Fünftes Capitel.
Der Unbekannte.

[84] Als Vincent Hodge, William Clerc und André Farran nach der Villa kamen, wurden sie daselbst von Herrn de Vaudreuil empfangen.

Clary hatte sich nach ihrem Zimmer zurückgezogen. Durch das nach dem Parke zu offene Fenster ließ sie die Blicke in die Ferne schweifen, welche die Wellenlinien der Laurentiden am fernen Horizonte abschlossen. Der Gedanke an das geheimnißvolle Wesen, an das sie so lebhaft erinnert worden war, beschäftigte sie ganz ausschließlich. Die Leute behaupteten, daß er sich im Lande befände, ja, man sachte ihn thatsächlich auf der Insel Montreal!... Um auf der Insel Jesus Zuflucht zu finden, brauchte er ja nur über einen Arm des Stromes zu setzen.[84]

Sollte er nicht in der Villa Montcalm Unterkunft suchen? Er konnte darüber nicht unklar sein, daß er dort Freunde besaß, die ihn mit offenen Armen aufnehmen würden. Und doch setzte er sich wohl zu großer Gefahr aus, wenn er sich gerade unter dem Dache des Herrn de Vaudreuil, des Vorsitzenden eines der Reformer-Comités, verbergen wollte, denn die Villa mochte besonders scharf überwacht sein. Trotzdem hatte Clary aber das Vorgefühl, daß Johann ohne Namen hierher kommen müsse, und wärs nur für einen Tag, nur für eine Stunde! Bei der Erregung ihrer Phantasie und mit dem Wunsche allein zu sein, hatte sie den Salon verlassen, ehe die Freunde des Herrn de Vaudreuil in diesen eingeführt wurden.

William Clerc und André Farran – etwa in gleichem Alter wie Herr de Vaudreuil stehend – waren zwei ehemalige Officiere der canadischen Miliz. Nach dem Urtheilsspruche vom 25. September, der ihre Brüder aufs Schaffot gebracht und sie selbst zu lebenslänglichem Gefängniß verdammt hatte, ihrer Grade für verlustig erklärt, hatten sie die Freiheit auch nicht eher wieder erlangt, als mit Erlaß jener Amnestie, welche auch Herrn de Vaudreuil zu Gute gekommen war. Die nationale Partei erblickte in ihnen zwei Männer der That, welche nichts sehnlicher wünschten, als ein zweites Mal ihr Leben durch eine neue Ergreifung der Waffen in die Schanze zu schlagen. Sie waren energisch und an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden in den Wäldern und Ebenen der Grafschaft Trois-Rivières, wo sie ausgedehnte Ländereien besaßen.

Sobald Vincent Hodge Herrn de Vaudreuil die Hand gedrückt hatte, stellte er ihm die Frage:

»Waret Ihr davon unterrichtet, daß Farran, Clerc und Ihr selbst durch speciellen Brief zusammen berufen worden waren?

– Ja, antwortete Herr de Vaudreuil, und gewiß war der Brief, den Du in dieser Angelegenheit erhalten hast, ebenso wie der, welcher mir die erste Meldung brachte, gleichmäßig unterzeichnet: »Ein Sohn der Freiheit.«

– Ganz recht, bestätigte Farran.

– Du fürchtest hierin keine Falle? fragte William Clerc, sich an Herrn de Vaudreuil wendend. Durch Veranlassung dieses Stelldicheins wird man doch nicht die ganze Gesellschaft auf frischer That überraschen wollen?

– Der gesetzgebende Körper, erklärte Herr de Vaudreuil, hat, so viel ich weiß, den Canadiern bisher noch nicht das Recht geraubt, einander bei dem Einen oder dem Andern zu treffen.[85]

– Nein, das nicht, meinte Farran; doch wer ist der Unterzeichner des Briefes, der doch mindestens ebenso verdächtig erscheint, wie ein ganz anonymes Schreiben; wer ist es und warum hat er nicht seinen wahren Namen darunter gesetzt?

– Das ist offenbar auffallend, stimmte Herr de Vaudreuil zu, und zwar desto mehr, weil dieser Mann, sei es wer da wolle, nicht einmal ausspricht, daß er selbst die Absicht habe, sich bei der Zusammenkunft einzustellen. Der mir zugegangene Brief unterrichtet mich nur einfach, daß Ihr alle Drei heute Abend nach der Villa Montcalm kommen würdet...

– Und der unsrige enthält ebenfalls keine weitere Aufklärung, setzte William Clerc hinzu.

– Doch wenn man's recht überlegt, ließ Vincent Hodge sich vernehmen, weshalb sollte uns der Unbekannte diese Aufforderung haben zugehen lassen, wenn er unserer Verhandlung nicht auch selbst beizuwohnen gedächte? Ich meine, er wird schon kommen.

– Nun gut, er möge kommen, fiel Farran ein. Wir werden ja sehen, was für ein Mann es ist, und hören, welche Mittheilungen er zu machen hat; paßt es uns nicht, mit ihm in Verbindung zu treten, so können wir ihn immer noch abweisen.

– Vaudreuil, fragte William Clerc, Deine Tochter hat ja Kenntniß von diesem Brief genommen? Was denkt sie darüber?

– Sie findet keine Ursache zu einem Verdacht, William.

– Warten wir die Entwickelung ab!« äußerte Vincent Hodge.

Wenn der Unterzeichner des Briefes zu der Zusammenkunft sich einstellte, so hatte er gewiß einige Vorsicht walten lassen wollen, denn es sollte Nacht werden, ehe er in der Villa Montcalm eintraf – unter den obwaltenden Verhältnissen gewiß ganz richtig gehandelt.

Das Gespräch des Herrn de Vaudreuil mit seinen Freunden kam bald auf die politische Lage, welche in Folge der Unterdrückungsmaßregeln seitens des englischen Parlaments ziemlich hochgespannt geworden war. Auch sie fühlten, daß dieser Zustand der Dinge nicht andauern konnte. Und hierzu theilte Herr de Vaudreuil den Anderen mit, daß er als Vorsitzender des Comités von Laval durch Vermittelung des Notars Nick eine beträchtliche Summe erhalten habe, welche gewiß bestimmt war, die Unkosten ihrer Sache zu decken.[86]

Während Alle im Parke spazieren gingen und die Essensstunde erwarteten, bestätigten Vincent Hodge, William Clerc und André Farran dem Herrn de Vaudreuil, was Meister Nick diesem gesagt hatte.

Die Beamten Gilbert Argall's waren auf dem Anstand. Nicht allein das Personal des Hauses Rip, sondern auch die Mannschaft der regulären Polizei durchstreifte das platte Land und die Kirchspiele der Grafschaft, Alles aufbietend, um die Spuren Johanns ohne Namen zu entdecken. Offenbar mußte ihrer Meinung nach das Erscheinen dieses Mannes hinreichen, eine Erhebung zum Ausbruch zu bringen. Es schien deshalb nicht unmöglich, daß der Unbekannte vielleicht die Absicht hegte, Herrn de Vaudreuil die nöthige Auskunft zu ertheilen.

Gegen sechs Uhr kamen Herr de Vaudreuil und seine Freunde nach dem Salon zurück, in dem sich auch Clary wieder eingefunden hatte. William Clerc und Farran entboten ihr einen väterlichen Gruß, wozu ihr Alter und ihre vertraute Bekanntschaft sie ermächtigte. Vincent Hodge, der etwas zurückhaltender war, ergriff achtungsvoll die Hand, welche das junge Mädchen ihm entgegenstreckte. Dann bot er ihr den Arm und Alle begaben sich nach dem Speisezimmer.

Hier stand eine sehr reichliche Mahlzeit aufgetragen, wie das jenerzeit in den bescheidensten und in den reichsten Wohnungen Canadas Sitte war. Sie setzte sich aus Flußfischen, Wild aus den benachbarten Wäldern und aus Gemüsen und Früchten, den Erzeugnissen des Küchengartens der Villa, zusammen.

Während der Tafel wurde von dem so ungeduldig erwarteten Eintreffen des Unbekannten nicht gesprochen. Es erschien ja rathsamer, davon nichts in Gegenwart der Dienerschaft des Hauses verlauten zu lassen, obwohl diese aus verläßlichen und schon lange im Dienste der Familie de Vaudreuil befindlichen Leuten bestand.

Nach der Tafel war der Abend so schön, die Temperatur so mild, daß Clary unter der Veranda Platz nahm. Der St. Lorenzo bespülte die untersten Stufen der Terrasse, indem er sie in seinen Wellen badete, welche die steigende Fluth in der Dunkelheit fast auf der Stelle hielt. Herr de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc und Farran standen rauchend längs der Balustrade; sie wechselten kaum ein Wort und höchstens nur mit ganz leiser Stimme.


Sie waren an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden. (S. 85.)
Sie waren an Strapazen gewöhnt durch die großen Jagden. (S. 85.)

Es war jetzt ein wenig über sieben Uhr. Die Nacht begann die tiefen Theile des Thales zu verhüllen, und während die lange Dämmerung sich nach den Ebenen des Westens zurückzog, begannen schon die Sterne an der entgegengesetzten Seite des Himmelsgewölbes aufzuflammen.[87]

Clary schaute den St. Lorenzo stromauf und stromab, da es ihr wahrscheinlich war, daß der Fremde, wenn er keine Spuren hinterlassen wollte, den Wasserweg benützen würde. Für ein leichtes Boot war es ja keine besondere Aufgabe, längs des Ufers hinzugleiten und durch das Gesträuch und das Schilf des Strandes zu schleichen. Erst an der Terrasse gelandet, konnte jene geheimnißvolle Person nach der Villa gelangen, ohne gesehen worden zu sein, und sie auch verlassen, ehe einer von den Leuten des Hauses nur den geringsten Verdacht schöpfen konnte.[88]

Da es aber doch möglich war, daß der Erwartete nicht auf dem St. Lorenzo kam, hatte Herr de Vaudreuil Befehl ertheilt, Jedermann, der sich in der Villa zeigen würde, ohne Zögern einzuführen. Eine im Salon brennende Lampe ließ durch die dichten Vorhänge der Fenster nur ein schwaches Licht dringen und jene selbst noch wurden durch die Veranda den Blicken ganz entzogen. Von außen konnte mithin Niemand sehen, was im Innern des Salons vorging.

Wenn auf der Seite des Parkes aber Alles ruhig war, so ließ sich das von der des Stromes nicht sagen. Von Zeit zu Zeit erschienen einige Boote, welche[89] bald an dem rechten, bald an dem linken Ufer hinglitten. Sie stießen manchmal sogar ganz an das Land, worauf zwischen deren Insassen einige Worte gewechselt wurden, und dann entfernten sie sich wieder in verschiedenen Richtungen.


 Der Sohn der Freiheit, der an Sie geschrieben hat, meine Herren! (S. 90.)
Der Sohn der Freiheit, der an Sie geschrieben hat, meine Herren! (S. 90.)

Herr de Vaudreuil und seine Freunde beobachteten aufmerksam diese Bewegungen, deren Veranlassung sie recht wohl durchschauten.

»Das sind Beamte der Polizei, sagte William Clerc.

– Jawohl, antwortete Vincent Hodge; sie überwachen den Strom jetzt schärfer, als es bisher geschehen...

– Und auch vielleicht die Villa Montcalm.«

Diese letzten Worte waren von einer leisen Stimme gemurmelt worden, doch nicht von der des Herrn de Vaudreuil oder seiner Tochter, auch nicht von einem der Gäste.

Gleichzeitig erhob sich aus dem ihn bisher verbergenden Gebüsche vor der Balustrade auf der rechten Seite der Treppe ein Mann, der die Stufen emporstieg, schnellen Schrittes über die Terrasse ging, seine Tuque lüftete und mit einer leichten Verbeugung sagte:

»Der Sohn der Freiheit, der an Sie geschrieben hatte, meine Herren.«

Herr de Vaudreuil, Clary, Clerc und Farran suchten, erstaunt über das plötzliche Erscheinen, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der sich auf so eigenartige Weise in der Villa eingeführt hatte. Seine Stimme erschien ihnen übrigens ebenso unbekannt, wie seine Person.

»Sie werden mir verzeihen, Herr de Vaudreuil, mich unter diesen Verhältnissen Ihnen vorzustellen. Es lag mir aber viel daran, mich beim Eintreten in die Villa Montcalm nicht sehen zu lassen, wie es auch von Wichtigkeit sein wird, dieselbe wieder ungesehen zu verlassen.

– Bitte, treten Sie ein, mein Herr«, antwortete Herr de Vaudreuil.

Damit begaben sich Alle in den Salon, dessen Thür hinter ihnen geschlossen wurde.

Der eben in der Villa Montcalm eingetroffene Mann war der junge Reisende, in dessen Gesellschaft Meister Nick die Fahrt von Montreal bis zur Insel Jesus zurückgelegt hatte. Herr de Vaudreuil und seine Freunde bemerkten ebenso, wie es auch der Notar schon bemerkte, daß er der französisch-canadischen Race angehörte.

Nach seinem Abschiede von Meister Nick und nach dem Betreten der Straßen von Laval hatte er Folgendes gethan:[90]

Ganz zuerst begab er sich nach einem bescheidenen Gasthaus in den unteren Quartieren der Stadt. Daselbst hatte er, in eine Ecke des Gastzimmers zurückgezogen, die Essensstunde abgewartet und die ihm zugänglichen Zeitungen durchflogen. Sein jetzt gleichgiltig erscheinendes Gesicht ließ nichts von den ihn bei der Lectüre bestürmenden Empfindungen ahnen, obwohl die damaligen Blätter alle in schärfster Weise für oder gegen die Krone Partei nahmen. Die Königin Victoria war ihrem Oheim Wilhelm IV. auf dem Throne gefolgt, und von beiden Seiten wurden eben lebhaft die Veränderungen besprochen, welche die neue Staatsregierung der Verwaltung der canadischen Provinzen aufnöthigen würde. Doch obwohl es nur die Hand einer Frau war, welche das Scepter des Vereinigten Königreichs führte, mußte man doch fürchten, daß dieselbe gleichschwer wie die früheren auf der überseeischen Colonie lasten würde.

Bis sechs Uhr Abends hatte der junge Mann in der Gaststube verweilt; dann wurde das Essen aufgetragen. Um acht Uhr hatte er sich wieder auf den Weg gemacht.

Wäre ihm da ein Spion gefolgt, so hätte er gesehen, wie jener sich nach dem steilen Flußufer wandte und unter demselben hinschlich, bis er dreiviertel Stunden später die Villa Montcalm erreichte. Dort hatte der Unbekannte einen geeigneten Augenblick abgewartet, um die Terrasse hinanzugehen, und der Leser weiß ja, wie er mitten in der Unterhaltung des Herrn de Vaudreuil und seiner Freunde eingetreten war.

Jetzt konnten Alle in dem Salon, dessen Fenster und Thüren verwahrt worden waren, sich ohne Scheu aussprechen.

»Mein Herr, begann da Herr de Vaudreuil, sich an den neuen Gast wendend, Sie werden es entschuldbar finden, wenn ich vor Allem frage, wer Sie sind...

– Das hab' ich bei der Ankunft gesagt, Herr de Vaudreuil. Ich bin – wie Sie Alle das sind – ein Sohn der Freiheit!«

Clary machte unwillkürlich ein Zeichen der Enttäuschung. Vielleicht erwartete sie einen anderen Namen, als diese unbestimmte Bezeichnung, welche jenerzeit übrigens unter den Anhängern der franco-canadischen Sache sehr verbreitet war. Sie begriff nicht, warum der junge Mann auch in der Villa Montcalm sein Incognito noch länger aufrecht erhalten wollte.

»Wenn Sie uns, mein Herr, sagte jetzt André Farran, zu einer Zusammenkunft bei Herrn de Vaudreuil veranlaßt haben, so geschah das doch gewiß,[91] um hier über eine wichtige Angelegenheit zu verhandeln. Ehe wir uns aber offen erklären, werden Sie es ganz natürlich finden, daß wir zu wissen wünschen, mit wem wir es zu thun haben.

– Sie würden unklug gewesen sein, meine Herren, wenn Sie diese Frage an mich unterlassen hätten, erwiderte der junge Mann, und von mir wäre es unverzeihlich, dieselbe nicht zu beantworten.«

Bei diesen Worten legte er ihnen einen Brief vor.

Dieser Brief unterrichtete Herrn de Vaudreuil von dem Besuche des Unbekannten, dem er und seine Gesinnungsgenossen unbedingtes Vertrauen schenken könnten, »auch wenn er seinen Namen nicht nannte«.

Unterzeichnet war das Schreiben von einem der Hauptopponenten im Parlamente, von dem Advocaten Grammont, dem Abgeordneten für Quebec, einem Manne, der mit Herrn de Vaudreuil in politischen Dingen ganz eines Sinnes war. Der Advocat Grammont fügte noch hinzu, daß Herr de Vaudreuil, im Falle jener Gast ihn um Unterkommen während einiger Tage ersuchen sollte, das im vollen Vertrauen und im Interesse ihrer Sache gewähren möge.

Herr de Vaudreuil übergab diesen Brief seiner Tochter, Clerc und Farran, dann sagte er:

»Mein Herr, Sie sind hier ganz zu Hause und können in der Villa Montcalm so lange bleiben, wie es Ihnen beliebt.

– Höchstens zwei Tage, Herr de Vaudreuil, erwiderte der junge Mann. In vier Tagen muß ich wieder mit meinen Genossen an der Mündung des St. Lorenzo zusammengetroffen sein; ich danke Ihnen jedoch für den wohlwollenden Empfang, und nun, meine Herren, bitte ich Sie, mich gefälligst anzuhören.«

Der Unbekannte nahm das Wort. Er sprach mit Sicherheit über den damaligen Zustand der Gemüther in den canadischen Provinzen, er zeigte, daß das Land bereit sei, sich gegen die Bedrückung seitens der Loyalisten und der Kronbeamten zu erheben. Diese Ueberzeugung schöpfte er aus eigener Erfahrung, als er zur Verbreitung reformatorischer Ideen während mehrerer Wochen die Grafschaften des oberen St. Lorenzo und des Ottawa durchzogen hatte. Nach wenigen Tagen beabsichtigte er zum letzten Male durch die Grafschaften des Ostens zu reisen, um die Elemente zur demnächstigen Empörung zu sammeln, einer Empörung, welche gleichzeitig von der Mündung des Stromes bis zum Gebiete von Ontario hin auflodern sollte. Einem solchen Massenaufstande würden weder[92] Lord Gosford mit den Vertretern der Staatsgewalt, noch der General Colborne mit wenigen tausend Rothröcken – dem ganzen Truppenbestand in Canada – hinreichende Kräfte entgegensetzen können, und Canada – daran zweifelte er nicht – mußte sich endlich vom Joche seiner Unterdrücker befreien.

»Eine ihrer Heimat entrissene Provinz, setzte er hinzu, gleicht dem Kinde, das seiner Mutter geraubt ist. Das muß der Gegenstand der Zurückforderung ohne Waffenstillstand, des Kampfes ohne Gnade sein! So etwas läßt sich niemals vergessen!« Als er diese Verhältnisse erwähnte, sprach der Unbekannte mit einer Kaltblütigkeit, welche bewies, daß er stets und überall die Herrschaft über sich behielt. Dennoch fühlte man es, daß ein Feuer in seiner Seele lohte, daß seine Gedanken vom brennendsten Patriotismus erfüllt waren. Während er noch mehrere Einzelheiten über das, was er noch thun wollte, mittheilte, wandte Clary kein Auge von dem jungen Manne. Alles sagte ihr, daß hier ein Held vor ihr stehe, der in seinem Gedankenfluge die canadische Revolution verkörperte. Als die Herren de Vaudreuil, Vincent Hodge, Clerc und Farran so über seine Schritte unterrichtet waren, setzte er hinzu:

»Alle jene Parteigänger unserer Unabhängigkeit, meine Herren, brauchen aber einen Führer, und dieser Führer wird auferstehen, wenn die Stunde gekommen, an deren Spitze zu treten. Bis dahin erscheint es nothwendig, daß sich ein Actionscomité bildet, um die Einzelkräfte zusammenzufassen. Nehmen Sie, Herr de Vaudreuil, und Ihre Freunde es an, sich an diesem Comité zu betheiligen? Sie Alle haben ja schon in Ihren Familien oder persönlich für die nationale Sache gelitten. Diese Sache hat unseren besten Patrioten, Ihrem Vater, Vincent Hodge, wie Ihren Brüdern, William Clerc und André Farran, das Leben gekostet...

– In Folge des Verrathes eines Schurken, mein Herr! antwortete Vincent Hodge.

– Ja... eines Schurken«... wiederholte der junge Mann langsam.

Clary glaubte dabei eine eigenthümliche Wandlung seiner bis dahin so klaren Stimme zu bemerken.

»Indeß, fügte er hinzu, dieser Mann ist todt.

– Wissen Sie das bestimmt? fragte William Clerc.

– Er ist todt, erwiderte der Unbekannte, der nicht zögerte, bestätigend bezüglich einer Thatsache zu antworten, welche bisher noch Keiner zu beweisen vermocht hatte.[93]

– Todt!... Jener Simon Morgaz!... Und ich... ich habe an ihm nicht Vergeltung üben können! rief Vincent Hodge.

– Sprechen wir nicht mehr von jenem Verräther, liebe Freunde, mischte sich Herr de Vaudreuil wieder ein, und überlaßt es mir, auf den eben gehörten Vorschlag zu antworten. Mein Herr, fuhr er fort, sich an seinen Gast wendend, was die Unsrigen einst gethan, das sind wir bereit auch noch einmal zu thun. Wir werden unser Leben wagen, wie sie das ihrige gewagt haben. Sie können also über uns verfügen, und wir übernehmen die Aufgabe, den Anstrengungen, welche Sie bereits gemacht haben, in der Villa Montcalm ein Ziel, einen Mittelpunkt zu geben. Wir stehen in täglicher Verbindung mit den verschiedensten Comités des Bezirks, und auf das erste Signal hin werden wir mit unserer Person eintreten. Ihre Absicht, wie Sie sagten, ist es, nach zwei Tagen weiter zu reisen, um die Kirchspiele des Ostens zu besuchen? Nun gut! Bei Ihrer Rückkehr werden Sie uns bereit finden, dem Führer – sei er wer es will – zu folgen, der die Fahne der Unabhängigkeit entfalten wird.

– Vaudreuil hat für uns gesprochen, fügte Vincent Hodge hinzu. Wir haben nur den einen Gedanken, unser Land von der Unterdrückung zu befreien und ihm das Recht, frei zu sein, wieder zu geben!

– Ein Recht, welches es diesmal zu erlangen wissen wird,« sagte Clary de Vaudreuil, während sie auf den jungen Mann zuging.

Dieser wandte sich aber schon nach der Thür des Salons, die zur Terrasse führte.

»Horchen Sie, meine Herren,« flüsterte er.

Ein unbestimmtes Geräusch ließ sich in der Richtung von Laval her vernehmen, ein entferntes Getöse, dessen Art und Ursache kaum zu erkennen war.

»Was bedeutet das? fragte William Clerc.

– Sollte es schon zu einem vereinzelten Aufstand gekommen sein?... bemerkte André Farran.

– Gott gebe, daß das nicht der Fall ist, murmelte Clary. Das wäre vorzeitig gehandelt!

– Ja... zu zeitig! erklärte auch der junge Mann.

– Was kann das aber zu bedeuten haben? fragte Herr de Vaudreuil. Hören Sie nur, das Geräusch kommt näher...

– Es klingt wie der Ton von Signalhörnern,« meinte André Farran.[94]

Wirklich drangen jetzt deutlich metallische Töne in die Luft, welche in regelmäßigen Zwischenräumen bis zur Villa Montcalm hin hörbar wurden. Handelte es sich etwa um eine Abtheilung Bewaffneter, welche nach der Villa des Herrn de Vaudreuil vordrang?

Dieser hatte die Thür des Salons geöffnet, und seine Freunde folgten ihm auf die Terrasse.

Alle sahen scharf nach Westen hinaus, doch ließ sich nach dieser Richtung hin kein verdächtiges Licht wahrnehmen. Offenbar rührte dieses Geräusch nicht von den Ebenen der Insel Jesus her, und doch drang ein jetzt näher erscheinendes Getöse bis zur Villa, und gleichzeitig hörte man die Töne von Trompeten.

»Da... da ist es...« sagte Vincent Hodge.

Er wies mit dem Finger nach dem Laufe des St. Lorenzo gegen Laval hin. In dieser Richtung bemerkte man jetzt wirklich das Flackern einzelner Flammen, welche sich in dem von seinem Nebel bedeckten Wasser des Stromes schwach widerspiegelten.

Zwei oder drei Minuten verstrichen.

Ein Boot, welches mit der Ebbe herabfloß, schnitt eben in die Wirbel des Stromes nahe dem Ufer und etwa eine Viertelmeile aufwärts ein. Dieses Boot trug gegen zehn Personen, deren Uniform man beim Scheine der Fackeln leicht erkennen konnte. Es waren das ein Constabler und eine Abtheilung der Polizei.

Von Zeit zu Zeit hielt die Barke an. Sofort erhob sich gleich nach einem Hornsignal eine laute Stimme, doch war es in der Villa Montcalm noch unmöglich, die Worte zu verstehen.

»Das muß sich um eine Proclamation handeln, sagte William Clerc.

– Und zwar um eine von hervorragender Wichtigkeit, setzte André Farran hinzu, da sie seitens der Behörde zu so ungewöhnlicher Stunde bekannt gegeben wird.

– Warten wir es ab, meinte Herr de Vaudreuil, das wird sich ja bald zeigen... Wäre es nicht rathsam, in den Salon zurückzukehren? ließ sich da Clary an den jungen Mann gewendet, vernehmen.


Es erscholl ein Trompetenstoß. (S. 96.)
Es erscholl ein Trompetenstoß. (S. 96.)

– Warum sollten wir uns verstecken, Fräulein de Vaudreuil? antwortete dieser Was die Behörde bekannt zu machen für angezeigt hält, das müssen wir doch auch hören.«[95]

Inzwischen war die Barke, welcher einige kleinere Kähne folgten, gegenüber der Terrasse angelangt.

Wieder erscholl ein Trompetenstoß, und jetzt konnten Herr de Vaudreuil und seine Freunde deutlich die Stimme vernehmen.


Johann betrieb auffällig das Gewerbe eines Fischers. (S. 103.)
Johann betrieb auffällig das Gewerbe eines Fischers. (S. 103.)

Bekanntmachung des Lord-General-Gouverneurs der canadischen Provinzen

Am 3. September 1837.


»Es wird hiermit ein Preis ausgesetzt auf den Kopf des Johann ohne Namen, der in den Grafschaften des oberen St. Lorenzo sichtbar gewesen ist.Sechstausend Piaster werden Demjenigen zugesichert, der ihn verhaftet oder seine Verhaftung herbeiführt.

Im Namen des Lord Gosford

der Polizeiminister

Gilbert Argall.«


Hierauf setzte das Boot seine Fahrt fort und ließ sich von der Strömung des Flusses hinabtreiben.

Die Herren de Vaudreuil, Farran, Clerc, Vincent Hodge waren unbeweglich auf der Terrasse stehen geblieben, welche schon die tiefe Nacht umhüllte. Keine Bewegung entschlüpfte auch dem jungen Unbekannten, während die Stimme des Constablers jenen Inhalt der Bekanntmachung wiedergab. Nur das junge Mädchen hatte fast unbewußt sich ihm mit einigen Schritten genähert.

Herr de Vaudreuil war es, der zuerst wieder das Wort nahm.

»Wiederum ein Preis, der feilen Verräthern geboten wird! sagte er. Dieses Mal hoff' ich, wird es nutzlos sein, dieses Mal wird sich der gute Ruf der canadischen Franzosen nicht wieder einen Schandfleck holen!

– Ja, es ist genug, es ist zuviel, daß man schon einmal einen Simon Morgaz gefunden hat! rief Vincent Hodge.

– Gott beschütze Johann ohne Namen!« flehte Clary mit tieferregter Stimme.

Jetzt trat einige Augenblicke Stillschweigen ein.

»Treten wir ein und begeben wir uns nach unseren Zimmern, sagte Herr de Vaudreuil. – Ich werde Ihnen ein solches zur Verfügung stellen, setzte er an den jungen Mann gewendet hinzu.

– Ich danke Ihnen, Herr de Baudreuil, antwortete der Unbekannte, doch es ist mir unmöglich, noch länger in diesem Hause zu bleiben...

– Und warum?...

– Als ich vor einer Stunde die mir von Ihnen gebotene Gastfreundschaft der Villa Montcalm annahm, befand ich mich nicht in der Lage, in welche mich jene öffentliche Bekanntmachung versetzt hat.

– Was wollen Sie damit sagen, mein Herr?

– Daß meine Anwesenheit Ihnen jetzt nur große Verlegenheiten bereiten könne, weil der General-Gouverneur einen Preis auf meinen Kopf gesetzt hat. Ich bin Johann ohne Namen!«[99]

Nachdem der junge Mann sich verneigt, wendete er sich schon nach dem Steilufer zu, als Clary ihn noch an der Hand faßte.

»Bleiben Sie hier!« bat sie.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 84-97,99-100.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Als einen humoristischen Autoren beschreibt sich E.T.A. Hoffmann in Verteidigung seines von den Zensurbehörden beschlagnahmten Manuskriptes, der »die Gebilde des wirklichen Lebens nur in der Abstraction des Humors wie in einem Spiegel auffassend reflectirt«. Es nützt nichts, die Episode um den Geheimen Hofrat Knarrpanti, in dem sich der preußische Polizeidirektor von Kamptz erkannt haben will, fällt der Zensur zum Opfer und erscheint erst 90 Jahre später. Das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren, der Jurist Hoffmann ist zu dieser Zeit Mitglied des Oberappellationssenates am Berliner Kammergericht, erlebt er nicht mehr. Er stirbt kurz nach Erscheinen der zensierten Fassung seines »Märchens in sieben Abenteuern«.

128 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon