. Germain Paterne glaubte nicht für diesen Nebenfluß Partei ergreifen zu sollen, wie er es für den Ventuari gethan hatte, und doch wäre das hier nicht weniger begründet gewesen.
»Was nützte es auch? begnügte er sich zu sagen. Die Herren Felipe und Varinas sind ja nicht zur Stelle und das Gespräch darüber würde einschlafen.«
Unter andern Verhältnissen wäre Jacques Helloch wohl, mehr eingedenk des erhaltenen Auftrages, dem Beispiele des Landsmanns gefolgt, der ihm[282] auf dem obern Orinoco vorhergegangen war. Vielleicht hätte er mit Parchal und einem seiner Leute den Curiare der »Moriche« bestiegen und gleich Chaffanjon den Lauf des Cunucunuma im mariquitarischen Gebiete fünf bis sechs Tage lang näher erforscht; vielleicht wäre er schließlich auch mit jenem Generalcapitan, dem Schlaukopf Aramare, und seiner Familie, die von dem französischen Reisenden aufgesucht und photographiert worden waren, in nähere Beziehung getreten.
Jetzt aber waren die Vorschriften des Ministers des öffentlichen Unterrichts einem neuen Ziele, das Jacques Helloch nach Santa-Juana verlockte, geopfert worden. Es drängte ihn, dahin zu kommen, und er hätte sich bittere Vorwürfe gemacht, wenn er die Lösung der kindlichen Aufgabe Jeanne's irgendwie verzögert hätte.
Nur zuweilen erinnerte ihn Germain Paterne – nicht um ihm einen Vorwurf zu machen, sondern nur, um das eigene Gewissen etwas zu beruhigen – leichthin an seine, etwas vernachlässigte Aufgabe.
»Ja, ja... es ist schon gut! antwortete dann Jacques Helloch. Was wir auf dem Hinwege versäumten, können wir auf dem Rückwege nachholen.
– Wann denn?
– Nun, Sapperment, wenn wir zurückkommen. Glaubst Du etwa, wir würden niemals zurückkehren?
– Ich?... Ich weiß gar nichts. Wer weiß denn, wohin wir gehen? Wer weiß, was uns da draußen zustößt? Angenommen, der Oberst von Kermor würde überhaupt nicht gefunden...
– Nun, Germain, dann wird es Zeit sein, an die Rückfahrt zu denken.
– Mit Fräulein von Kermor?
– Natürlich!
– Nehmen wir aber an, unsre Nachsuchungen glückten, der Oberst von Kermor würde aufgefunden und seine Tochter wünschte dann – wie wahrscheinlich – bei ihm zu bleiben, könntest Du Dich dann entschließen, umzukehren?
– Umzukehren... wiederholte Jacques Helloch mit einer Betonung, die erkennen ließ, daß ihn solche Fragen in Verlegenheit setzten.
– Allein umzukehren... selbstverständlich mit mir?
– Gewiß, Germain!
– Na, Jacques, auf dieses »gewiß« möcht' ich nicht so viel bauen.
– Du bist ein kleiner Narr![283]
– Zugegeben; doch Du... Du bist verliebt, und das ist nur eine andre, nicht weniger unheilbare Narrheit.
– Auch das noch?... Du sprichst da von Dingen...
– Von denen ich kein Jota verstehe. Weiß schon! Doch unter uns, Jacques, wenn ich nichts davon verstehe, so hab' ich doch ein Paar Augen, und ich weiß nicht, warum Du Dich bemühst, ein Gefühl zu verheimlichen, das mit Deiner wissenschaftlichen Aufgabe ja nichts gemein hat, und das ich übrigens ganz natürlich finde.
– Nun ja, alter Freund, gestand Jacques mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte, ja, ich liebe dieses junge, so muthige Mädchen, und ist es denn etwas Wunderbares, daß die Theilnahme, die sie mir einflößte, sich entwickelt hat zur... Ja, ich liebe sie, werde sie niemals verlassen! Was daraus werden, wie es enden soll... ich weiß es nicht.
– Gut wird es enden!« antwortete Germain Paterne.
Er glaubte, dieser Versicherung nichts weiter hinzufügen zu sollen, sie brachte ihm aber den wärmsten Händedruck ein, den er von seinem Freunde jemals erhalten hatte.
Es ergiebt sich aus diesen wichtigen Nebendingen, daß es, wenn der Lauf des Cunucunuma jetzt nicht untersucht wurde, recht unsicher war, ob das bei der Rückkehr der Piroguen nachgeholt würde. Und doch hätte er es verdient, denn er ist eine bedeutende Wasserader, die eine malerische und reiche Gegend durchzieht. Ihre Mündung hat auch schon eine Breite von zweihundert Metern.
Am nächsten Tage setzten sich die »Gallinetta« und die »Moriche« wieder in Bewegung, und was bei dem Cunucunuma nicht geschehen war, das unterblieb ebenso bei dem Cassiquiare, dessen Mündung noch am Vormittag passiert wurde.
Es handelte sich hier übrigens um einen der wichtigsten Nebenflüsse des großen Stromes. Das Wasser, das er diesem durch eine Einbuchtung des Ufers zuführt, kommt aus den Abdachungen des Beckens des Amazonenstromes. Das hatte Humboldt erkannt, und schon vor ihm hatte der Naturforscher Solano sich überzeugt, daß zwischen den beiden Becken erst durch den Rio Negro und weiterhin durch den Cassiquiare eine Verbindung bestand.
Gegen 1725 war der portugiesische Kapitän Moraes, als er den Rio Negro bis unterhalb San-Gabriel, am Einflusse des Guaïria, hierauf diesen bis San-Carlos befuhr und von hier aus auf den Cassiquiare überging, auf dem[284] Orinoco herausgekommen, nachdem er auf diese Weise das venezuelo-brasilianische Gebiet durchschifft hatte.
Entschieden verdiente der Cassiquiare die Untersuchung eines Sachverständigen, obgleich seine Breite hier kaum vierzig Meter übersteigt. Die Piroguen setzen jedoch ihren Weg stromaufwärts fort.
In diesem Theile des Stromes ist das rechte Ufer sehr uneben. Ohne von der Duidokette zu sprechen, die sich, von undurchdringlichen Wäldern bedeckt, am Horizonte hinzieht, bilden die Guaaco-Cerros eine natürliche Böschung, über die der Blick weit über die Ilanos zur Linken schweifen kann, die von dem gewundenen und abwechslungsreichen Cassiquiare durchfurcht werden.
Die Falcas kamen also bei recht mäßigem Winde vorwärts, so daß sie die Strömung bisweilen nur mit Mühe überwanden. Da machte Jean, kurz vor Mittag, auf eine niedrige, dichte Wolke aufmerksam, die sich über die Savanne hinzuziehen schien.
Parchal und Valdez betrachteten diese Wolke, deren schwere, dunkle Masse sich nach dem rechten Ufer zu heranwälzte.
Auf dem Vordertheil der »Gallinetta« stehend, blickte auch Jorres nach der nämlichen Richtung hinaus und sachte sich die Ursache der Erscheinung zu enträthseln.
»Das ist eine Staubwolke«, sagte Valdez.
Parchal theilte diese Anschauung.
»Wer kann den Staub aber aufwirbeln? fragte der Sergeant Martial.
– Vielleicht eine marschierende Truppe, antwortete Parchal.
– Dann müßte sie aber zahlreich sein, bemerkte Germain Paterne.
– Freilich, sehr zahlreich!« setzte Valdez hinzu.
Nur noch zweihundert Meter vom Ufer, zog die Wolke jetzt sehr schnell heran. Dann und wann zerriß sie ein wenig, und man sah dann durch solche Spalten scheinbar röthliche Massen sich fortbewegen.
»Sollte das eine Bande Quivas sein? rief Jacques Helloch.
– In diesem Falle, erwiderte Valdez, müßten wir die Piroguen aus Vorsicht nach dem linken Ufer hinüberführen.
– Aus Vorsicht, ja, stimmte Valdez zu, und ohne einen Augenblick zu zögern!«
Sofort wurde der betreffende Befehl ertheilt. Die Mannschaften zogen die Segel ein, da diese die Falcas auf dem Wege schräg über den Strom[285] nur gehindert hätten, und auf die Palancas gestemmt, trieben sie die »Gallinetta«, die der »Moriche« vorausfuhr, nach dem linken Ufer.
Jorres war übrigens, nachdem er die Staubwolke aufmerksam betrachtet hatte, an seinen Platz zurückgekehrt und hatte ohne ein Zeichen von Unruhe eine Pagaie ergriffen.
Wenn der Spanier aber nicht unruhig war, hatten die Reisenden doch alle Ursache, es zu sein, wenn sie hier von einem Ueberfall durch Alfaniz und seine Indianer bedroht waren. Von diesen Raubgesellen war keine Schonung zu erwarten. Zum Glück aber mußten die Piroguen, da jene keine Mittel hatten, über den Strom zu setzen, vorläufig und so lange sie sich am linken Ufer hielten, gegen einen Angriff geschützt sein.
Hier angelangt, legten sie Valdez und Parchal an Baumstümpfe des steilen Ufers fest, und die Passagiere bereiteten sich, ihre Waffen fertig haltend, für den schlimmsten Fall auf die Abwehr vor.
Die dreihundert Meter der Breite des Orinoco gingen nicht über die Schußweite der Gewehre hinaus.
Man brauchte nicht lange zu warten. Die Staubwolke wirbelte jetzt kaum zwanzig Meter vom Ufer daher. Daraus tönte Geschrei hervor, oder vielmehr ein charakteristisches Brüllen, über das sich niemand täuschen konnte.
»O, da ist nichts zu fürchten! rief Valdez. Das ist ja nur eine Herde Rinder!
– Valdez hat Recht, bestätigte Parchal. Aus dem Staube tauchen einige tausend Thiere hervor...
– Und verursachen allen diesen Heidenlärm!« setzte der Sergeant Martial hinzu.
Der betäubende Lärm rührte in der That von dem Gebrüll dieser lebenden Fluthwelle her, die über die Flächen der Ilanos daherrollte.
Jean, den Jacques Helloch bestimmt hatte, im Deckhause der »Gallinetta« Schutz zu suchen, trat wieder heraus, um den Durchzug einer Viehherde durch den Orinoco mit anzusehen.
Solche Wanderungen von Rindern sind auf dem Gebiete Venezuelas nichts Seltnes. Die Eigenthümer der Thiere müssen wohl oder übel den Anforderungen der trocknen und der nassen Jahreszeit Rechnung tragen. Wenn es in den höher gelegenen Landstrecken an Gras zu fehlen beginnt, macht es sich nöthig, Weideplätze auf den niedriger gelegenen Ebenen in der Nachbarschaft des Stromes[286] aufzusuchen, wobei mit Vorliebe die Thalgründe gewählt werden, die bei Hochwasser Ueberschwemmungen ausgesetzt sind und darauf einen desto üppigeren Pflanzenwuchs zeigen. Gräser aller Art bieten den Thieren dann auf der ganzen Ausdehnung der Esteros eine ebenso reichliche wie ausgezeichnete Nahrung.
Die Ilaneros müssen also mit ihrem Thierbestand zeitweilig auswandern, und wo sie auf einen Wasserlauf, einen Fluß, Rio oder Bayou treffen, wird er schwimmend überschritten.
Jacques Helloch und seine Gefährten sollten jetzt dem interessanten Schauspiele beiwohnen, ohne von diesem Tausende von Köpfen zählenden Haufen von Wiederkäuern etwas zu fürchten zu haben.
Am Ufer angelangt, blieben die Rinder zunächst stehen. Da verdoppelte sich aber der Lärm, denn die letzten Reihen drängten die ersten widerstandslos weiter, während diese anfänglich zauderten, in den Strom zu springen.
Sie wurden dazu aber schließlich durch den ihnen vorausgehenden Cabestero gezwungen.
Das ist nämlich der Schwimmmeister, erklärte Valdez Er wird sein Pferd mitten in den Strom treiben und die Thiere folgen ihm dann nach.«
In der That stürzte sich der Cabestero mit raschem Sprung über das abfallende Ufer hinunter. Einige Kuhhirten, denen ein Führer vorausging, welcher eine Art wilder Hymnen, ein »Vorwärts!« von seltsamem Rhythmus anstimmte, schwammen voran. Nun stürzte sich auch die Herde in den Strom, auf dessen Fläche man nur noch die Köpfe mit den langen, geschweiften Hörnern sah während die mächtigen Nasenlöcher geräuschvoll schnauften.
Bis zur Mitte des Strombettes vollzog sich der Uebergang ohne Schwierigkeit, trotz der Strömung, und man konnte annehmen, daß er unter der Leitung des Schwimmmeisters und dank der Geschicklichkeit der Führer auch ohne Unfall durchgeführt würde.
Es sollte aber anders kommen.
Plötzlich entstand eine auffallende Bewegung unter den schwimmenden Thieren, als sich noch mehrere Hunderte etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt befanden. Auch laute Ausrufe der Kuhhirten mischten sich unter das Gebrüll der Rinder. Es schien, als ob die ganze Masse von Schrecken gepackt wäre, dessen Ursache nicht erkenntlich war.
»Die Cariben!.. Die Cariben! riefen da die Leute von der »Moriche« und der »Gallinetta«.[287]
– Die Cariben? wiederholte Jacques Helloch.
– Ja, bestätigte Parchal, das verschulden Cariben und Parayos!«
Offenbar war die Herde zwischen eine große Anzahl jener furchtbaren Zitterrochen und elektrischen Aale gerathen, die es in den Wasserläufen Venezuelas zu Millionen giebt.
Durch die Entladungsschläge dieser lebenden »Leydener Flaschen«, die immer einen großen Vorrath hochgespannter Elektricität enthalten, wurden die Rinder erst von heftigen Zuckungen befallen, dann mehr und mehr gelähmtund endlich ganz bewegungslos gemacht. Dann sanken sie auf die Seite und bewegten höchstens noch zum letzten Male die von den elektrischen Entladungen durchschütterten Beine.
Viele davon versanken binnen wenigen Secunden, während andre in ihrer Verwirrung, die Zurufe der Führer, von denen einige selbst von den Gymnoten getroffen worden waren, überhörend, von der Strömung weggerissen wurden und das andre Ufer erst einige hundert Meter flußabwärts erklimmen konnten.
Da es nicht möglich gewesen war, die noch nach dem Ufer herandrängenden hintern Reihen der Thiere, welche die andern gleichsam vor sich herschoben, anzuhalten, mußten sich immer weitere von den erschreckten Rindern wohl oder übel ins Wasser stürzen. Jedenfalls hatte sich die elektrische Energie der Parayos und der Cariben aber allmählich erschöpft. So gelangte denn eine große Menge der Thiere ohne größeren Schaden an das linke Ufer, von wo aus sie geräuschvoll nach der Savanne zu entflohen.
»Na, meinte Germain Paterne, so etwas sieht man in der Seine und Loire denn doch nicht, nicht einmal in der Garonne, und es ist wahrlich ein Schauspiel, das der Mühe des Zusehens lohnt!
– Donner und Doria, platzte der Sergeant Martial heraus, wir würden uns vor diesen verwünschten Aalen schon zu hütenwissen!
– Gewiß, mein wackrer Sergeant, erklärte Jacques Helloch; gegebenenfalls schützt man sich dagegen, wie gegen eine elektrische Batterie.
– Das Klügste bleibt aber doch, bemerkte Parchal, nicht da ins Wasser zu fallen, wo es von den gefährlichen Burschen wimmelt.
– Ganz recht, Parchal, ganz recht!« stimmte Germain Paterne ihm zu.
Es ist allbekannt, daß Gymnoten in den Flüssen Venezuelas sehr zahlreich vorkommen und manches Unheil anrichten; dagegen wissen die Fischer daselbst auch, daß jene ein vortreffliches Nahrungsmittel abgeben. Deshalb fangen sie die Zitterrochen und dergleichen mit Angeln, lassen sie in fruchtlosen Entladungen sich erschöpfen und können dann ohne Gefahr damit hantieren.
Was soll man aber von Humboldt's Berichte halten, worin ausgesprochen ist, daß seiner Zeit Pferdeherden unter diese Wasserwütheriche gejagt und deren elektrischen Schlägen ausgesetzt worden wären, nur um den Fang der Fische zu erleichtern? Elisée Reclus' Ansicht geht dahin, daß selbst zur Zeit, wo noch zahllose Pferde durch die Ilanos schwärmten, diese doch noch für zu werthvoll galten, als daß man sie in so barbarischer Weise hingeopfert hätte,[291] und er dürfte damit Recht haben. Als die Piroguen ihre Fahrt wieder aufgenommen hatten, wurde diese durch die Schwäche des Windes verzögert, der im allgemeinen jeden Nachmittag abflaute. An verschiedenen engen Stellen mit verstärkter Strömung mußte man sich deshalb mittelst der Estrillas weiterhelfen, was den Verlust einiger Stunden verursachte. Schon war die Nacht herangekommen, als die Passagiere am Fuße des Dorfes la Esmeralda anhielten.
Zu dieser Zeit war über dem rechten Ufer der Himmel glänzend von lodernden Flammen beleuchtet, die aus dem bewaldeten Gipfel der Pyramide des zweitausendvierhundertvierundsiebzig Meter über das Meer emporragenden Duido hervorzüngelten. Es handelte sich dabei nicht um einen Krater, der seine Gluthmassen durch vulcanische Zuckungen ausspie, sondern nur um einfache, hüpfende Flammengarben, die die obern Abhänge des Cerro umgaukelten, während durch jene blendenden Blitze verwirrte Wasserfledermäuse über den still am Ufer liegenden Falcas hin und her huschten.
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