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[268] Im Laufe des Vormittags las ich, das Werk Edgar Poë's vor den Augen, das fünfundzwanzigste Capitel desselben mit gespannter Aufmerksamkeit noch einmal durch. Darin ist erzählt, daß jene beiden Flüchtlinge, die den Eingebornen Nu-Nu mitschleppten, als die Tsalalier sie verfolgen wollten, sich schon fünf oder sechs Meilen vor der Bai auf dem Meere befanden. Von den sechs bis sieben im Westen vorgelagerten Inseln hatten wir eben nur noch Reste in Form von Eilanden zu Gesicht bekommen.
Was uns aus dem genannten Capitel am meisten interessierte, sind die Zeilen, die ich hier wortgetreu wiedergebe.
»Von Norden her auf der »Jane« heransegelnd, um die Insel Tsalal anzulaufen, hatten wir die durch Eis am schlimmsten gefährdeten Meerestheile hinter uns gelassen – und obgleich das den über den Antarktischen Ocean verbreiteten Ansichten völlig widerspricht, war es eine Thatsache, die wir nach der gemachten Erfahrung nicht mehr ableugnen konnten. Jetzt wieder nach Norden umkehren zu wollen, wäre, vorzüglich bei so weit vorgeschrittener Jahreszeit, eine offenbare Thorheit gewesen. Ein einziger Weg schien uns noch eine gewisse Hoffnung zu eröffnen. Wir entschieden uns dafür, kühn nach Süden zu steuern, wo wir noch einige Aussicht zu haben glaubten, andere Inseln und vielleicht gar ein milderes Klima vorzufinden.«
Das war der Gedankengang Arthur Pym's, und wir mußten a fortiori dieselben Wege wandeln. Es war also am 29. Februar – 1828 war ein Schaltjahr – wo die Flüchtlinge auf dem »grenzenlosen und verlassenen« Ocean über den vierundachtzigsten Breitengrad hinaus hintrieben. Wir hatten heute erst den 29. December. Die »Halbrane« war um volle zwei Monate dem von der Insel Tsalal fliehenden Boote voraus, das schon von der Annäherung des langen Polarwinters bedroht wurde. Daneben flößte unsere wohlversorgte, gut geführte und reichlich bemannte Goëlette jedermann doch weit mehr Vertrauen ein, als das Fahrzeug Arthur Pym's, jenes Boot mit Knochenrippen,[268] das bei fünfzig Fuß Länge vier bis fünf Fuß breit war und als Proviant für drei Mann nur drei Schildkröten mitführte.
Ich hegte also für diesen zweiten Theil der Reise die beste Hoffnung.
Im Laufe des Vormittags verschwanden die letzten Eilande des Archipels hinter dem Horizonte. Das Meer bot dasselbe Aussehen, wie wir es von der Insel Bennet her kannten – ohne ein einziges Stück Eis – und das erklärte sich wohl, da das Wasser eine Temperatur von 43° Fahrenheit (+ 6°11 Celsius) aufwies. Die ziemlich schnelle Strömung – von vier bis fünf Seemeilen in der Stunde – verlief unverändert von Norden nach Süden.
Durch die Luft flatterten Schwärme von Vögeln, immer dieselben Arten, wie Alcyons, Pelikane, Captauben, Sturmvögel und Albatrosse. Freilich zeigten die letzteren nicht die riesigen Größenverhältnisse, die Arthur Pym in seinem Tagebuche angiebt, und keiner stieß das ewige tekeli-li hervor, das in der tsalalischen Sprache die häufigste Lautverbindung zu sein schien.
Von den zwei folgenden Tagen ist kein Zwischenfall zu berichten; es wurde weder ein Land, noch die Andeutung eines solchen gemeldet. Die Leute an Bord machten einen reichen Fischfang, da es hier Papageifische, Stockfische, Rochen, Meeraale, Tummler und andere Arten in großer Menge gab. Das vereinigte Talent Hurliguerly's und Endicott's versorgte die Tafel des Deckhauses und der Mannschaftsmesse mit angenehmer Abwechslung, und ich glaube, die beiden Freunde hatten auf unsere Anerkennung die gleichen Ansprüche.
Am nächsten Tage, dem 1. Januar 1840 – wiederum eines Schaltjahres – verschleierte ein leichter Nebel die Sonne von Tagesanbruch an, und wir schlossen daraus, daß sich damit ein Witterungsumschlag ankündigen möge.
Es waren nun vier Monate und siebzehn Tage, daß ich die Kerguelen, und zwei Monate und fünf Tage, daß die »Halbrane« die Falklands verlassen hatte.
Wie lange unsere Fahrt noch dauern sollte, das bekümmerte mich weit weniger als die Frage, wie weit sie uns noch durch das antarktische Gebiet verschlagen würde.
Ich muß hier einschalten, daß in dem Verhalten des Mestizen gegen mich – wenn auch nicht gegen den Kapitän Len Guy und die Mannschaft – eine gewisse Veränderung eingetreten war. Da er jedenfalls erkannt hatte, daß ich mich für Arthur Pym interessierte, suchte er mich auf und, um einen volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, »wir verstanden uns«, ohne daß es dazu der Worte bedurft hätte. Zuweilen entsagte er mir gegenüber sogar seinem[269] gewohnten Stillschweigen. Nahm ihn der Dienst nicht in Anspruch, so schlich er sich wohl nach der Bank hin, wo ich hinter dem Deckhause gern zu sitzen pflegte. Drei- bis viermal mochte es zwischen uns schon zu dem Versuche eines Zwiegesprächs gekommen sein. Sobald freilich der Kapitän Len Guy, der Lieutenant oder der Hochbootsmann an uns herantrat, ging er wieder davon.
Heute gegen zehn Uhr – Jem West hatte die Wache und der Kapitän Len Guy befand sich in seiner Cabine – kam der Mestize langsam an der Schanzkleidung her, offenbar mit der Absicht, ein Gespräch anzufangen, über dessen Thema kein Zweifel aufkommen konnte.
Sobald er neben meiner Bank stand, fragte ich:
»Nun, Dirk Peters, wollen Sie – um gleich auf den Kern der Sache zu kommen – daß wir von »ihm« sprechen?«
Die Augen des Mestizen leuchteten auf wie kräftig angeblasene Feuergluth.
»Von ihm! murmelte er.
– Sie haben sein Angedenken stets treu bewahrt, Dirk Peters!
– Ich könnte ihn vergessen, Herr... niemals!
– Er ist noch immer da... da vor uns?
– Noch immer!... Verstehen Sie mich recht... alle Noth und Gefahr mit einander getheilt zu haben... das macht zwei Menschen zu Brüdern... nein, zu Vater und Sohn!... Ja, ich liebe ihn wie mein Kind!... Nachdem wir beide so weit weg waren... er, zu weit, denn er ist ja nicht zurückgekehrt!... Mich hat man in Amerika wieder gesehen... doch Pym... der arme Pym... weilt noch immer da draußen.«
Die Augen des Mestizen füllten sich mit schweren Thränen. Ein Wunder, daß sie bei dem Feuer in seinen Augen nicht verdunsteten.
»Dirk Peters, fragte ich weiter, Sie haben keine Vorstellung von dem Wege, den Sie und Arthur Pym seit der Abfahrt von der Insel Tsalal in dem Boote genommen haben?
– Keine, Herr Jeorling! Der arme Pym besaß kein Hilfsmittel mehr... Sie verstehen... kein Instrument, die Sonnenhöhe zu messen. Wir konnten nichts wissen. Jedenfalls hat uns die Strömung aber acht Tage lang nach Süden hinunter getrieben... der Wind ebenfalls... es stand eine leichte Brise bei stillem Meere. Zwei Pagaien hatten wir an Stelle eines Mastes im Boote aufgerichtet und unsere Hemden dienten uns als Segel...[270]
– Ja, fiel ich ein, weißleinene Hemden, vor deren Farbe sich Ihr Gefangener, Nu-Nu, so arg entsetzte...
– Vielleicht... ich habe darauf nicht besonders geachtet... doch wenn Pym es gesagt hat, wird es schon wahr sein!«
Ich wußte vorher nicht, daß einige der Erscheinungen, die in dem nach den Vereinigten Staaten heimgebrachten Tagebuche geschildert sind, der Aufmerksamkeit des Mestizen entgangen waren. Uebrigens befestigte sich in mir immer mehr der Gedanke, daß diese Erscheinungen wohl nur in einer übermäßig aufgeregten Phantasie existiert hatten.
Immerhin wollte ich Dirk Peters über alles das womöglich näher ausforschen.
»Und während jener acht Tage haben Sie sich die nöthige Nahrung verschaffen können?
– Jawohl, Herr Jeorling... und die nächsten Tage ebenfalls... uns und für den Wilden.... Sie wissen ja... wir besaßen drei Schildkröten....diese Thiere enthalten eine gewisse Menge Süßwasser... und ihr Fleisch ist schmackhaft... selbst roh genossen... O... rohes Fleisch... Herr...!«
Bei den letzten Worten ließ Dirk Peters die Stimme sinken und sah sich rings um, als könnte er von Andern gehört werden.
Diese Seele erbebte also immer noch bei der unverlöschbaren Erinnerung an die Vorfälle mit dem »Grampus«! Niemand vermöchte sich den Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht des Mestizen vorzustellen, als dieser von dem rohen Fleische sprach. Das war nicht der eines Cannibalen von Australien, sondern eines Mannes, der einen unüberwindlichen Abscheu vor sich selbst empfindet.
Nach längerem Schweigen lenkte ich das Gespräch seinem eigentlichen Thema wieder zu.
»War es nicht am ersten März, Dirk Peters, fragte ich, wo Sie – dem Berichte Ihres Genossen nach – zum ersten Male die breite, graue Dunstwand mit schwankenden, leuchtenden Streifen erblickten?
– Das weiß ich nicht, Herr Jeorling, doch wenn es Pym gesagt hat, wird man ihm Glauben schenken müssen.
– Er hat Ihnen niemals von feurigen Strahlen gesprochen, die vom Himmel herabzuckten?« fuhr ich fort, unter Vermeidung des Wortes »Südlicht«, das der Mestize vielleicht nicht verstanden hätte.
[271] Ich kam hiermit auf die Hypothese zurück, daß jene Erscheinungen von der Intensität in den hohen Breiten so mächtiger elektrischer Ausstrahlungen herrührten, wenn solche überhaupt vorgekommen waren.
»Niemals, Herr Jeorling, antwortete Dirk Peters erst nach einigem Besinnen.
– Sie haben auch nicht bemerkt, daß das Meer seine Farbe veränderte... seine Durchsichtigkeit verlor,... daß es weiß wurde... mehr der Milch ähnelte... daß seine Oberfläche in der Nähe des Bootes besonders bewegt erschien?[272]
– Ob das der Fall war, weiß ich nicht. Verstehen Sie mich recht. Ich war nicht mehr ordentlich bei Bewußtsein. Das Boot trieb dahin... immer weiter... mir schwirrte es im Kopfe....
– Der Staub aber, Dirk Peters, der Staub, der wie seine Asche herunterfiel... der weiße Staub....
– Dessen erinnere ich mich nicht.
– War es denn nicht etwa Schnee?
– Schnee?... Ja... nein... vielleicht. Es war ziemlich warm. Was Pym davon gesagt hat, wird auch wahr sein!«
Ich sah ein, daß ich über diese an sich unwahrscheinlichen Vorkommnisse auch durch weiteres Ausfragen des Mestizen keine Aufklärung bekommen würde. Angenommen, er hätte alle die übernatürlichen Dinge beobachtet, wovon in den letzten Capiteln die Rede ist, so hatte er doch die Erinnerung daran verloren.
Jetzt sagte er mit gedämpfter Stimme:
»Pym wird Ihnen aber alles berichten, Herr Jeorling. Er weiß es... ich leider nicht. Er hat es gesehen... ihm werden Sie glauben.
– Gewiß, Dirk Peters, werd' ich ihm glauben, versicherte ich, um den Mestizen nicht zu betrüben.
– Wir werden doch nach ihm suchen, nicht wahr?
– Ich hoffe es!
– Nachdem wir William Guy und die Matrosen von der »Jane« gefunden haben?
– Ja... nachher.
– Und auch, wenn wir diese nicht auffinden sollten?...
– Selbst in diesem Falle, Dirk Peters. Ich denke, unsern Kapitän dazu bestimmen zu können....
– Der es doch gar nicht abschlagen kann, einem Menschen... einem Menschen, wie er selbst.. Hilfe zu bringen.
– Nein, das wird er nicht abschlagen!.. Und doch, fügte ich hinzu, kann man denn, wenn William Guy und die Seinigen noch lebten, wohl annehmen, daß auch Arthur Pym...
– Noch am Leben sei?... Ja... ganz gewiß! Bei dein großen Geiste unserer Väter... er ist es... er erwartet mich... mein armer Pym!... Und wie wird er aufjubeln, wenn er sich seinem alten Dirk in die Arme wirft! Und wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn ans Herz drücke!«[275]
Die breite Brust des Dirk Peters hob sich dabei wie die wogende See.
Darauf entfernte er sich und ließ mich in unaussprechlicher Erregung zurück, so sehr fühlte ich, wie viele Zärtlichkeit für seinen unglücklichen Gefährten in dem Herzen dieses Halbwilden wohnte... für den, den er sein Kind nannte!
Am 2., 3. und 4. Januar glitt die Goëlette unablässig weiter nach Süden, ohne daß wir ein Land zu Gesicht bekamen. Immer begrenzte den Horizont die kreisförmige Scheidelinie zwischen Himmel und Wasser. Der Mann im Elsterneste meldete in diesem Theile des Südpolarmeeres weder ein Festland noch eine Insel. Sollten wir nun der Versicherung des Dirk Peters bezüglich der gesehenen Landgebiete mißtrauen? In den tiefsüdlichen Meeren kommen Augentäuschungen gar so leicht vor.
»Freilich, sagte ich zum Kapitän Len Guy, besaß Arthur Pym nach seiner Abfahrt von der Insel Tsalal keine Instrumente zu Höhenmessungen mehr.
– Das weiß ich, Herr Jeorling, und es ist recht wohl möglich, daß die erwähnten Länder westlich oder östlich von unserem Curs liegen. Am bedauerlichsten bleibt es, daß Arthur Pym und Dirk Peters nie eines davon angelaufen haben; dann hätten wir keinen Zweifel mehr an ihrer – ich fürchte – problematischen Existenz und wir würden sie schon auffinden....
– Wir werden sie finden, Herr Kapitän, wenn wir noch um einige Grade nach Süden segeln...
– Ich frage mich nur, Herr Jeorling, ob es nicht rathsamer wäre, in der Gegend zwischen dem vierzigsten und fünfundvierzigsten Meridian Nachsuchungen anzustellen.
– Unsere Zeit ist gemessen, antwortete ich bestimmt; damit würden nur viele Tage verloren gehen, da wir noch nicht die Breite erreicht haben, wo sich die beiden Flüchtlinge von einander trennten....
– Können Sie denn diese Breite angeben, Herr Jeorling?... In dem Berichte finde ich davon nichts, jedenfalls weil es unmöglich war, eine Berechnung der Ortslage auszuführen.
– Das weiß ich wohl, Herr Kapitän, ich weiß aber auch, daß das Boot von Tsalal aus sehr weit getrieben worden sein muß, wie es sich aus einem Satze des letzten Capitels ergiebt.«
Dieser Satz lautete nämlich folgendermaßen:
»Unsere Fahrt ging ohne besonderen Zwischenfall etwa sieben bis acht Tage weiter fort. In dieser Zeit müssen wir eine sehr große Strecke zurückgelegt[276] haben, denn wir hatten fast stets Rückenwind und daneben trug uns eine starke Strömung in der gewünschten Richtung fort.«
Der Kapitän Len Guy kannte diesen Satz, den er ja viele Male gelesen hatte, ebenfalls, und so setzte ich denn hinzu:
»Es heißt ausdrücklich: »eine sehr große Strecke«, und das wird am 1. März gesagt, die Fahrt dauerte aber bis zum 22. desselben Monats und – wie Arthur Pym später mittheilt – »sein Boot trieb ununterbrochen nach Süden zu, unter dem Einflusse einer mächtigen und überaus schnellen Strömmung« – das sind seine eignen Worte. Kann man aus dem allen, Herr Kapitän, nicht den Schluß ziehen...
– Daß er bis zum Pole vorgedrungen wäre, Herr Jeorling?
– Ja, warum denn nicht, da es von der Insel Tsalal aus bis dorthin nur vierhundert Seemeilen weit ist?...
– Alles in allem kommt darauf ja nicht viel an! erwiderte der Kapitän Len Guy. Die »Halbrane« ist nicht zur Aufsuchung Arthur Pym's, sondern zu der meines Bruders und seiner Gefährten hier. Wir haben uns nur darüber Gewißheit zu verschaffen, ob sie auf irgend einem Lande hier hatten Unterkommen finden können.«
Natürlich hatte der Kapitän Len Guy hierin völlig recht. Ich fürchtete auch immer, daß er Befehl geben würde, nach Osten oder Westen hin zu steuern. Da der Mestize aber versicherte, daß sein Boot stets nach Süden getrieben sei, und daß die Länder, von denen er sprach, in dieser Richtung lägen, wurde der Curs der Goëlette nicht geändert. Mich hätte es wohl zur Verzweiflung gebracht, wenn sie von dem Wege Arthur Pym's abgewichen wäre.
Ich war und blieb überzeugt, daß die erwähnten Länder vorhanden waren und wir sie in noch höherer Breite auch finden würden.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß im Laufe unserer Fahrt vom 5. und 6. Januar keinerlei absonderliche Erscheinung zu beobachten war. Wir sahen nichts von einer hin- und herwogenden Dunstwand oder einer Veränderung der Wasserschichten. Was deren ungewöhnliche Wärme betraf, die man »an der Hand nicht aushalten konnte«, so mußte man davon recht viel abziehen. Die Temperatur der Meeresfläche überstieg nie fünfzig Grad Fahrenheit (+ 10° Celsius), was in diesem Theile des antarktischen Gebiets immerhin als auffallend bezeichnet werden kann. Obwohl mir Dirk Peters immer wiederholte: »Was Pym gesagt hat, wird auch wahr sein!« verhielt ich mich solch übernatürlichen[277] Dingen gegenüber doch ziemlich ungläubig – bemerkten wir doch nichts von einer Dunstwand, nichts vom Milchigwerden des Wassers oder vom Niederrieseln weißen Staubes.
In der Gegend hier wollten die beiden Flüchtlinge auch eines jener gewaltigen weißen Thiere beobachtet haben, die den Bewohnern von Tsalal so heillosen Schrecken einjagten. Der Bericht verschweigt freilich, unter welchen Verhältnissen die Ungeheuer in Sicht des Bootes vorübergekommen wären. Ueberdies begegneten wir mit der »Halbrane« jetzt weder einem Seesäugethiere, noch den riesigen Vögeln oder einem der furchtbaren Raubthiere der Polarwelt.
Ich bemerke hierzu weiter, daß niemand von uns den eigenartigen Einfluß empfand, wovon Arthur Pym spricht, jene Abstumpfung des Leibes wie des Geistes, die urplötzliche Erschlaffung, die auch die geringste physische Anstrengung unmöglich machte.
Vielleicht erklärt es sich auch nur aus seinem schon pathologischen Zustande, daß er jene seltsamen Erscheinungen, die von einer Störung seiner geistigen Fähigkeiten herrührten, wirklich wahrzunehmen glaubte.
Endlich, am 7. Januar – nach Dirk Peters' Annahme, die indeß auch nur auf einer Schätzung nach der verflossenen Zeit beruhte – waren wir etwa an der Stelle angelangt, wo der im Boote liegende Wilde Nu-Nu den letzten Seufzer ausgehaucht hatte. Zweiundeinhalb Monat später, mit dem 22. März, schließt das über die außergewöhnliche Reise geführte Tagebuch ab. Damals schwebten dichte, nur von dem klaren Wasser etwas gemäßigte Nebelmassen hier umher und am Horizonte ballte sich die weiße Dunstwand zusammen...
Von der »Halbrane« aus war freilich kein solches verblüffendes Wunder zu beobachten, und immer erleuchtete der in langer Spirale hinwandernde Sonnenball den fernen Horizont.
Es war ein Glück zu nennen, daß uns keine Dunkelheit umhüllte, da dann jede Höhenmessung unmöglich gewesen wäre.
Eine recht gute Beobachtung am 9. Januar ergab – die geographische Länge hielt sich immer zwischen dem zweiundvierzigsten und dreiundvierzigsten Meridian – ergab, sage ich, 86°33' der Breite.
Hier war es, soweit der Mestize sich dessen erinnerte, wo die beiden Flüchtlinge, nach dem Zusammenstoß des Bootes mit der Eisscholle, von einander getrennt wurden.[278]
Dabei drängt sich eine Frage auf. Hatte die Eisscholle, die Dirk Peters wieder nach Norden zu trug, unter der Wirkung einer Gegenströmung gestanden?
Das mußte wohl der Fall gewesen sein, denn schon seit zwei Tagen trieb auch unsere Goëlette nicht mehr mit der Meeresströmung, die sie von der Insel Tsalal her nach Süden getragen hatte. Das ist im Südpolarmeere, wo alles so veränderlich ist, gar nicht zu verwundern. Zum Glück hielt die frische Brise aus Norden an und unter vollen Segeln drang die »Halbrane« weiter nach den höchsten Breiten vor, wobei sie bereits jetzt den Schiffen Weddell's um dreizehn, und der »Jane« um zwei Grad voraus war. Die Landmassen – Inseln oder Festland – freilich, die der Kapitän in dem unbegrenzten Polarmeere sachte, ließen sich nicht erblicken. Ich empfand es, daß er nach und nach immer mehr das Vertrauen verlor, das schon durch so viele fruchtlose Nachforschungen erschüttert war.
Ich selbst blieb immer von dem Verlangen erfüllt, Arthur Pym ebenso wie die Ueberlebenden von der »Jane« gerettet zu sehen. Wer konnte aber glauben, daß auch er noch lebte?... Ja... ich weiß es... es war einmal die fixe Idee des Mestizen, daß er ihn noch lebend wiederfinden werde. Hätte unser Kapitän Befehl zum Umkehren gegeben, so weiß ich nicht, wessen man sich von Dirk Peters hätte zu versehen gehabt. Vielleicht wäre er eher ins Meer gesprungen, statt mit nach Norden zurückzufahren. Deshalb fürchtete ich auch, daß er, als er die Mehrzahl der Matrosen gegen diese sinnlose Fahrt protestieren und von sofortiger Umkehr reden hörte, sich zu irgend einer Gewaltthätigkeit hinreißen lassen werde – vor allem gegen Hearne, der seine Kameraden von den Falklands im Geheimen zum Ungehorsam zu verleiten sachte.
Jedenfalls galt es, keine Jusubordination und Entmuthigung an Bord aufkommen zu lassen. Um die Leute aufzurichten, ließ der Kapitän Len Guy auf mein Verlangen die ganze Mannschaft am Großmast zusammentreten und richtete an sie folgende Worte:
»Ihr Leute von der »Halbrane«! Seit unserer Abfahrt von der Insel Tsalal ist unsere Goëlette um zwei Grad weiter nach Süden vorgedrungen, und ich melde Euch hiermit – in Uebereinstimmung mit dem von Herrn Jeorling unterschriebenen Vertrage – daß Euch damit viertausend Dollars, zweitausend für jeden Grad, außer der Ablöhnung zufallen, eine Summe, die Euch mit Beendigung unserer Reise ausbezahlt werden wird.«[279]
Man hörte darauf wohl einiges Murmeln der Befriedigung, doch keine Hurrahs, außer vom Hochbootsmann Hurliguerly und vom Koch Endicott, die aber bei den Andern keinen Widerhall fanden.
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