Elftes Kapitel.
Der Zettel.

[356] Dieser Zettel hatte folgenden Inhalt:

»Übermorgen, am 5. Mai, sobald sich bei den Arbeiten unter freiem Himmel eine Gelegenheit bietet, sollen alle drei die Saint-Jamesspitze an der Westküste der Storm-Bai zu erreichen suchen, wohin das Schiff ein Boot entsenden wird. Hätte das Wetter ihm nicht gestattet, die Reede von Hobart-Town[356] zu verlassen und in die Bai einzulaufen, dann warten, bis es vor jener Spitze sichtbar wird, und vom Abend bis zum Morgen scharf darauf Acht haben...

»Gott beschütze Irland und komme eueren amerikanischen Freunden zu Hilfe!«

Der Zettel zeigte keinen Namen, weder den der Personen, für die er bestimmt war, noch den der Absender, die ihn in ebenso kurzen wie klarverständlichen Ausdrücken abgefaßt hatten. Er verriet nicht einmal den Namen des von Amerika nach Hobart-Town geschickten Dampfers, dessen Bestimmungsort unbekannt blieb.

Jedenfalls war aber der Name Irland darauf vollständig ausgeschrieben, es unterlag also keinem Zweifel, daß er an die Feniers in Port-Arthur gerichtet war. Kam er dem Kapitän-Kommandanten vor die Augen, so täuschte dieser sich gewiß nicht: die Sache betraf eine verabredete Flucht O'Briens und Macarthys, die damit unausführbar wurde.

Wer hatte denn nun den von Walter niedergelegten Zettel gefunden, der so bestimmte Anordnungen enthielt und die Flüchtlinge nach achtundvierzig Stunden nach der Saint-Jamesspitze rief?...

Das waren die Gebrüder Kip.

Wie schon erwähnt war ihnen das Hin- und Hergehen Walters auf der Straße aufgefallen; das erweckte in ihnen den Gedanken, dieser Mann suche sich vielleicht mit einem der Sträflinge in Verbindung zu setzen. Immerhin hatte es ihre Aufmerksamkeit nicht in dem Maße erregt, wie die Farnhams und seiner Landsleute. Sie hatten nicht, wie diese, bemerkt, daß Walter ein Blatt von einem Baume pflückte, ein Stückchen Papier hineinwickelte und es dann zu Boden fallen ließ. Daß der Zettel dennoch in ihren Besitz kam, beruhte auf einem Zufalle.

Während die Arbeiterrotten mit dem Fällen von Bäumen beschäftigt waren, gingen auch Pieter und Karl Kip auf der Landstraße hin und her, um die Grenzbäume anzuzeichnen.

Als Pieter Kip, der seinem Bruder vorausging, sich an dem betreffenden Baume befand, ging er erst einmal darum herum, ehe er seine Hippe erhob, um einen Schnitt in den Stamm zu machen.

Da erblickte er zwischen zwei Wurzeln ein halbzusammengerolltes grünes Blatt, aus dem ein Stückchen Papier hervorguckte. Als er es aufgehoben hatte, sah er, daß es einen Zettel mit einigen geschriebenen Zeilen enthielt.[357]

Mit Blitzesschnelle durchflog Pieter Kip die wenigen Worte, und nachdem er sich überzeugt hatte, von niemand beobachtet worden zu sein, steckte er den Zettel in die Tasche.

Sein Bruder kam ihm bald nach, und während beide ihre Arbeit fortsetzten, machte er ihm Mitteilung von seinem Funde.

»Es handelt sich um eine vorbereitete Flucht... ja ja... um eine Flucht, murmelte Karl Kip, um Verurteilte, die ihre Freiheit wieder gewinnen wollen... um Verbrecher... während wir...

– O, Karl, es sind keine Mörder oder Räuber, antwortete Pieter Kip. Die Sache betrifft die beiden Irländer O'Brien und Macarthy. Es sind Freunde von ihnen, die ihr Entweichen ermöglichen wollen!«

Der Zettel konnte ja tatsächlich nur für die nach Port-Arthur deportierten Irländer bestimmt sein.

»In der Anstalt befinden sich aber nur zwei Feniers, meinte Karl Kip, und wenn du richtig gelesen hast und ich dich richtig verstanden habe, so ist hier von drei Flüchtlingen die Rede.«

Natürlich ein unerklärbarer Umstand für die beiden Brüder, die von der Interessengemeinschaft und der Verständigung zwischen Farnham und dessen Landsleuten keine Ahnung hatten.

»Drei? wiederholte Karl Kip. Wer mag es denn sein, der mit ihnen fliehen soll?

– Der dritte, erwiderte Pieter Kip, der dritte ist vielleicht der Überbringer des Zettels. Da fällt mir ein: sollte das nicht der Mann sein, den wir die Straße auf und ab wandeln sahen? Er suchte sich wahrscheinlich O'Brien und Macarthy zu nähern.«

Eben jetzt bemerkte Pieter Kip die beiden Irländer, die einige Worte mit einem der Aufseher, mit dem wechselten, der ihre Rotte führte. Da ging ihm plötzlich ein Licht auf.

Dieser Aufseher, Farnham, war ja ein Irländer wie jene... Sollte er der dritte sein?...

Inzwischen war es sechs Uhr geworden. Der Oberaufseher hatte das Zeichen zum Rückmarsch gegeben, und zu zwei und zwei von ihren Aufsehern geordnet, setzten sich die einzelnen Rotten auf Port-Arthur zu in Bewegung.

Die Gebrüder Kip befanden sich am Ende des Zuges, die Irländer gingen an seiner Spitze... in tödlichster Unruhe, die Farnham natürlich teilte.[358]

Ohne allen Zweifel hatte Walter den Zettel niedergelegt gehabt, ohne allen Zweifel aber war er verloren gegangen oder gar gefunden worden!

Es schlug gerade sieben, als die Sträflinge in die Anstalt zurückkehrten, und nach Einnahme der letzten Mahlzeit begaben sich Karl und Pieter Kip wie gewöhnlich nach ihrer Zelle.

Da sie hier keine Beleuchtung hatten, hätten sie den Zettel nicht noch einmal lesen können, doch das war auch nicht nötig, da sich Pieter Kip seines Inhalts Wort für Wort erinnerte.

Ja, hier war eine Entweichung geplant, bei der es sich um O'Brien und Macarthy, sowie um den Aufseher Farnham handelte Dieser mußte die Flucht der anderen erleichtern, ihnen am Abend des 5. Mai, also nach sechsunddreißig Stunden, Gelegenheit vermitteln, nach der Saint-Jamesspitze zu gelangen. Hier sollte, wenn die Dunkelheit es gestattete, ein Boot ans Land kommen, das Boot des Schiffes, das von Hobart-Town kam. Hatte der Zustand des Meeres ein Verlassen der Reede vereitelt, so sollte bis zum nächsten, wenn nötig, bis zum übernächsten Tage gewartet werden, doch wer konnte im voraus wissen, ob die Flüchtlinge bis dahin nicht entdeckt, wieder eingefangen und in die Strafanstalt gebracht würden.

»Mag sein, erklärte Karl Kip, jedenfalls haben sie Aussicht, daß ihr Plan gelingt. Sie brauchen sich nicht in den Wäldern zu verstecken, wo sie Gefahr laufen, von Soldaten und Wächtern verfolgt zu werden. Sie brauchen auch nicht durch die Palissaden der Landenge zu dringen, auf die Gefahr hin, von den Wachthunden zerrissen zu werden. Nein, die Küste ist ja nur fünf Seemeilen entfernt, und ihr Arbeitsplatz ist jetzt in deren Nähe. Dann erscheint ein Schiff... ein Boot davon nimmt sie auf, binnen wenigen Stunden wird es das Kap Pillar umfahren haben, während wir... wir...

– Lieber Bruder, bemerkte Pieter Kip, du vergißt ganz, daß weder O'Brien oder Macarthy, noch Farnham selbst etwas von dem weiß, was du hier aussprachst.

– Das ist freilich wahr. Die armen Leute!

– Ich glaube, es wird ihnen bekannt sein, daß eine schriftliche Nachricht am Fuße eines Baumes niedergelegt worden ist, und ich erinnere mich auch, gesehen zu haben, daß Farnham auf jene Stelle zuging. Da hat er natürlich den Zettel nicht mehr gefunden und wird gefürchtet haben, daß dieser von einem anderen Aufseher aufgehoben und dem Gouverneur eingehändigt worden[359] sei. Dann mußte er annehmen, daß Maßnahmen getroffen würden, die jede Flucht unmöglich machten.

– Der Zettel, rief Karl Kip, ist aber von niemand gefunden worden, als von dir, was er enthielt, das wissen nur wir zwei, und da liegt doch noch kein Hindernis vor, das die Flucht vereiteln müßte.

– Gewiß nicht, Karl, wenigstens wenn O'Brien und Macarthy von der Sachlage unterrichtet wären, das ist aber nicht der Fall.

– Sie werden jedoch Mitteilung erhalten, Pieter, es muß sein! Vergessen wir nicht, daß sie uns wiederholt verteidigt haben... denken wir daran, daß es sich darum handelt, glühende Patrioten diesem Bagno zu entreißen, zwei Männer, die weiter keine Schuld belastet als die, von der Unabhängigkeit ihres Heimatlandes geträumt zu haben!

– Morgen, Karl, morgen werden wir schon Mittel und Wege finden, ihnen den Zettel zu übergeben.

– Und warum, sagte Karl Kip, die Hände seines Bruders ergreifend, warum sollten wir nicht mit ihnen fliehen?«

Diese Frage hatte Pieter Kip schon erwartet. Ihm selbst war dieser Gedanke ja auch gekommen, er hatte darüber nachgedacht und das Für und Wider erwogen.

Ja ja, wenn sich die ersehnte Gelegenheit darbot, wenn er den beiden Irländern den Zettel zugesteckt hätte und diese dessen Inhalt kannten, wenn sie erfahren hatten, daß alles für ihr Entfliehen vorbereitet war, daß das Schiff sich der Saint-Jamesspitze nähern und ein Boot absenden sollte, das sie am Abend des 5. da erwartete... wenn nun dann Pieter Kip zu ihnen sagte: »Wir erwarten von euch, nur mit uns zu fliehen!«, hätten sie das wohl abschlagen können? Würden sie die beiden Holländer als unwürdig, ihnen zu folgen, zurückweisen?

In den Augen dieser Feniers waren die Gebrüder Kip freilich schwere Verbrecher, die kein Mitleid verdienten, und wenn sie diesen gestatteten, mit ihnen zu entfliehen, gaben sie damit nicht Mördern, den Mördern des Kapitäns Gibson, die verwirkte Freiheit wieder?

Pieter Kip hatte an alles das gedacht, gleichzeitig aber auch an die unablässigen Bemühungen des Herrn Hawkins, eine Wiederaufnahme ihres Prozesses herbeizuführen... nein, selbst wenn es ihm angeboten würde, zu entfliehen, er hätte das abweisen müssen![360]

Wenn er jedoch auch unerschüttertes Vertrauen auf die Zukunft hatte, so teilte Karl das doch keineswegs. Auf eine ungewisse und fernliegende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ruhig zu warten, dazu konnte sich dieser nun einmal nicht entschließen. Dennoch machte was Pieter gegen ihn äußerte, auf ihn doch einen sehr tiefen Eindruck. Bebenden Herzens und in der Seele erregt, lauschte er den Worten des Bruders und empfand, daß sein Widerstand erlahmte.

»Höre mich an, liebster Bruder!... Ich habe mir alles wohl überlegt. Ich gebe zu... ja, nach dem Dienste, den wir ihnen leisten werden, maß ich zugeben, daß O'Brien und Macarthy es gar nicht abschlagen könnten, uns gleichzeitig mit ihnen entfliehen zu lassen, selbst wenn sie uns als Mörder ansehen...

– Die wir nicht sind! warf Karl Kip dazwischen ein.

– Die wir aber in ihren Augen, wie in denen so vieler, wenn nicht aller anderen sind... vielleicht mit Ausnahme des Herrn Hawkins. Nun sage mir, wenn es uns gelänge, aus der Strafanstalt zu entfliehen, das bewußte Schiff zu erreichen und nach Amerika zu entkommen... sage mir: was würden wir damit gewonnen haben?

– Die Freiheit, Pieter, die Freiheit, die über alles geht!

– Nennst Du denn das schon Freiheit, Bruder, wenn wir genötigt sind, uns unter falschem Namen zu verbergen, sobald die Polizei aller Länder von unserer Flucht unterrichtet ist und wir überall von einer Auslieferung bedroht sind?... Nein, mein armer Karl, wenn ich mir vorstelle, welches Leben wir unter solchen Verhältnissen zu führen hätten, da frag' ich mich, ob es denn doch nicht besser wäre, im Bagno auszuharren, nicht ratsamer, hier zu warten, bis unsere Unschuld an den Tag kommt.«

Karl Kip erwiderte kein Wort. In seinem Innern tobte ein furchtbarer Kampf. Er erkannte gut genug das Gewicht und die Berechtigung der Gründe, die sein Bruder gegen einen Fluchtversuch ins Feld führte. Im Fall des Gelingens stand ihnen mit dem Kainszeichen des Verbrechens an der Stirne da draußen nur ein elendes Leben bevor. In den Augen der beiden Feniers und ihrer Genossen blieben die Gebrüder Kip doch wie bisher nur die Mörder des Kapitäns Gibson.

Die ganze Nacht sprachen sie in ähnlicher Weise über diese Angelegenheit weiter und Karl Kip mußte sich schließlich fügen. Für all und jeden,[361] selbst für Hawkins, wäre eine Flucht gleich dem Eingeständnisse der Schuld gewesen.

Inzwischen wurden O'Brien, Macarthy und Farnham von einer leicht erklärlichen Unruhe verzehrt. Kein Zweifel... Farnham konnte sich nicht getäuscht haben: der Mann, der die Straße auf und ab ging, war jener Walter gewesen, durch den er die erste Mitteilung erhalten hatte. Ein in ein grünes Blatt gewickelter Zettel war am Fuße des betreffenden Baumes niedergelegt worden, doch wenn sich dieser nicht mehr vorfand, war er da etwa dem Kapitän-Kommandanten schon ausgehändigt worden? Dann wußte also Skirtle, daß unter den auf den Zettel angegebenen Umständen eine Flucht vorbereitet war, und daß es sich dabei um die beiden Irländer O'Brien und Macarthy, sowie um deren Landsmann Farnham handelte. Das hatte bestimmt die allerstrengsten Maßregeln gegen diese drei zur Folge, und sie konnten damit auf die Hoffnung verzichten, ihre Freiheit jemals wieder zu erlangen.

Bis zum Tagesanbruch warteten deshalb die Unglücklichen, daß bei ihnen Polizeisoldaten erscheinen würden, sie in die Kerkerzellen der Anstalt abzuführen.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und an einem solchen wurden die Sträflinge nicht mit Arbeiten außerhalb der Anstaltsmauern beschäftigt. Die Hausordnung verpflichtete sie vielmehr, in der Kapelle dem Gottesdienste beizuwohnen, nach dessen Schlusse sie sich in den Anstaltshöfen aufhalten durften.

Als die Stunde zum Betreten der Kapelle schlug, fühlten O'Brien und Macarthy ihre Befürchtungen ein wenig schwinden; da man sie bis dahin unbehelligt gelassen hatte, schlossen sie daraus, daß der Kapitän-Kommandant von dem verhängnisvollen Zettel noch keine Kenntnis haben könne.

Sobald die Sträflinge ihren gewohnten Platz eingenommen hatten, begann der Geistliche die Sonntagsandacht, die durch keinen Zwischenfall gestört wurde. Die beiden Irländer saßen in ihrer Reihe nebeneinander und beobachteten Farnham, aus dessen Blicken sie deutlich »Nichts Neues« lesen zu können glaubten.

Auch der Kapitän Skirtle war in der Kapelle anwesend und nahm übrigens auf Anordnung der obersten Verwaltung immer an den Gottesdiensten teil. Seine Haltung verriet keine unruhige Besorgnis, und das wäre bestimmt nicht der Fall gewesen, wenn ihm eine Mitteilung über die geplante Flucht schon zu Ohren gekommen wäre.

Ubrigens bemerkten weder Farnham noch O'Brien und Macarthy, daß sie etwa besonders beobachtet würden. Sie konnten also fast mit Sicherheit annehmen,[362] daß der Zettel vom Winde verweht worden sei und von ihm keine Spur wiedergefunden würde.

Als der Geistliche den Segen gesprochen hatte, womit er den Gottesdienst schloß, verließen die Sträflinge die Kapelle und begaben sich nach den Sälen, um dort ihr Frühstück zu verzehren. Dann zerstreuten sie sich in den Höfen, wo sie unter einzelnen Vorbauten Schutz suchten, da es eben zu regnen begann.

Pieter Kip hatte sich vorgenommen, O'Brien und Macarthy in einem der Höfe aufzusuchen, wo die Sträflinge einzelne Gruppen bildeten, was hier leichter war als in den Sälen, und hier wollte er ihnen den Zettel zustecken mit den Worten:

»Hier ist ein beschriebenes Blatt, das ich aufgehoben habe. Außer meinem Bruder und mir weiß kein Mensch etwas davon. Sie werden ja sehen, was Sie daraufhin zu tun haben.«

Dann wollte Pieter sich wieder zurückziehen.

Da es den Sträflingen hier unverwehrt war, miteinander zu plaudern, schien ja Pieter Kips Vorhaben mit keinerlei Gefahr verbunden zu sein. Es handelte sich ja nur darum, den Zettel O'Brien oder seinen Gefährten unter Angabe von dessen Auffindung in die Hände zu spielen.

Was aber leicht gewesen wäre, wenn die Sträflinge inmitten der Höfe Gruppen gebildet hätten, das mußte leider schwieriger werden, wenn sie sich unter den Vorbauten mehr zusammendrängten oder gar in die Säle zurückgingen: dort befanden sich die Insassen – es waren ihrer immer acht bis neun – weit mehr unter den Augen der Aufseher.

Wiederholte heftige Regengüsse veranlaßten sie aber gerade heute, noch vor der Zeit ihre Säle aufzusuchen. Die Höfe standen bald leer und weder Karl noch Pieter Kip hatte Gelegenheit gefunden, sich den beiden Irländern zu nähern.

Und doch war es von Wichtigkeit, O'Brien und Macarthy noch heute zu benachrichtigen.

Heute war schon der 4. Mai und der Zettel bestimmte den morgigen Tag zum Stelldichein an der Saint-Jamesspitze, wo das Boot die Flüchtlinge erwarten sollte.

Wie sie an diese Stelle gelangen könnten, das stellten sich die Gebrüder Kip etwa folgendermaßen vor: Am folgenden Tage mußten die Sträflinge in dem Teile des Waldes beschäftigt sein, den die Verwaltung niederlegen lassen wollte. Diese Arbeiten wurden gewöhnlich bis sechs Uhr abends fortgesetzt.[363]

Dann kam, kurz vor der Wiedersammlung der Rotten zur Rückkehr nach Port-Arthur, für Farnham der Augenblick, wo er unter irgendwelchem Vorwande die Irländer bis zum Rande der Lichtung führen müßte, und das konnte nicht auffallen, da sich die Sträflinge ja unter den Augen eines Aufsehers befanden. Wenn die Rotten sich dann in Bewegung setzten, würde schwerlich jemand die Abwesenheit O'Briens, Macarthys und Farnhams schon bemerkt haben. Wäre das unglücklicherweise doch der Fall gewesen, so hätte der Oberaufseher freilich sofort das Alarmsignal geben lassen. Bei der hereinbrechenden Finsternis wäre es aber immerhin schwierig gewesen, in dem dichten Walde die Fährte der Flüchtlinge aufzuspüren.

Wurde ihre Flucht jedoch erst nach der Rückkehr der Rotten nach Port-Arthur offenbar, so donnerte ein Alarmschuß hinaus, der die ganze Halbinsel zu erhöhter Wachsamkeit aufrief. Da die Küste sich aber nur eine halbe Seemeile von der Lichtung befand, konnten die Flüchtlinge Zeit genug gehabt haben, die Saint-Jamesspitze zu erreichen. Lag hier das Boot schon für sie bereit, so bedurfte es nur weniger Ruderschläge, sie nach der »Illinois« in Sicherheit zu bringen. Der Dampfer hatte dann die ganze Nacht vor sich, aus der Storm-Bai herauszukommen, und bis Sonnenaufgang befand er sich schon zehn Meilen weit vom Kap Pillar draußen auf hoher See.

Natürlich gehörte hierzu, daß die Irländer rechtzeitig benachrichtigt wurden, spätestens am nächsten Tage, wenn es heute nicht mehr möglich war. Gelang es Pieter Kip also nicht, sich noch vor dem Abend mit ihnen in Verbindung zu setzen, so war es auch ausgeschlossen, das in der Nacht zu versuchen, denn die beiden Brüder bewohnten eine Zelle für sich, die sie nicht verlassen konnten.

So war also die Sachlage: Bei den Feniers die größte Unruhe wegen des verschwundenen Zettels, bei den Gebrüdern Kip die größte Ungeduld, O'Brien und Macarthy benachrichtigen zu können. – Die Zeit verging wie im Fluge und bald nahte die Stunde heran, wo die Sträflinge in den Schlafsälen eingeschlossen wurden.

Im schlimmsten Falle genügte es ja, wenn die beiden Irländer am nächsten Morgen Nachricht erhielten, wo ihnen dann doch noch Zeit genug blieb, die Flucht zu versuchen; und daran, die Küste zu erreichen, war wiederum nur zu denken, wenn sie außerhalb der Anstalt beschäftigt waren. Nun, morgen hofften Karl und Pieter Kip im Laufe der Arbeitszeit eine Gelegenheit zu finden, sich den Irländern zu nähern, da die beiden Brüder sich wegen ihrer Obliegenheit,[364] die zu fällenden Bäume anzuzeichnen, einer gewissen Bewegungsfreiheit erfreuten.

Gegen sechs Uhr abends heiterte sich nach einem regenreichen Tage der Himmel gerade noch auf, als die Sonne untergehen wollte. Ein frischer Wind zerstreute die Wolken. Die Sträflinge konnten noch für kurze Zeit die schützenden Vorbauten verlassen und sich unter den Augen der Aufseher in den Höfen ergehen.

Vielleicht bot sich jetzt Gelegenheit, mit O'Brien oder Macarthy zusammenzutreffen. Pieter Kip trug den Zettel noch bei sich, er mußte also versuchen, ihn den beiden Feniers zukommen zu lassen.

Um sieben Uhr hatten sich die Sträflinge laut Vorschrift nach den Schlafsälen zu begeben, die etwa für je fünfzig Mann eingerichtet waren. Hier wurden sie noch einmal verlesen und dann bis zum Morgen eingeschlossen. Auch die Gebrüder Kip mußten sich zu derselben Zeit in ihre Zelle begeben.

Da und dort hatten sich einzelne Gruppen gebildet, zusammengeführt durch eine Art Bagno-Kameradschaft, durch das Interesse, das die Verurteilten aneinander nahmen. Hier sprachen sie freilich nicht von der Vergangenheit... wozu auch?... ebensowenig von der Gegenwart... hätten sie daran etwas ändern können?... wohl aber von der Zukunft, von der sie so mancherlei hofften... entweder eine Milderung der harten Behandlung, der sie hier ausgesetzt waren, oder auch einen Erlaß ihrer Strafe, manche träumten wohl auch von einer Flucht.

Wie erwähnt, kamen die Gebrüder Kip und die Irländer nicht gerade häufig zusammen. Ja seit dem Tage, wo O'Brien und Macarthy die Danksagungen Karl und Pieter Kips mit so abweisender Kälte aufgenommen hatten, war zwischen ihnen nur sehr selten ein Wort gewechselt morden. Da sie auch nicht einundderselben Arbeiterrotte angehört hatten, konnten sie einander nur an den Vor- und den Nachmittagen der Sonntage oder besonderer Ruhetage treffen.

Die Zeit verstrich weiter. Unbedingt mußten die Irländer allein sein, wenn ihnen der Zettel Walters zugesteckt werden sollte, und gerade jetzt schien Farnham, der in ihrer Nähe umherging, sie kaum aus dem Auge zu verlieren.

Nun lag ja genug Ursache vor, zu glauben, daß Farnham von dem Fluchtversuche wußte und daß er die Gefangenen dabei begleiten sollte. Wenn diese Annahme nun aber doch falsch war, wenn Farnham die Gebrüder Kip im Gespräch mit den Feniers überraschte, dann war voraussichtlich alles verloren.[365] Und doch... nein... Pieter Kip täuschte sich nicht. Die drei Männer tauschten verständnisvolle Blicke aus, Blicke, worin sich Ungeduld und Unruhe stritten. Ihre Erregung gestattete ihnen nicht einmal, an derselben Stelle stehen zu bleiben.

Eben jetzt mußte Farnham auf einen Ruf des Oberaufsehers den Hof zeitweilig verlassen. Beim Weggehen hatte er seinen Landsleuten nicht einmal ein Wort zuflüstern können, was deren Besorgnisse natürlich vermehrte. In der Gemütsverfassung, worin sie sich befanden, kam ihnen alles verdächtig vor. Was konnte man denn von Farnham wollen? Wer hatte ihn rufen lassen? Vielleicht der Kapitän-Kommandant wegen des unglückseligen Zettels? War seine Beteiligung an der Sache entdeckt worden?

Eine Beute ihrer Aufregung, die sie nicht zu unterdrücken vermochten, traten O'Brien und Macarthy einige Schritte nach der Tür des Hofes zu, wie um die Rückkehr Farnhams zu erwarten, und immer in der Furcht, dann selbst gerufen zu werden.

An der halbdunkeln und verlassenen Stelle, wo sie stehen geblieben waren, schien kaum eine Gefahr vorzuliegen, gesehen oder gehört zu werden.

Pieter Kip schritt rasch nach der Stelle zu, trat an die Irländer heran und ergriff mit schneller Bewegung O'Briens Hand, die dieser erst wieder zurück zuziehen suchte.

Im nächsten Augenblicke aber fühlte O'Brien ein Stück Papier zwischen seine Finger gleiten, während Pieter ihm zuraunte:

»Hier ist ein Zettel, der Sie angeht. Gestern hab' ich ihn auf der Straße neben einem Baume aufgehoben. Niemand weiß etwas davon außer meinem Bruder und mir. Ich konnte Ihnen das Blättchen nicht früher geben. Noch ist es jedoch Zeit... es handelt sich um morgen. Sie werden ja sehen, was Sie zu tun haben!«

O'Brien hatte ihn verstanden, war aber vor Aufregung nicht imstande, ein Wort zu erwidern.

Inzwischen war auch Karl Kip herangekommen und sich zwischen Macarthy und dessen Gefährten ein wenig niederbeugend, setzte er hinzu:

»Wir sind keine Mörder, meine Herren, und Sie sehen, wir sind auch keine Verräter!«[366]

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 356-367.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
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