|
[341] Im Jahre 1867 war es, wo sich, zum Zwecke der Befreiung Irlands von dem unerträglichen Joche Großbritanniens, der Geheimbund der Feniers gebildet hatte.
Schon zwei Jahrhunderte früher hatten die katholischen Bewohner des Grünen Erin schwere Verfolgungen zu erdulden gehabt, als die ebenso unduldsamen wie wilden Söldnerscharen Cromwells der irischen Bevölkerung die kirchliche Reformation aufzwingen wollten. Treu ihrem Glauben und ihrer politischen Anschauung, wehrten sich die Unterdrückten nach Kräften. So verstrich ein Jahrhundert ohne Verbesserung der Sachlage, und England machte seine brutale Hand nur umso härter fühlbar. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts (1798) kam wieder eine Empörung zum Ausbruche, deren baldiger Niederwerfung die Aufhebung des irischen Parlaments folgte... des natürlichen Schutzwalls der Freiheiten Irlands.
Im Jahre 1829 tauchte da ein Verteidiger der Unterdrückten auf, dessen Name in der ganzen Welt widerhallte. O'Connell nahm einen Sitz im Hause der Gemeinen ein. Hier protestierte er mit mächtiger Stimme gegen die britischen Übergriffe, unter denen sieben Millionen katholischer Einwohner von den damaligen acht Millionen der Gesamtbevölkerung so schwer zu leiden hatten.
Bis zu welcher Stufe der Verarmung und des Elends das unglückliche Land hinabgesunken war, erkennt man an der Tatsache, daß von fünf Millionen Hektaren ertragsfähigen Bodens fünfzehnhunderttausend Hektare, von den Bebauern aus Mangel an Hilfsmitteln aufgegeben, vollständig brach lagen.
Wir gehen hier auf jene Zeit voller Unruhen, die zu den Vergeltungsmaßregeln des Fenianismus führten, nur soweit ein, als sie zu unserer Erzählung unmittelbar in Beziehung steht1.
O'Connell starb im Jahre 1847, ohne sein Werk haben vollenden, ja ohne dessen Erfolg in früherer oder späterer Zeit nur vorausschauen zu können.[341]
Damit war die Bewegung aber nicht erstickt, denn einzelne schürten sie unausgesetzt weiter, so daß das Vereinigte Königreich sich einer erneuten Auflehnung gegenübersah, die aber nicht in einer irischen, sondern in einer englischen Stadt zum Ausbruch kam. Zum ersten Male sah Manchester die Fahne der Feniers sich entrollen, der Feniers, deren Name jedenfalls aus der alten gälischen Sprache stammt, und diese Fahne wehte für die Sache der Unabhängigkeit.
Die Empörung wurde ebenso wie die erste und mit derselben herzlosen Strenge unterdrückt. Die Polizei bemächtigte sich der Hauptanführer Allen, Kelly, Deary, Baskin und Gorld. Erst eingekerkert, dann vor ein Kriminalgericht gestellt, wurden die drei Erstgenannten zum Tode verurteilt und am 23. November in Manchester hingerichtet.
Zu gleicher Zeit flackerte noch ein weiterer Aufruhr auf, dessen Urheber zwei unentmutigte Männer, Burke und Casey, waren. Diese wurden in London verhaftet und in das Gefängnis von Clerkenwell abgeführt. Ihre Freunde und Gesinnungsgenossen konnten sie aber nicht ihrem Schicksal überlassen. Entschlossen, die Gefangenen zu befreien, sprengten sie am 13. Dezember die Mauern des Gefängnisses in die Luft... eine Explosion, die gegen vierzig getötete und verletzte Opfer forderte: Burke, dem trotzdem die Flucht nicht gelang, wurde wegen Hochverrats zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit verurteilt.
Verhaftet wurden bei dieser Gelegenheit sieben Feniers: William und Timothy Desmond, English, O'Krese, Michel Baret und eine Frau, Anna Justice.
Bei der folgenden Gerichtsverhandlung hatten sie zum Verteidiger den berühmten Bright, der schon im Parlamente die Rechte Irlands verfochten hatte.
Die Bemühungen des großen Redners hatten aber keinen durchschlagenden Erfolg. Man stellte die Angeklagten im April 1868 vor das Oberste Kriminalgericht. Hier wurde gegen einen davon, gegen den siebenundzwanzigjährigen Michel Baret, ein Todesurteil gefällt, dessen Vollziehung auch Bright nicht zu hindern vermochte.
Hatte sich der Fenianismus durch die Explosion von Clerkenwell auch in der öffentlichen Meinung arg geschadet, so vermochten doch alle Verfolgungen nicht, die Sucht nach Vergeltung einzudämmen. Immer blieb die Furcht bestehen, daß die irische Angelegenheit die Männer, die diese in der Hand hatten, zu einem verzweifelten Schritte treiben könnte. Dank dem kräftigen Auftreten[342] Brights im Ober- und im Unterhause, wurde mit der Bill von 1869 wenigstens ein Schritt vorwärts getan. Diese Bill sprach die Gleichberechtigung der irischen und der anglikanischen Kirchen aus unter der Zusage eines Gesetzes über das Grundeigentum, das allen Forderungen nach gleichmäßiger Behandlung Rechnung tragen und damit den Namen »Vereinigtes Königreich«, unter dem doch England, Schottland und Irland zu verstehen sind, endlich zur Wahrheit machen sollte.
Die Polizei erlahmte deswegen aber nicht in ihrer Tätigkeit und die Feniers wurden nach wie vor ohne Gnade verfolgt. Es gelang ihr auch, mehrere Verschwörungen zu entdecken, deren Rädelsführer vor Gericht gestellt und zur Deportation verurteilt wurden.
Unter diesen befanden sich, bei einem Aufstandsversuche 1879 verhaftet, die beiden Irländer O'Brien und Macarthy, zur Verwandtschaft jenes Farcy gehörig, der bei den Ereignissen von 1867 beteiligt gewesen war.
Da die Namen der Empörer verraten worden waren, zog die Polizei die Verschworenen ein, ehe diese ihre Absicht ausführen konnten.
O'Brien und Macarthy ließen sich niemals herbei, ihre weiteren Genossen zu nennen. Sie nahmen die Verantwortlichkeit für die Verschwörung ganz allein auf sich; der Gerichtshof erwies sich außergewöhnlich streng. Er verurteilte sie zu lebenslänglicher Deportation, und danach wurden sie in die Strafanstalt von Port-Arthur geschafft.
Sie waren also nur politische Verbrecher; solche enthielt Port-Arthur aber schon, als es Dumont d'Urville 1840 besuchte. Gewiß war das England belastende Urteil des französischen Seefahrers über das hier geübte barbarische Verfahren richtig, als er damals schrieb: »Die Strafen, die hier Diebe, Fälscher und ähnliche Verbrecher erleiden, sind gegenüber denen der politischen Verbrecher wahrlich nicht zu hart, denn diese erklärt man für unwürdig, ferner unter ihresgleichen zu leben, und pfercht sie mit Räubern und Mördern, mit den unverbesserlichsten Schurken zusammen«.
Hierher waren also 1879, schon vor acht langen Jahren, die beiden Irländer O'Brien und Macarthy eingeliefert worden. Das Reglement des Bagno lastete auf ihnen in all seiner Härte, inmitten des unsauberen Schwarmes der anderen.
O'Brien war früher Werkmeister in einer Dubliner Fabrik, Macarthy aber Hafenarbeiter gewesen. Beide, mit außergewöhnlicher Energie begabt, hatten auch einige Bildung genossen. Familienbande, Erinnerungen und Beispiele hatten[343] sie zur Fahne der Feniers getrieben. Das Leben aufs Spiel setzend, hatten sie dabei ihre Freiheit verloren. Konnten sie wohl noch hoffen, daß ihr Strafaufenthalt je ein Ende finden, daß eine Begnadigung ihnen erlauben werde, den Bagno zu verlassen?... Nein, darauf rechneten sie nicht mehr, und wenn es ihnen nicht gelang zu entfliehen, schleppten sie dieses entsetzliche Leben bis ans Ende ihrer Tage.
Ob ihnen wohl eine Flucht gelingen sollte? Wäre ein Entweichen von der Halbinsel Tasman denn ganz unmöglich?
Nein, das wiederum nicht, unter der Bedingung, daß dazu eine Hilfe von draußen kam, und schon seit einigen Jahren hatten die Feniers in Amerika über verschiedene Mittel nachgedacht, ihre Brüder aus der Hölle von Port-Arthur zu erlösen.
Gegen Ende des jetzigen Jahres waren O'Brien und Macarthy auch auf Schleichwegen benachrichtigt wor den, daß ihre Freunde in San Francisco einen Versuch zu ihrer Befreiung unternehmen würden. Wenn die Stunde dazu kam, sollten sie weitere Nachricht erhalten, um zur Flucht vorbereitet zu sein.
Der Leser wird verwundert fragen, wie ihnen in der Strafanstalt die erste Benachrichtigung habe zugehen können und wie sie die zweite erhalten sollten. Ihnen gegenüber konnte an ein Nachlassen der Überwachung ja kaum gedacht werden, da sie sich Tag und Nacht, draußen und drinnen, unter den Augen der Aufseher befanden.
Unter diesen Aufsehern gab es jedoch einen Irländer, der mit seinen Landsleuten, so gut es ging, einige Beziehungen unterhielt. Aus Ergebenheit für die Sache des Feniertums und um dessen letzte Opfer zu retten, hatte sich dieser Irländer – Farnham mit Namen – der von Amerika nach Tasmanien geschickt worden war, eine Stellung als Aufseher in der Strafanstalt von Port-Arthur zu verschaffen gewußt, nur zu dem Zwecke, das Entweichen der hier gefangenen Genossen zu unterstützen. Er spielte da ein sehr gewagtes Spiel, wenn das Unternehmen mißglückte und es offenbar wurde, daß er mit O'Brien und Macarthy unter einer Decke steckte. Solche Beispiele von mutiger Opferwilligkeit stehen übrigens nicht vereinzelt da; unter den Feniers herrscht eine Solidarität, die auch vor dem Opfer des eigenen Lebens nicht zurück tritt.
Erst wenige Jahre vorher waren sechs, wegen politischer Vergehen Deportierte aus Australien entflohen, dank den von einer Strecke zur anderen errichteten Hilfsposten, die es ihnen ermöglichten, die Küste zu erreichen und sich auf dem»Catalpa« einzuschiffen, der sie nach einem Scharmützel mit dem Polizei-Wachtschiffe nach Amerika brachte.
Jetzt versah Farnham schon seit achtzehn Monaten und zur großen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten seine Stellung als Aufseher, während seine Landsleute vor seiner Anwesenheit hier bereits sechs Jahre in der Anstalt schmachteten. Bald ließ er sich unter die Aufseher ihrer Rotte einreihen, so daß jene immer unter seinen Augen waren und er sie nach außen begleiten konnte. Da die beiden Irländer ihn aber nicht kannten, kostete es ihm nicht wenig Mühe, ihnen Vertrauen einzuflößen, um nicht vielleicht gar für einen Spion gehalten zu werden. Schließlich gelang ihm jedoch alles aufs beste und zwischen den dreien herrschte das vollste Einvernehmen.
Farnhams größte Sorge war es gewesen, keinen Verdacht gegen sich aufkommen zu lassen, und deshalb mußte er gegen die Sträflinge seiner Rotte ebenso schonungslos auftreten, wie die übrigen Aufseher. Es hätte auch niemand beobachten können, daß er O'Brien und Macarthy duldsamer als andere behandelte. Die beiden unterwarfen sich freilich auch ohne Widerstand der eisernen Disziplin der Anstalt, so daß Farnham niemals Anlaß geboten wurde, mit Strafen gegen sie vorzugehen.
Anderseits hatte es den Gebrüdern Kip bei mehreren Gelegenheiten nicht entgehen können, daß dieser Aufseher sich vor den anderen durch ein weniger gemeines, weniger brutales Verhalten auszeichnete; diese Beobachtung hatte ihnen aber niemals den Gedanken eingegeben, daß Farnham nur hier war, um eine gewisse Rolle zu spielen. Übrigens hatten sie der von diesem beaufsichtigten Rotte niemals angehört, und seit ihrem Eintritt in die Bureaux begegneten sie ihm fast gar nicht mehr.
Das Nähere über O'Brien und Macarthy erfuhren sie aus den Akten, die durch ihre Hände gingen, da sie das Personalverzeichnis der Insassen der Anstalt zu führen hatten. Daraus ersahen sie also die Verurteilung der beiden als Feniers, als rein politische Verbrecher, die hier das Leben mit dein Abschaum der verruchtesten Übeltäter teilen mußten.
Als sie über diesen Punkt Klarheit gewonnen hatten, sagte Karl Kip bezüglich O'Briens und Macarthys zu seinem Bruder:
»Da sehen wir's ja, warum sie sich damals weigerten, uns die Hand zu geben!
– Ach ja, ich begreife ihr Benehmen, antwortete Pieter Kip.[347]
– Jawohl, Bruder, wir sind für sie nur zwei zum Tode Verurteilte, zwei Mörder, denen nur der Strick geschenkt worden ist.
– Die armen Leute! meinte Pieter Kip, wenn man an die beiden Irländer denkt, die in diesem Bagno eingekerkert sind, so...
– Nun, ich dächte, wir säßen doch auch darin! unterbrach ihn Karl Kip in einer Aufwallung inneren Grolls, der ihn noch manchmal übermannte und dessen mögliche Folgen sein Bruder von jeher fürchtete.
– Gewiß, erwiderte Pieter, wir aber, wir sind nur die Opfer eines Justizirrtums, der eines Tages noch aufgedeckt werden wird; jene zwei sind dagegen für ihre ganze Lebenszeit verurteilt, nur weil sie die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes erstrebt haben!«
War die Stellung Farnhams in der Strafanstalt auch eine derartige, daß sie ein Entkommen der Feniers erleichterte, so schien sich die Gelegenheit dazu doch nicht so bald bieten zu wollen. Seit zwei Jahren wußten die beiden Irländer nun schon, daß ihre Freunde in Amerika beschäftigt waren, ihre Flucht vorzubereiten, doch noch immer war keine weitere Benachrichtigung in Port-Arthur eingetroffen. O'Brien und Macarthy verloren auch fast schon jede Hoffnung darauf, als ihnen Farnham am Nachmittage des 20. April folgende Mitteilung machte:
Er befand sich auf dem Rückwege von Port-Arthur nach der Strafanstalt, als ein Mann an ihn herantrat, den Namen des Aufsehers nannte, den seinigen – er hieß Walter – angab und auch das Losungswort nannte, das zwischen den Feniers in San Francisco und ihm selbst früher vereinbart worden war. Dann teilte er ihm mit, daß in nächster Zeit der Flucht- und Entführungsversuch in folgender Weise unternommen werden solle: Vor Ablauf von vierzehn Tagen werde der von San Francisco nach Tasmanien abgegangene Dampfer »Illinois« in Hobart-Town eintreffen und auf der Reede davor beilegen. Dort werde er günstige Verhältnisse abwarten, in die Storm-Bai einzulaufen und sich dem Ufer der Halbinsel zu nähern.
Der Tag und die Stelle, wohin ein Boot des Schiffes gesendet werden würde, sollten noch durch eine letzte kurze Mitteilung angezeigt werden. Diese Mitteilung werde er, Walter, wenn er beim Wiedersehen Farnhams diesen nicht unauffällig sprechen könnte, in ein grünes Blatt wickeln und dieses dicht an einem Baume zur Erde fallen lassen, wo es Farnham ungesehen aufheben könnte. Dann sollten sich die Gefangenen nur streng an die auf dem[348] Zettel verzeichneten Anweisungen halten. Die freudige Erregung der beiden Irländer über diese Mitteilung kann man sich wohl leicht vorstellen. Mit welcher Ungeduld mußten sie das Erscheinen der »Illinois« auf der Reede von Hobart-Town, und in der Hoffnung erwarten, daß der Dampfer durch keinen Unfall auf dem Meere eine Verzögerung erleide! Auf der südlichen Halbkugel der Erde ist der April noch nicht der Monat, wo die überaus heftigen Stürme des Stillen Ozeans loszubrechen pflegen. Noch vierzehn Tage, hatte Walter gesagt, und der Dampfer werde zur Stelle sein... was bedeuteten aber vierzehn Tage neben den acht langen Jahren eines qualvollen Aufenthaltes in Port-Arthur!
Da Walter die Mauern der Strafanstalt natürlich nicht überschreiten konnte, mußte er Farnham außerhalb dieser zu treffen suchen, wenn er ihm noch etwas zuflüstern wollte. Dabei sollte er dem Aufseher den Tag angeben, wo die Flüchtlinge den Bagno zu verlassen hätten, und die Uferstelle bezeichnen, wo ein Boot der »Illinois« sie aufnehmen werde. An dem vorgeschlagenen Tage würden sie ja voraussichtlich in der Stunde, wo ihre mit Arbeiten im Freien beschäftigte Rotte sich zur Rückkehr nach Port-Arthur sammelte, das Ufer erreichen können.
Immerhin werde man sich in allem nach den Umständen richten. Von Wichtigkeit war nur, daß Farnham rechtzeitig Nachricht erhielte, es mochte das nun auf dem einen oder dem anderen Wege geschehen. Obwohl er Walter nur ein einziges Mal gesehen hatte, würde er ihn doch leicht wiedererkennen. Die folgenden Tage mußte er also stets aufmerksam sein, und wenn es Walter nicht gelang, unauffällig ganz in seine Nähe zu kommen, wenigstens immer ein Auge auf ihn haben, um sich auch das leiseste Zeichen nicht entgehen zu lassen. Ließ Walter dann einen Zettel am Stamme eines Baumes fallen, so galt es immer noch die größte Vorsicht, diesen aufzuheben, um seinen Inhalt den beiden Irländern mitteilen zu können.
»Die Sache wird gelingen, schloß er seine Worte, alle Maßnahmen sind aufs beste getroffen. Die Ankunft der ›Illinois‹ kann keinerlei Verdacht erregen. Der Dampfer wird auf der Reede von Hobart-Town ankern, wie ein Schiff, das um Wasser oder Proviant zu fassen eingelaufen ist, und auch wenn es dann durch die Bai wieder auf die hohe See zu gehen sucht, können die Hafenbehörden darin nichts Besonderes finden. Erst draußen, auf freiem Meere aber...[349]
– Werden wir gerettet sein, Farnham, rief O'Brien, gerettet durch dich, der mit uns nach Amerika zurückkehrt...
– O, liebe Brüder, erwiderte Farnham, dann werd' ich für euch nur getan haben, was auch ihr getan... für Irland getan hättet!«
Eine Woche verging, ohne daß Farnham Walter wiedersah, der jedenfalls in Hobart-Town das Eintreffen des amerikanischen Dampfers abwartete.
Die Gebrüder Kip hörten von Herrn Hawkins zunächst gar nichts mehr. An die Revision ihres Prozesses, von der er ihnen gesprochen hatte, dachten sie freilich ohne Unterlaß, ja sie lebten sozusagen nur noch in dieser Hoffnung, ohne darüber zu grübeln, worauf sich die Revision stützen sollte. Ihre Überzeugung stand jetzt schon fest bezüglich der Rolle, die Flig Balt – und wahrscheinlich Vin Mod, sein Verführer und Anstifter – in dem Trauerspiele von Kerawara gespielt, über den Anteil, den sie an der Ermordung des Kapitäns Harry Gibson gehabt hätten. Die beiden Elenden hatten Hobart-Town aber fast schon seit einem Jahre verlassen, und was aus ihnen geworden sei, konnte kein Mensch sagen.
Wenn Karl Kip sich diese Sachlage vorstellte, an der sich gar nichts ändern zu wollen schien, verfiel er öfters wieder in seine unbesiegbare Ungeduld. Er dachte dann daran, zu entweichen, und schlug seinem Bruder vor, alles zu wagen, um zu entfliehen. Ohne Hilfe von außen war jedoch eine solche Flucht so gut wie unmöglich.
Am 3. Mai waren schon vierzehn Tage verflossen seit der ersten Mitteilung Walters an Farnham. Die beiden Männer hatten sich inzwischen nicht wiedergesehen. Ohne Verzögerungen während der Fahrt, hätte die »Illinois« schon auf der Reede von Hobart-Town aufgetaucht sein müssen, jedenfalls lag sie da aber noch nicht, denn sonst hätten die beiden Irländer wohl schon Nachricht erhalten.
Doch in welcher Herzensangst schwebten sie jetzt immer! Wenn ihre Rotte sich dem Ufer näherte, schweiften ihre Blicke hinaus auf das Wasser, und gierig suchten sie unter den Schiffen vor dem Eingang zur Storm-Bai nach dem, das sie weit von diesem fluchbelasteten Erdenwinkel forttragen sollte.
Jetzt standen sie still und starrten eben nach einem Rauchstreifen, der, vor dem Südostwind dahertreibend, die Annäherung eines Dampfers schon verriet, ehe dieser um die Spitze des Kap Pillar herumkam. Dann erschien der Dampfer und steuerte scharf an der Landspitze vorüber auf die Bai herein.[350]
»Ist er es... ist er es? rief O'Brien wiederholt.
– Vielleicht, antwortete Marcathy, und dann dürften keine achtundvierzig Stunden vergehen, bis Farnham Nachrichten bekäme.«
In Gedanken versanken, blieben sie noch einen Augenblick stehen.
Da rief sie aber die rauhe Stimme des Oberaufsehers schon wieder zur Arbeit, und um jeden Verdacht abzuschneiden, trieb sie auch Farnham drohend dazu an.
Nach Beendigung seines Tagesdienstes verließ dieser die Strafanstalt und begab sich nach der Stadt. Hier irrte er durch die Straßen und am Hafen umher, immer in der Hoffnung auf ein Zusammentreffen mit Walter... vergebens. Jedenfalls erwartete Walter die »Illinois« nicht in Port-Arthur, sondern in Hobart-Town, und dann erschien er in der Nähe der Strafanstalt gewiß erst nach dem Eintreffen des Dampfers, um Farnham die letzten Anweisungen zu übermitteln.
Am Nachmittage des heutigen Tages wurden mehrere Arbeiterrotten – darunter auch die, der die Feniers zugeteilt waren – gegen fünf (engl.) Meilen nach Südwesten hinaus geschickt. Dort wurden am Saume des Waldes viele Bäume gefällt, die zur Errichtung einer Farm dienen sollten. Die Verwaltung hatte kurz vorher beschlossen, eine solche, nur eine halbe Meile von der Küste, erbauen zu lassen.
Da es sich jetzt darum handelte, die Grenzen der Farm abzustecken, waren die Gebrüder Kip der Arbeiterschar beigegeben worden. Man hatte sie beauftragt, die Ausführung der von ihnen in den Bureaux bearbeiteten Pläne zu überwachen.
Die Sträflinge – es mochten ihrer gegen hundert sein – marschierten unter der Aufsicht von etwa zwanzig Konstablern und deren Anführer hinaus.
Wie gewöhnlich trug jeder Sträfling seine am Fuße und am Gürtel befestigte Kette. Seit dem Tage ihres Eintrittes in die Bureaux waren Karl und Pieter Kip von dieser unheimlichen Zugabe befreit worden, doch trugen sie noch immer die für Port-Arthur vorgeschriebene gelbe Kleidung.
Nachdem sie damals mit O'Brien und Macarthy einige Worte gewechselt hatten, um ihnen zu danken, waren sie diesen nur sehr selten wieder begegnet. Jetzt, wo sie die Geschichte der beiden Feniers kannten und wußten, daß diese nur aus politischen Gründen deportiert waren, vergaßen sie fast ihr eigenes Unglück vor Rührung über das Los der irischen Patrioten.
Sobald die Menschenherde den Platz der zukünftigen Farm erreicht hatte. nahmen die Arbeiten ihren Anfang. An der Grenze der Lichtung, die in dem betreffenden Teile des Waldes ausgespart werden sollte,[351] bezeichneten Karl und Pieter Kip, unter Begleitung eines der Aufseher, die nach Maßgabe des Planes niederzulegenden Bäume.
Es war eine ziemlich kühle Witterung. Der Winter nahte heran, und schon lagen inmitten einer Decke von dürren Blättern eine Menge abgestorbener Zwei ge auf der Erde verstreut. Nur die immergrünen Baumarten, die Steineichen und[352] die Strandsichten, trugen noch ihr Blätterkleid und ihre Nadeln. Der von Westen herkommende Seewind strich pfeifend durch das Gewirr der Äste. Mit dem Dufte der Harzbäume mischte sich der belebende Geruch des Meeres. Man hörte auch das Donnern der Brandung an den Uferfelsen, über denen Schwärme von Nachtvögeln aufflatterten.
O'Brien und Macarthy mußten sich jedenfalls sagen, daß unter den vorliegenden Verhältnissen kein Boot an die Küste stoßen könnte. Farnham, der bis zum Rande des Steilufers hinausgegangen war, hatte sich auch überzeugt,[353] daß auf dem näheren Teile der Storm-Bai kein Fahrzeug lag. Die »Illinois« war also entweder noch nicht eingetroffen oder sie befand sich wenigstens noch auf der Reede.
Mit Rücksicht auf die Arbeiten für die zu errichtende Farm war zwischen Port-Arthur und diesem Teile der Halbinsel schon vorher eine Straße angelegt worden, die vielfach begangen wurde, da sie auch die Verbindung mit mehreren anderen Landgütern bildete. So kam es, daß zuweilen Vorüberkommende stehen blieben, um die Sträflinge bei der Arbeit zu beobachten. Natürlicherweise hielt man diese in angemessener Entfernung, und es war ihnen nicht erlaubt, mit den Gefangenen zu sprechen. Unter den Vorübergehenden fiel nun O'Brien und Macarthy eine Persönlichkeit auf, die auf der Straße wiederholt ein Stück hin- und zurückging.
Ob das Walter war?... Sie kannten diesen ja nicht, doch Farnham erkannte ihn sofort, und mit Vermeidung der geringsten Unklugheit verlor er ihn nicht aus den Augen. Gleichzeitig verständigte ein den Feniers gegebenes Zeichen diese, daß das der erwartete Bote wäre. Was konnte dieser aber hier wollen und warum suchte er sich Farnham zu nähern, wenn es nicht darum geschah, ihn von der Ankunft des Dampfers zu benachrichtigen und ihm Tag und Stelle anzugeben, wo die geplante Flucht bewerkstelligt werden sollte.
Der Oberaufseher der Sträflinge, der die Rotten führte, war ein brutaler, argwöhnischer Mann, der im Dienste mit äußerster Strenge auftrat. Ohne Verdacht zu erwecken, hätte Farnham mit Walter kein Wort wechseln können. Dieser begriff das nach einigen nutzlosen Versuchen bald genug und beschloß, sich so zu verhalten, wie sie es vorher verabredet hatten.
Ein Zettel, den er in der Tasche trug, enthielt alle notwendigen Anweisungen. Diesen ließ er Farnham aus der Ferne einen Augenblick sehen. wandte sich dann den Bäumen an der Straße zu und pflückte fünfzig Schritt weiter hin ein Blatt ab, in das er den Zettel sorgsam einwickelte und das er endlich dicht an einem Baume fallen ließ.
Hierauf gab Walter noch ein Farnham leicht verständliches Zeichen, ging dann schnell die Straße hinunter und verschwand in der Richtung nach Port-Arthur.
Den Feniers war keine der Bewegungen des Mannes entgangen... doch was sollten sie tun?... Den Zettel konnten sie, ohne dabei gesehen zu werden, nicht aufheben.[354]
Das mußte also Farnham unter Beobachtung der größten Vorsicht tun, und auch dazu mußte er noch warten, bis die Sträflinge ihre Arbeit nach jener Seite hin beendigt hatten.
Unglücklicherweise hatte aber der Oberaufseher eben eine der Rotten dahin geschickt, nicht aber die, die Farnham beaufsichtigte.
Ihm und seinen Landsleuten bereitete das selbstverständlich die peinlichste Unruhe. Sie befanden sich gegen zweihundert Schritt weit von der Straße, während an deren Rande andere Sträflinge beschäftigt waren.
Neben diesen fuhren Karl und Pieter Kip fort, die zu fällenden Bäume zu bezeichnen, und darunter war auch der, neben dem Walter einen Augenblick stehen geblieben war. Dazu lag die Befürchtung nahe, daß aus dem als Hülle dienenden Blatte ein wenig Papier hervorstehen könnte, das dann bestimmt aufgehoben und dem Oberaufseher überliefert wurde.
Das wäre das Zeichen zu einem allgemeinen Alarm gewesen. Nach der Rückkehr der Rotten nach Port-Arthur wäre im Innern und außerhalb der Strafanstalt die strengste Aufsicht und Überwachung angeordnet worden. Die Sträflinge hätte man eingeschlossen und sie ihre Arbeiten erst nach mehreren Tagen wieder aufnehmen lassen. Der Fluchtversuch wäre damit vereitelt gewesen. Wenn die »Illinois« ihr Boot ausschickte, die beiden Feniers aufzunehmen, hätte dieses an der bestimmten Stelle keinen Menschen angetroffen, und nach einigen Stunden des Wartens wäre ihm nichts übrig geblieben, als wieder zurückzusteuern.
Jetzt neigte sich die Sonne schon ein wenig dem Untergange zu und am westlichen Horizonte stiegen leichte Dunstmassen empor. Um sechs Uhr gab dann der Oberaufseher das Zeichen zum Rückmarsch, damit die Rotten noch vor einbrechender Dunkelheit in Port-Arthur eintrafen. Für Farnham genügte es aber nicht, sich nur nach jenem Baume begeben zu können, es mußte dazu auch noch hell genug sein, damit er das um den Zettel gewickelte Blatt finden könnte. Hob er es nicht noch heute auf, so war es gewiß bald zu spät. Vom Regen drohte es durchweicht, vom Winde mit den anderen am Boden liegenden Blättern verweht zu werden.
Die Irländer folgten Farnham unablässig mit den Augen.
»Wer weiß. flüsterte O'Brien seinem Genossen ins Ohr, wer weiß, ob unsere Freunde unsere Flucht nicht schon heute bewerkstelligen wollten.«
Heute?... Nein, das war kaum anzunehmen. Farnham mußte doch Zeit gelassen werden, auch seinerseits die letzten Maßregeln zu treffen, und den[355] Irländern die nötige Frist, sich an dem dazu gewählten Punkte des Ufers einzufinden. Doch höchstens binnen achtundvierzig Stunden lag das Boot gewiß an dieser Stelle...
Die letzten Sonnenstrahlen glitten fast wagrecht über die Erde hin. Wenn Farnham jetzt endlich den Baum erreichen konnte, war es noch hell genug, das auf der Erde liegende Blatt zu entdecken. Er versuchte deshalb, sich unauffällig der Stelle zu nähern, wo Walter stehen geblieben war, und das gelang ihm auch, außer von jemand anderem dabei bemerkt zu werden, als den beiden Irländern, die den Kopf kaum nach seiner Seite zu drehen wagten.
Bei dem Baume angelangt, beugte sich Farnham ein wenig nieder. Zwischen den entfärbten Blättern, die auf der Erde lagen, entdeckte er sofort ein halb zerknittertes und halb zerrissenes grünes Blatt... dasselbe, das den von Walter zurückgelassenen Zettel enthalten mußte...
Der Zettel lag nicht mehr darin. Vielleicht hatte ihn der Wind fortgetrieben, vielleicht auch war er schon herausgenommen und dem Oberaufseher eingehändigt worden.
Als Farnham sich seiner Rotte wieder anschloß, warfen ihm O'Brien und Macarthy einen fragenden Blick zu... sie verstanden, daß seine Bemühung vergeblich gewesen war. Was mußten sie nach der Rückkehr in die Strafanstalt aber erst alles befürchten, als Farnham ihnen mitgeteilt hatte, daß der Zettel Walters spurlos verschwunden war!
1 Dieser Zeitraum der Geschichte Irlands ist in der Reihe der Schriften von Julius Verne schon früher in dem Roman »Der Findling« eingehender geschildert worden.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
|
Buchempfehlung
Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.
248 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro