Vierzehntes Kapitel.
Die Folgen des Vorfalls.

[389] Schon seit einigen Monaten besprach man in Hobart-Town wieder die Angelegenheit der Gebrüder Kip mit lebhaftem Interesse. Zu einem Umschlage der öffentlichen Meinung, zu dem Gedanken, daß Karl und Pieter Kip die Mörder des Kapitäns Gibson doch nicht wären, war es freilich noch nicht gekommen. Nein, die große Menge sprach sich noch keineswegs zu Gunsten der Opfer eines traurigen Justizirrtums aus. Man wußte jedoch, daß Herr Hawkins an deren Unschuld glaubte, und ebenso war es bekannt, daß er seine Bemühungen zur Aufklärung des Sachverhalts fortsetzte und Se. Exzellenz Sir Edward Carrigan dafür – und zwar mit Erfolg – zu gewinnen sachte.

»Ja... wenn Herr Hawkins nun doch recht hätte?« hörte man wohl den und jenen sagen.

Die große Mehrheit – es verdient das betont zu werden – hegte jedoch keinen Zweifel an der Schuld der Gebrüder Kip, und die ganze Angelegenheit wäre wohl schon längst der Vergessenheit anheimgefallen, wenn der Reeder sich nicht so unablässig bemüht hätte, eine Wiederaufnahme der Verhandlungen herbeizuführen.

Es ist wohl leicht begreiflich, daß der Besuch, den Hawkins in Port-Arthur abgestattet hatte, seine Überzeugung nur noch weiter bekräftigen mußte. Sein Gespräch mit dem Kapitän-Kommandanten, das Verhalten der beiden Brüder in der Strafanstalt, die mutige Tat, der sie einige Erleichterung ihres Loses verdankten, ihre würdige Haltung, als er verschiedene Fragen an sie richtete, der ihnen gemeinsame Gedanke, die wirklichen Urheber des Verbrechens unter der Mannschaft des »James-Cook« zu suchen, der Verdacht, den das auffällige Benehmen Flig Balts und Vin Mods erregen mußte, und endlich die warme Erkenntlichkeit, die ihm Karl und Pieter Kip bewiesen, als er ihnen einen neuen Schimmer der Hoffnung eröffnete, alles das konnte ja seinen guten Glauben nur bestärken. Wie hätte er auch seine früheren Beziehungen zu den Holländern vergessen können, von deren Auffindung auf der Insel York, ihrem Eingreifen[389] bei dem Uberfalle der Papuas an, bis zu der Zeit, wo Karl Kip den »James-Cook« vor dem Untergange und aus den Händen Flig Balts gerettet hatte?

Nein, Hawkins hielt an seiner Überzeugung fest. Er widmete sich voller Eifer der Aufgabe, wenn auch allein stehend, das über der Angelegenheit schwebende Geheimnis zu entschleiern, die Unschuld der Verurteilten nachzuweisen und sie aus der Strafanstalt von Port-Arthur zu befreien.

Frau Hawkins teilte die Anschauungen ihres Gatten, wenn auch nicht die Hoffnung auf den guten Ausgang seiner Bemühungen. Sie ermutigte ihn sogar noch dazu, obwohl die öffentliche Meinung sehr dagegen war. Ja sie litt nicht wenig darunter, ihn heute vertrauensselig und morgen halb verzweifelt zu sehen. In dem beschränkten Kreise ihrer engeren Freunde und bei den Personen seiner näheren Umgebung, ließ sie nicht nach, seine Überzeugung zu vertreten. Die meisten ließen sich aber nicht umstimmen, so tief hatte ja die abscheuliche Mordtat, der ein Todesurteil folgte, die Gemüter beeinflußt und sogar die von der Schuld der Holländer überzeugt, die im Anfang der Verhandlungen daran noch gezweifelt hatten.

Bei der vertrauten Freundschaft, die zwischen ihnen herrschte, gewann Frau Hawkins aber gerade auf Frau Gibson allmählich den größten Einfluß. Anfänglich wollte die unglückliche Witwe sie freilich gar nicht anhören. In ihrem unermeßlichen Schmerze schwebte ihr nur das eine vor Augen, daß ihr Gatte nicht mehr lebte, wer auch dessen Mörder sein mochten. Frau Hawkins sprach sich aber so eindringlich zu Gunsten der Gebrüder Kip aus, daß sie endlich bei der Freundin dafür Gehör fand. Diese verschloß sich nicht mehr der Annahme, daß die Holländer doch vielleicht die Mörder nicht sein möchten, und sie erschrak bei dem Gedanken, daß in der Hölle von Port-Arthur zwei Schuldlose schmachten sollten.

»Sie werden daraus erlöst werden! sagte Frau Hawkins wiederholt. Früher oder später muß die Wahrheit an den Tag kommen und werden die wirklichen Mörder die verdiente Strafe finden!«

Wenn Frau Gibson aber dem Einflusse der Frau Hawkins unterlag, so glaubte ihr im Herzen überzeugter Sohn doch nach wie vor an die Schuld der Gebrüder Kip. Trotz aller Hochachtung vor dem Reeder und vor der erprobten Zuverlässigkeit seines Urteils, wollte er sich seinen Einwänden, die ja doch nur moralischer Natur waren, niemals fügen. Nat Gibson klammerte sich an die durch die Untersuchung erwiesenen Tatsachen und sah sich dabei in Übereinstimmung[390] mit der weitaus größten Zahl der Einwohner Hobart-Towns. Auch als Hawkins ihm von dem Verdachte sprach, der in ihm gegen Flig Balt und Vin Mod aufgestiegen war, begnügte er sich zu antworten:

»Herr Hawkins, die Papiere und das Geld meines Vaters, die Waffe, womit er getötet worden ist, haben sich in dem Zimmer und im Reisesacke der beiden Brüder vorgefunden... man müßte denn beweisen können, daß Flig Balt oder Vin Mod alles dahin gebracht hätte, und das wird nicht möglich sein.

– Wer weiß, mein armer Nat, antwortete Hawkins, wer weiß das?«

Ja... wer konnte das wissen? Und doch war gerade das der Verlauf der Dinge gewesen. Vin Mod war dabei aber mit solcher Verschlagenheit zu Werke gegangen, daß es unmöglich schien, seine Anwesenheit im Gasthofe zum Great Old Man nachzuweisen.

Hawkins hatte den Gastwirt zwar wiederholt mit darauf bezüglichen Fragen bestürmt, doch nichts damit erzielt. Der Mann erinnerte sich nicht einmal, daß zur Zeit, als die Gebrüder Kip in seinem Hause wohnten, das Nachbarzimmer überhaupt besetzt gewesen sei. Jedenfalls war Vin Mod niemals in seinen Gasthof gekommen, und niemand hätte behaupten können, ihn da gesehen zu haben.

Das war also die allgemein herrschende Anschauung, und das waren die Schritte, die Hawkins tat, eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, und die er mit einer Zähigkeit verfolgte, welche viele schon für eine fixe Idee ansahen.

Da verbreitete sich am Morgen des 7. Mai in der Stadt eine unerwartete Neuigkeit.

Der Gouverneur war telegraphisch benachrichtigt worden, daß in Port-Arthur eine Flucht vorgekommen sei. Zwei politische Deportierte, zwei Feniers und einer der Aufseher, ihr Landsmann und Genosse, waren entwichen und von einem, jedenfalls von ihren Freunden in Amerika dazu hergeschickten Dampfer aufgenommen worden. Gleichzeitig waren, unter Benützung dieser Gelegenheit, noch zwei andere Sträflinge entflohen.

Diese wegen eines ruchlosen Verbrechens verurteilten Sträflinge waren die Holländer Karl und Pieter Kip.


Die Aufseher mußten die Gefangenen loslassen und sich zurückziehen. (S. 388.)
Die Aufseher mußten die Gefangenen loslassen und sich zurückziehen. (S. 388.)

Während des Kampfes zwischen den amerikanischen Matrosen und den Aufsehern an der Saint-Jamesspitze waren die beiden Brüder, als sie den drei Flüchtlingen zu Hilfe eilten, schon erkannt worden. Freilich waren sie wider ihren Willen in das Boot geschafft worden, doch wen hätte man zu dem[391] Glauben bewegen können, daß sie bei dieser Flucht nicht im Einverständnisse mit den Feniers gehandelt hätten? Nein, alles das war vorher verabredet.

So lautete auch der Bericht der Aufseher, als diese in die Strafanstalt zurückkehrten, wo die Abwesenheit Karl und Pieter Kips schon bekannt war. Das mußte auch der Kapitän-Kommandant annehmen, als ihm das Entkommen der Fünf gemeldet wurde, worauf er in seinem, noch denselben Tag an Se. Exzellenz Sir Edward Carrigan abgesendeten Berichte besonders hinwies.[392]

Die Wirkung, die diese Nachricht in Hobart-Town und in ganz Tasmanien hervorbrachte, brauchen wir wohl nicht erst auszumalen. Hawkins erfuhr davon als einer der ersten durch den Gouverneur selbst, der ihn hatte nach seiner Amtswohnung rufen lassen. Die von Port-Arthur eingegangene und ihm hier vorgelegte Depesche entfiel seinen zitternden Händen. Er konnte nicht glauben, was er gelesen hatte, er starrte nur Se. Exzellenz an, und wiederholt stammelte er mit gebrochener Stimme:

»Sie sind entflohen... sind entflohen!

– Jawohl, antwortete Sir Edward Carrigan, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie mit den beiden politischen Verbrechern und deren Genossen im Einverständnis gehandelt haben.


Hawkins hatte den Gastwirt mit Fragen bestürmt. (S. 391.)
Hawkins hatte den Gastwirt mit Fragen bestürmt. (S. 391.)

– Sie... sie, rief Hawkins in furchtbarer Aufregung, ja, ich begreife es... begreife, daß sie ihre Freiheit wiedergewinnen wollten. Ich begreife, daß Freunde ihnen zu Hilfe gekommen sind... daß ihr Entweichen von langer Hand vorbereitet war... ich... ich billige es sogar...

– Was sagen Sie da, Herr Hawkins?... Vergessen Sie denn ganz, daß es sich hier um Feinde Englands handelt?

– Das ist wahr... freilich wahr; in Ihrer Gegenwart, Herr Gouverneur, hätte ich in dieser Weise nicht sprechen sollen. Und doch, jene Feniers hatten als politische Verbrecher keine Gnade zu erwarten. Sie waren für ihre Lebenszeit in Port-Arthur eingekerkert, während Karl und Pieter Kip... Nein, ich kann es nicht glauben, daß sie sich an dieser Flucht beteiligt haben!... Wer weiß, ob hier nicht eine irrtümliche Nachricht vorliegt.

– Nein, das nicht, entgegnete der Gouverneur, die Tatsache ist unzweifelhaft...

– Karl und Pieter Kip, fuhr Hawkins fort, kannten aber doch die Schritte, die für eine Wiederaufnahme ihres Prozesses getan wurden... sie wußten, daß Eure Exzellenz sich für sie interessierten, daß ich ihre Sache zur meinigen gemacht hatte...

– Gewiß, lieber Hawkins; doch sie werden geglaubt haben, daß alles erfolglos bleiben werde, und als sich ihnen da eine Fluchtgelegenheit bot...

– Dann müßte man aber voraussetzen, wendete Hawkins ein, daß jene Feniers – also auch diese – sie nicht für gemeine Verbrecher hielten, denn sie würden sich ebensowenig herbeigelassen haben, ihnen hilfreiche Hand zu bieten, wie der amerikanische Kapitän, auf seinem Schiffe Mörder aufzunehmen.[395]

– Ich kann mir die ganze Sache nicht recht erklären, meinte Se. Exzellenz, vielleicht kommt später mehr Licht hinein. Das eine steht jedoch fest, daß die Gebrüder Kip aus Port-Arthur entflohen sind, und Sie, lieber Hawkins, werden alle Bemühungen zu Gunsten der Leute einstellen können.

– O... ganz im Gegenteil!

– Wie? Auch nach dieser Flucht glauben Sie noch an deren Unschuld?

– Noch ebenso wie früher, Herr Gouverneur, versicherte Hawkins im Tone unerschütterlichster Überzeugung. O, ich versehe mich dessen wohl: man wird mich einen Toren schelten, daß ich mich auch vor den augenscheinlichsten Beweisen nicht ergäbe, daß diese Flucht ein Eingeständnis ihres Schuldbewußtseins sei, daß sie auf keinen Erfolg einer Revision rechneten, weil sie sich schuldig fühlten, und daß sie es deshalb vorgezogen haben, zu entfliehen, als sich eine Gelegenheit dazu darbot...

– Ja wirklich, erklärte der Gouverneur, es dürfte schwierig sein, das Verhalten Ihrer Schützlinge anders auszulegen.

– Und doch... nein, nein! fuhr Hawkins fort, jene Flucht ist noch kein Eingeständnis. Über der ganzen Sache schwebt, dabei bleib' ich, noch ein Dunkel, das die Zukunft wohl aufhellen wird. Ich bin weit eher der Meinung... ja, ich glaube, daß Karl und Pieter Kip wider ihren Willen mit fortgeschafft worden sind.

– Das wird niemand zugeben...

– Niemand außer mir... mag sein! Doch das genügt mir und ich werde ihre Sache weiter betreiben. Wie könnte ich, Herr Gouverneur, auch ihr Verhalten vergessen, als ich sie in Port-Arthur aufsuchte... vor allem die Ergebung Pieters, ihr Vertrauen auf meine ferneren Schritte, wie vergessen, daß sie an Bord des ›James-Cook‹ waren... vergessen, was Karl Kip sogar noch in der Strafanstalt getan hat?... Nein, ich gebe sie nicht auf, die Wahrheit muß einst zu Tage treten. Nein, hundertmal nein!... Karl und Pieter Kip haben das Blut des Kapitäns Gibson nicht vergossen!... Sie sind keine Mörder!«

Sir Edward Carrigan wollte das Gespräch nicht weiter ausdehnen und vorzüglich nichts sagen, was Herrn Hawkins hätte schmerzen oder beleidigen können. Er begnügte sich also, ihn mit den Mitteilungen bekannt zu machen, die er von der Verwaltung von Port-Arthur erhalten hatte.

»Nach dem mir zugegangenen Berichte, sagte er, ist ein amerikanisches Schiff, der Dampfer ›Illinois‹, auf der hiesigen Reede erschienen, ohne daß[396] man sich den Zweck seines Anlaufens hier erklären konnte. Da es gestern Morgen wieder ausgelaufen ist, deutet alles darauf hin, daß es die Flüchtlinge an einem vorher verabredeten Punkte der Halbinselküste aufgenommen hat. Natürlich befördert es sie nach Amerika. Dort befinden sich die Feniers und ihr Helfershelfer als politische Verbrecher in voller Sicherheit, denn für solche ist in den internationalen Verträgen eine Auslieferung nicht vorgesehen. Anders liegt das bezüglich der beiden Holländer, die – sagen wir vorläufig – als gemeine Verbrecher zu gelten haben. Gelingt es also, die Gebrüder Kip aufzufinden, so wird ihre Auslieferung verlangt und auch zugestanden werden. Dann bringt man sie wieder nach Port-Arthur, von wo ihnen eine Flucht zum zweiten Male nicht gelingen dürfte.

– Alles das, Herr Gouverneur, unter der Bedingung, daß es mir nicht vorher gelungen wäre, die wirklichen Missetäter zu entdecken.«

Wozu hätte es dienen können, gegen so festgewurzelte Anschauungen noch mit Worten anzukämpfen? Eines stand ja fest: daß alle bisherigen Erfahrungen weit eher dem Gouverneur recht gaben, wenn das Hawkins auch sich zuzugestehen weigerte. Die öffentliche Meinung stand ebenfalls auf Seite des hohen Beamten. Der Verteidiger der Gebrüder Kip wurden immer weniger, ja schließlich war nur noch ein einziger übrig. Die Flacht der Holländer sprach zu sehr gegen sie. Offenbar hofften sie nicht mehr auf eine Wiederaufnahme der Angelegenheit oder wenigstens auf einen für sie günstigen Ausgang einer solchen, und deshalb... ja, deshalb waren sie entflohen. Da sich ihnen zur Wiedererlangung ihrer Freiheit eine passende Gelegenheit geboten hatte, hatten sie sich beeilt, sie zu benutzen.

Das waren die Folgen dieser Flucht, die gegen die beiden Brüder ausfiel und einen neuen Beweis ihrer Schuld lieferte.

Nat Gibson, der sich recht wohl sagte, daß Hawkins, ohne den letzten Vorkommnissen ein besonderes Gewicht beizulegen, immer noch bei seiner Überzeugung beharrte, vermied es sorgsam, mit dem Reeder über die Angelegenheit zu sprechen.

Er konnte sich aber nicht an den Gedanken gewöhnen, daß die Mörder seines Vaters aus Port-Arthur entwichen wären, daß politische Verbrecher diesen gestattet hätten, sich ihnen anzuschließen, und daß Amerika ihnen eine Freistatt gewähren könnte. Sie mußten, seiner Meinung nach, ausgeliefert werden und sollten dann ihre Strafe unter den härtesten Umständen verbüßen.[397]

Einige zwanzig Tage verliefen ohne Zwischenfall, der Lloyd tat in seinen Schiffsnachrichten der »Illinois« keine Erwähnung. Kein Schiff war dem Dampfer auf der Fahrt über den Großen Ozean begegnet. Übrigens bezweifelte niemand, daß dieser die Entweichung der Irländer bewerkstelligt habe. Nach der auf Befehl des Gouverneurs vorgenommenen Untersuchung hatte nach dem Sturme am 5. Mai nur ein einziges Schiff die Reede verlassen, und das war die »Illinois«. Anderseits hatten auch die Zeigertelegraphen des Kap Pillar kein von der Seeseite in die Storm-Bai einfahrendes Schiff gemeldet, die fünf Flüchtlinge mußten sich also mit der »Illinois« auf dem Wege nach Amerika befinden. Natürlich konnte aber niemand wissen, welchen Hafen der Vereinigten Staaten der Dampfer anliefe, noch wo die Gefangenen aus dem Bagno ausgeschifft werden würden. Wie hätte man da die Gebrüder Kip beim Betreten der Neuen Welt verhaften können?

Am 25. Mai hatten Herr und Frau Hawkins das große Vergnügen, einen Besuch zu empfangen, der ihnen schon seit einiger Zeit angekündigt war. Herr und Frau Zieger, die einige Wochen in Hobart-Town zu verleben gedachten, hatten Port-Praslin auf dem deutschen Dampfer »Faust« verlassen. Nach schneller Überfahrt waren sie in der Hauptstadt Tasmaniens gelandet, wo sie von ihren Freunden erwartet wurden.

Wie bei früheren Reisen stiegen Herr und Frau Zieger bei Hawkins ab, wo schon ein Zimmer zu ihrer Aufnahme bereitgestellt war. Ihr erster Besuch galt der Witwe des Kapitäns und deren Sohne. Nat Gibson und seine Mutter empfanden eine tiefe Gemütsbewegung bei dem Erscheinen des Herrn und der Frau Zieger, denn wovon anders hätten sie unter Tränen sprechen können, als von dem schrecklichen Trauerspiele in Kerawara?

Bei seiner Ankunft wußte Zieger noch nicht, daß die Gebrüder Kip aus der Strafanstalt von Port-Arthur entflohen waren. Als er es hörte, erkannte er darin, wie so viele andere, nur einen neuen Beweis, daß die Gerichte mit ihrer Verurteilung keinen Fehler begangen hätten.

Selbstverständlich drängte es Hawkins gleich in den ersten Tagen, sich mit seinem Geschäftsfreunde aus Port-Praslin über die Angelegenheit auszusprechen. Er entrollte dabei ein Bild des ganzen Vorgangs, erinnerte ihn an die geheimnisvollen Nebenumstände der Freveltat und fügte hinzu:

»Nun, sagen Sie mir, lieber Zieger: als Sie hörten, daß die beiden Brüder angeklagt waren, das Verbrechen begangen zu haben, und als es Ihnen zu[398] Ohren kam, daß sie verurteilt worden seien... haben Sie an deren Schuld glauben können?

– Nein, gewiß nicht, lieber Freund! Daß Karl und Pieter Kip Mörder wären, das erschien nicht annehmbar. Ich hatte in ihnen stets zwei ebenso intelligente wie ehrenhafte Männer gesehen, die für den Kapitän Gibson und für Sie voller Dankbarkeit waren, immer des Umstandes eingedenk, daß sie als Schiffbrüchige der »Wilhelmina« auf dem »James-Cook« freundliche Aufnahme gefunden hatten. Nein, ich hätte nie glauben können, daß sie so schuldbelastet wären.

– Und wenn sie es nun wirklich nicht wären? antwortete Hawkins, der Herrn Zieger gespannt ansah.

– Sie hegen darüber noch Zweifel... nach den Verhandlungen, die den Beweis dafür gebracht haben?

– Ich bewahre, so lange nicht unumstößliche Beweise geliefert werden, die Überzeugung, daß sie nicht die Urheber des Verbrechens sind.«

Gegenüber einer so bestimmten Erklärung sagte Zieger:

»Hören Sie mich an, lieber Hawkins. Hamburg und ich haben, in Kerawara und in Port-Praslin, sowie in ganz Neuirland die eingehendsten Nachforschungen unternommen. Es gibt keinen Volksstamm des Archipels, bei dem wir nicht Erkundigungen eingezogen hätten, deren Zuverlässigkeit kontrolliert wurde. Nirgends, auch nicht in Neubritannien, hat sich gegen einen Eingebornen der leiseste Verdacht ergeben, an der Ermordung des Kapitäns Gibson beteiligt gewesen zu sein.

– Ich sage auch gar nicht, lieber Zieger, daß das Verbrechen einem Eingebornen des Bismarck-Archipels zugesprochen werden müßte, sondern ich behaupte nur, daß es nicht von den Gebrüdern Kip begangen worden ist.

– Von wem denn sonst? fragte Zieger. Von irgendwelchen Kolonisten oder etwa von Matrosen?...

– Ja, von Matrosen.

– Und aus welcher Mannschaft, lieber Hawkins. Jener Zeit ankerten nur drei Schiffe im Hafen von Kerawara und kein einziges in Port-Praslin.

– O doch... eines...

– Und welches denn?

– Der ›James-Cook‹.

– Wie, Sie vermuten, daß einer oder mehrere Leute von der Brigg selbst die Mörder wären?[399]

– Jawohl, Freund Zieger, und zwar dieselben, die auf dem Wrack der ›Wilhelmina‹ die Waffe gefunden haben, deren sich der Mörder bedient hat, dieselben, die sie später in den Reisesack der Gebrüder Kip gesteckt haben, worin sie schon die Schiffspapiere und das Geld Gibsons versteckt hatten.

– Waren denn unter der Mannschaft des ›James-Cook‹ Leute, die einer solchen Schandtat fähig schienen? fragte Zieger.

– Ja freilich, erklärte Hawkins, unter anderen die Seeleute, die der Bootsmann Balt in Dunedin angemustert hatte und die eine Meuterei gegen den neuen Kapitän angezettelt haben.

– Und einer von diesen sollte der Mörder sein?...

– Nein, des Verbrechens beschuldige ich den Flig Balt...

– Den Bootsmann?

– Ja, den, den ich beim Auslaufen aus Port-Praslin zum Kapitän ernannt hatte und der durch seine Unfähigkeit und ohne das entschlossene Eingreifen Karl Kips die Brigg mit Mann und Maus zum Untergange gebracht hätte.«

Er setzte noch hinzu, daß Flig Balt einen Helfershelfer und als solchen den Matrosen Vin Mod gehabt haben werde.

Durch diese Mitteilungen tief erregt, drang Zieger noch weiter in Hawkins ein. Gründete sich sein Verdacht auf greifbare Unterlagen? Beruhten sie vielleicht nur auf Vermutungen, deren Richtigkeit sich jeder Beurteilung entzog? Man müßte dann also annehmen, daß der Bootsmann mit Unterstützung Vin Mods, in der Absicht, den Kapitän Gibson verschwinden zu lassen, schon von langer Hand her die Ränke gesponnen hätte, in deren Folge das Verbrechen auf das Haupt der Gebrüder Kip gewälzt wurde?

Wollte Flig Balt etwa eine Tat der Rache gegen sie ausführen, so konnte er zu einem solchen Entschluß doch erst nach der Ernennung Karl Kips zum Kapitän oder gar erst nach der Unterdrückung der Meuterei durch diesen gekommen sein.

Dieser Erwägung von unbestreitbarem Werte hatte sich sicherlich auch Hawkins nicht ganz verschlossen, doch unzugänglich in seiner festgewurzelten Überzeugung hatte er sie abgewiesen und wies sie noch jetzt von sich ab.

»Mein lieber Zieger, antwortete er, als Flig Balt und Vin Mod den Plan zu dem Morde entwarfen, waren sie schon im Besitz des Dolches, der den Gebrüdern Kip gehörte. Da wird ihnen der Gedanke gekommen sein, sich[400] seiner zu bedienen, damit später die Unglücklichen angeklagt werden könnten, den Kapitän Gibson umgebracht zu haben. Ihnen mag das nur als eine Vermutung erscheinen... für mich ist es eine Gewißheit.«

Die von Hawkins gegebene Erklärung deckte sich ja mit der Wahrheit.

»Leider, setzte er noch hinzu, haben Flig Balt und Vin Mod Hobart-Town schon seit Jahresfrist verlassen. Ich habe keine Zeit gehabt, sie zu überwachen und mir die, beide belastende Auskunft zu verschaffen, die dann schon zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens geführt hätte. Ebenso ist es mir unmöglich gewesen, auszukundschaften, was aus ihnen geworden ist.

– Aber ich weiß es, ich... ich weiß es! rief Zieger lebhaft.

– Sie wissen es? antwortete Hawkins. indem er die Hände des Freundes ergriff.

– Ja gewiß! Ich habe Flig Balt, Vin Mod und die neuen Leute vom ›James-Cook‹ selbst gesehen.

– Wo?... Um Gottes willen, wo denn?

– In Port-Praslin.

– Und wann?

– Etwa vor drei Monaten.

– Sind sie auch noch dort?

– Nein, sie hatten auf einem deutschen Dreimaster, dem ›Kaiser‹, Heuer genommen und sind nach vierzehntägigem Aufenthalt von Port-Praslin in See gegangen.

– Wissen Sie auch wohin?

– Nach dem Salomonsarchipel; seitdem aber hab' ich nichts mehr von ihnen gehört.«

Flig Balt, Vin Mod, Len Cannon und dessen Kameraden hatten also Platz auf einem Schiffe gefunden. In welchem Hafen... das wußte man nicht sie gehörten dann aber zur Besatzung des »Kaisers«. Der Dreimaster hatte vor einigen Wochen in Port Praslin gelegen. Waren der Bootsmann und Vin Mod also die Mörder des Kapitäns Gibson, so hatten sie sich doch nicht gescheut, wie Herr Zieger bemerkte, nach jener Inselgruppe, dem Schauplatze des Verbrechens, zurückzukehren.

Jetzt waren sie nach den berüchtigten Gegenden weiter gesegelt, wohin sie die Brigg hatten schleppen wollen, und mit Hilfe ihrer Genossen wollten sie gewiß aus dem »Kaiser« machen, was ihnen mit dem »James-Cook« mißlungen[401] war. Wie sollte man aber später ihre Spuren an Bord eines Schiffes entdecken, dessen Namen sie jedenfalls verändert hatten?... Wie Hand an sie legen?... Machte ihre Abwesenheit nicht jede Revision der Kipschen Angelegenheit unmöglich?

So war die Sachlage. als einige Zeit darauf, am 20. Juni, der Lloyd in seinen Schiffsnachrichten das Eintreffen der »Illinois« in San Francisco, Kalifornien, Vereinigte Staaten, erwähnte. Schon am 30. Mai, etwa drei Wochen nach der Abfahrt aus der Storm-Bai, hatte der Dampfer O'Brien, Macarthy und Farnham aus Land gesetzt, wo diesen von ihren politischen Freunden der wärmste, begeistertste Empfang auf freiem Boden zu teil wurde. Die Zeitungen priesen mit überschwenglichen Ausdrücken das Gelingen der Flucht zu Ehren derer, die sie als eine Revanche des Feniertums vorbereitet hatten.

Gleichzeitig hörte man aber auch, daß die beiden Holländer, Karl und Pieter Kip, seit der Ausschiffung verschwunden wären.

Niemand wußte, ob sie sich in San Francisco verborgen hielten, um der amerikanischen Polizei nicht in die Hände zu fallen, oder ob sie sich mehr nach dem Innern der Vereinigten Staaten gewendet hätten. Und wenn jetzt auch ein Gesuch um Auslieferung der Flüchtigen gestellt wurde, kam es jedenfalls viel zu spät.

Diese Nachrichten hatten die Wirkung, den Anschauungen der vielen Ankläger der Gebrüder Kip nur noch mehr recht zu geben, und hatten damit die Folge, allen Zweifeln ein Ende zu machen, die bezüglich der Angelegenheit vielleicht noch bestanden hatten. Selbst Hawkins beschränkte seine bisherigen Bemühungen zu Gunsten der beiden Holländer, obwohl er sich in seiner Überzeugung auch jetzt noch nicht schwankend machen ließ. Wozu hätte aber eine Revision des Prozesses gedient, da die aus der Strafanstalt von Port-Arthur entwichenen Angeklagten sich nach Amerika geflüchtet hatten, von wo sie voraussichtlich doch niemals zurückkehrten?

Man beschäftigte sich also nicht weiter mit dem Drama von Kerawara, als sich am Vormittage des 25. Juni in der Stadt ein Gerücht verbreitete, dem freilich anfänglich niemand Glauben schenken wollte.

Karl und Pieter Kip, hieß es, wären am Abend vorher zurückgekehrt, verhaftet und zunächst ins Gefängnis von Hobart-Town gebracht worden.[402]

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 389-393,395-403.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
Die Gebrüder Kip
Die Gebrüder Kip

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon