[47] Am Morgen des 3. April verließ der »Saint Enoch« seinen Ankerplatz in der Bai des Iles. In seinen Proviantvorräthen mangelte es nur an Cocosnüssen. Geflügel und an Schweinen. Da es dem Kapitän Bourcart an den beiden letzten Halteplätzen in Neuseeland nicht gelungen war, seinen Bedarf daran zu decken, beschloß er, noch eine der Schifferinseln anzulaufen, wo es an jenen Nahrungsmitteln nicht fehlte.
Der Wind hielt sich in günstiger Richtung, und die neunhundert Meilen, die Ika-Na-Maui vom Wendekreise des Steinbocks trennen, wurden mit Rückenwind und unter Backbordhalfen binnen kaum acht Tagen zurückgelegt.
An diesem Tage, dem 12. April, sagte Bourcart auf eine von Doctor Filhiol an ihn gerichtete Frage:[47]
»Ja, es dürfte wohl an dieser Stelle, an der Kreuzung des dreiundzwanzigsten Breitengrades mit dem hundertfünfundsiebzigsten Längengrade sein, wo der Stille Ocean seine größte Tiefe erreicht. Durch Sondierungen, die an Bord des »Pinguin« ausgeführt worden sind, hat man viertausendneunhundert Faden Leine ablaufen lassen, ohne den Meeresgrund zu erreichen.
– Ich glaubte immer, bemerkte Doctor Filhiol, daß sich die bedeutendsten Tiefen in den japanischen Meeren fänden...[48]
– Das ist ein Irrthum, erklärte der Kapitän Bourcart, hier übertreffen sie jene um zweihundertfünfundvierzig Faden, das ergiebt im Ganzen eine Tiefe von neuntausend Metern.
– Ah, rief der Doctor Filhiol, das ist ja die Höhe, die die mächtigsten Bergriesen der Erde, die Gipfel des Himalaya, erreichen: achttausendsechshundert Meter der Dhawalagiri in Nepal, und neuntausend der Chamalari in Butan!
– In der That, erwiderte Bourcart, eine Nebeneinanderstellung von Zahlen, die höchst lehrreich ist.[49]
– Sie lehrt, Herr Kapitän, daß die größten Erhebungen der Erde wohl ihren größten Abgründen gegenüber noch zurückstehen. Zur Zeit ihrer Entstehung, als unsere Erdkugel eben ihre bleibende Gestalt annahm, haben ihre Tiefpunkte schon ihre Höhenpunkte übertroffen, und vielleicht werden sich die ersten niemals mit genügender Zuverlässigkeit messen lassen.«
Drei Tage später, am 15. April, tauchte vor dem Walfänger das zu den Schifferinseln gehörige Samoa auf, und der »Saint Enoch« ging eine Kabellänge vor der Insel Savai, einer der umfänglichsten der Gruppe, vor Anker.
Ein Dutzend Eingeborne, die ihren König begleiteten, begaben sich mit einem als Dolmetscher dienenden Engländer an Bord. Die noch sehr uncivilisierten Eingebornen gingen fast völlig nackt, und Seine Majestät zeigte sich kaum mehr bekleidet, als seine Unterthanen. Ein Indianerinnenhemd, womit der Kapitän Bourcart ihn beschenkte und durch dessen Aermellöcher der Empfänger zunächst mit aller Gewalt die Beine stecken wollte, verhüllte bald die Blöße der königlichen Glieder.
Die auf den Rath des Engländers ans Land geschickten Boote brachten von da eine volle Ladung eben von den Bäumen gebrochener Cocosnüsse mit.
Gegen Abend, als es zu dämmern anfing, wendete der »Saint Enoch«, um nicht zu nahe am Lande zu bleiben, und kreuzte die ganze Nacht über umher.
Mit Tagesanbruch kehrte der Kapitän Bourcart nach der früheren Ankerstelle zurück. Die Eingebornen lieferten dem Tafelmeister etwa zwanzig Schildkröten recht guter Art, ebensoviele kleine Schweine, und Geflügel in großer Menge. Bezahlt wurde dieser Proviant mit Gegenständen aus dem Tauschwaarenballen, auf die die Samoaner besonderen Werth legen, meistens mit geringwerthigen, das Stück zu sechs Sous eingekauften Messern.
Drei Tage nach der Wiederabfahrt meldeten die Wachen eine Gruppe Pottfische, die sich vier bis fünf Seemeilen von Backbord umhertummelte. Die herrschende schwache Brise brachte den »Saint Enoch« eben kaum vorwärts. Es war schon spät, fast fünf Uhr. Der Kapitän Bourcart wollte sich aber doch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einem oder mehreren jener Thiere nachzustellen.
So wurden denn eiligst zwei Boote klar gemacht, das Heurtaux' und das Coquebert's. Die beiden Officiere, ihre Harpuniere und ihre Matrosen nahmen darin Platz. Mittels der Riemen – das Meer zeigte nur eine lange, sanfte Dünung – glitten sie auf die Pottfischherde zu.[50]
Von dem vordersten Deck aus verfolgten der Kapitän Bourcart und der Doctor Filhiol nicht ohne Interesse den Verlauf des Fischfangs.
»Dieser ist schwieriger als der des Walfischs, bemerkte Bourcart, und liefert auch geringere Ausbeute. Sobald ein solcher Pottfisch harpuniert ist, muß man meist sofort die Leine eiligst nachschießen lassen, denn er pflegt dann sehr tief zu tauchen und das obendrein sehr, sehr schnell. Hat sich das betreffende Boot jedoch während des ersten Tauchens bei klarer Leine erhalten können, so hat man fast die Gewißheit, das Thier zu fangen. Kommt es erst einmal wieder nach der Oberfläche herauf, so bleibt es da, und Beil und Lanze machen ihm bald ein Ende.«
So geschah es auch im vorliegenden Falle. Die beiden Boote konnten sich nur eines einzigen Pottfisches von mittlerer Größe bemächtigen, während es auch solche giebt, die den Walfisch an Länge übertreffen. Da schon die Nacht herannahte und sich im Osten Wolken erhoben, wäre es unklug gewesen, sich noch länger aufzuhalten. Die Mannschaft begnügte sich also, das Thier an das Schiff heranzuholen.
Am nächsten Morgen konnte von einer Fortsetzung der Jagd keine Rede sein. Die Pottfische waren verschwunden, und der »Saint Enoch« nahm bei frischer Brise seine Fahrt nach Nordosten wieder auf.
An diesem Tage tauchte auch ein anderes Schiff auf, das drei bis vier Meilen unter dem Winde die gleiche Richtung einhielt. Es war eine dreimastige Bark unter vollen Segeln, deren Nationalität man auf jene Entfernung hin nicht bestimmt erkennen konnte. Nach der Gestalt des Rumpfes und gewissen Einzelheiten des Segelwerkes ließ sich jedoch annehmen, daß es ein englisches Fahrzeug wäre.
Gegen Mittag desselben Tages machte der Wind eine jener plötzlichen Drehungen von Westen nach Osten, die durch ihre Heftigkeit, wenn nicht durch ihre Dauer, höchst gefährlich sind und schon manches Schiff zu Grunde gerichtet haben, das auf einen solchen Umschlag nicht vorbereitet war.
Binnen kürzester Zeit rollten mächtige Wogen heran und Ströme von Wasser stürzten sich über Bord. Der Kapitän Bourcart mußte gerade gegen den Wind hin wenden lassen, um sich mit Mars-, Fock- und Klüversegel in dem Sturme zu halten. Bei diesem Manöver war einer der Matrosen, Gastinet, nach dem großen Klüversegel hinausgeklettert, um eine etwas verschlungene Schote wieder klar zu machen, er rutschte dabei aber ab und stürzte hinunter.[51]
»Mann über Bord!« rief sofort einer seiner Kameraden, der ihn vom Vordercastell aus im Wasser hatte verschwinden sehen.
Alle Welt war sofort auf den Beinen, und Bourcart eilte nach dem Hinterdeck, um die Rettungsversuche zu leiten.
Hätte Gastinet nicht sehr gut schwimmen können, so wäre er jetzt verloren gewesen. Die Wellenberge überstürzten sich mit solcher Gewalt, daß es ganz unmöglich war, ein Boot auszusetzen. Es blieb also nichts anderes übrig, als dem Verunglückten Rettungsbojen zuzuwerfen.
Leider war aber Gastinet an einer Seite hinuntergestürzt, wo ihn, da das Schiff abtrieb, die Bojen nicht erreichen konnten. Der Mann suchte sich daher nur kräftigen Armes schwimmend zu erhalten.
»Das große Fock- und das Kreuzsegel nachlassen!« befahl der Kapitän Bourcart.
Mit schneller Wendung näherte sich der »Saint Enoch« dem Verunglückten, der in einer halben Kabellänge Entfernung mit den Wogen kämpfte. Gastinet ergriff jetzt eine der ihm zugeworfenen Bojen, und wenn er sich daran festhalten konnte, mußte er in kurzer Zeit gerettet sein.
Da nahm die Sachlage plötzlich eine erschreckende Wendung.
»Ein Haifisch!... Ein Haifisch!« riefen einige Matrosen, die hinten an der Schanzkleidung standen.
Einer der furchtbaren Haie erschien und verschwand abwechselnd in den Wellen unter dem Winde vom Schiffe, an dessen Hintertheil er vorübergeschwommen war.
Die außerordentliche Gefräßigkeit und die erstaunliche Kraft dieser Ungeheuer – die, wie man mit Recht sagt, fast nur aus Maul und Magen bestehen – sind ja allgemein bekannt. Und wenn der Hai dem Unglücklichen in den Weg kam, wenn dieser nicht schon vorher hinaufgehißt war...
Obwohl der Hai nun kaum hundert Fuß von ihm entfernt war, hatte Gastinet ihn doch nicht bemerkt. Er hatte nicht einmal die Ausrufe von oben auf dem Hintertheile gehört und war ohne jede Ahnung der ihm drohenden Gefahr.
In diesem Augenblicke krachten zwei Flintenschüsse. Der Obersteuermann Heurtaux und Romain Allotte hatten in aller Eile ihre Gewehre von dem Rechen in der Cajüte geholt und auf das Thier abgefeuert.
Ob sie es gut getroffen hatten?... Niemand konnte das sagen. Jedenfalls tauchte es unter und sein Kopf kam nicht wieder über die Wellen herauf.[52]
Mit so weit wie möglich umgelegtem Steuer begann das Fahrzeug anzuluven. Würde es bei so grobem Meere aber wirklich weit genug herumkommen? Wenn es nicht vollständig beidrehte, was unter diesen ungünstigen Verhältnissen zu befürchten war, so war das ganze Manöver nutzlos.
Einen Augenblick überwältigte alle die furchtbarste Angst. Einige Secunden schien der »Saint Enoch«, dessen flatternde Segel laut an die Takelage anklatschten, still zu stehen. Da fingen aber die Bramsegel Wind und das Schiff wendete durch diesen, doch unter so starker Seitenneigung, daß die Speigatten ins Wasser tauchten.
Als jetzt die Schoten straff angezogen wurden, hielt es sich scharf am Winde und glitt nach der Rettungsboje hin, an der der Matrose sich anklammerte. Nun konnte man ihm ein Tauende zuwerfen, das er mit kräftiger Faust ergriff, und daran wurde er gerade zur Höhe der Schanzkleidung emporgehißt, als der Hai, sich mit gähnendem Rachen auf den Rücken werfend, eben nach dem Beine des Mannes schnappen wollte.
Als Gastinet auf dem Deck niedergelegt worden war, verlor er das Bewußtsein. Jedenfalls war er aber gerettet, und dem Doctor Filhiol machte es auch wenig Mühe, ihn wieder zu beleben.
Inzwischen hatte der Harpunier Ducrest dem Ungeheuer einen Haken mit einem Stück Rindergerippe als Köder zugeworfen.
Vielleicht war der Hai aber entflohen, denn man sah ihn nicht mehr.
Plötzlich erfolgte ein heftiger Ruck, der die Leine mit fortgerissen hätte, wäre sie nicht fest um eine der Baken der Reling geschlungen gewesen.
Das Thier war gefangen. Der in den Schlund eingedrungene Haken ließ es nicht wieder los. Sechs Mann packten die starke Leine und zogen es aus dem Wasser heraus. Dann wurde eine Schlinge über seinen Schwanz weggezogen und mit Hilfe eines Flaschenzuges brachte man den »Advocaten des Meeres« vollends an Bord, wo ihm mehrere Beilhiebe bald den Garaus machten.
Die Matrosen sind gewöhnlich neugierig zu sehen, was der Magen eines solchen Ungeheuers wohl enthalte, eines Geschöpfes, dessen französischer Name Requin angeblich nichts anderes sein soll, als eine Veränderung des lateinischen Wortes Requiem.
Im Bauche des Haies, worin auch der arme Gastinet noch Platz gehabt hätte, wurden nun folgende, ins Meer geworfene oder hineingefallene Gegenstände[53] vorgefunden: Eine leere Flasche, drei ebenfalls leere Conservedosen, mehrere Faden Schiemannsgarn, ein Stück Schwabber (Schiffsbesen), Knochenreste, eine Tafel Wachsleinwand, ein alter Schifferstiefel und eine Stange aus einem Hühnerkäfig.
Begreiflicherweise interessierte dieses Inventar vor allen den Doctor Filhiol.
»Das ist ja die reine Müllgrube des Meeres!« rief er.
Man hätte wirklich kaum eine treffendere Bezeichnung dafür finden können.
»Nun ist ja wohl weiter nichts zu thun, fügte der junge Arzt hinzu, als das Thier wieder ins Wasser zu werfen?
– O nein, lieber Filhiol, entgegnete Bourcart.
– Was wollen Sie denn mit dem Hai beginnen, Herr Kapitän?
– Ihn zerlegen und ausweiden, um alles Nutzbare davon zurückzubehalten. Eines davon berührt auch Ihr Fach, Doctor; man gewinnt aus diesen Haifischen ein niemals gerinnendes Oel, das alle arzneilichen Eigenschaften des besten Dorschleberthrans hat. Die Haut dient, wenn sie getrocknet und geglättet ist, den Bijouteriefabrikanten zur Erzeugung mannigfaltiger Phantasiegegenstände, die Buchbinder benutzen sie zu Buchdeckeln, die Tischler als eine Art Holzraspeln...
– Wollen Sie nicht auch gar sagen, Herr Kapitän, unterbrach ihn der Doctor Filhiol, daß man den Haifisch sogar essen kann?
– Gewiß, und seine Flossen sind auf den Märkten des Himmlischen Reiches so gesucht, daß man die Tonne davon gern mit siebenhundert Francs bezahlt. Da wir aber nicht genug Chinesen sind, uns daran zu erlaben, bereiten wir aus dem Fleische wenigstens einen Fischleim, der zum Klären des Weines, des Bieres und der Liköre sogar den aus dem Stör (die Hausenblase) übertrifft. Wen der etwas thranige Geschmack nicht anwidert, der soll auch ein Haifischfilet recht eßbar finden. Sie sehen also, der Bursche hier ist sein Gewicht in Gold werth!«
Am 25. April hatte Bourcart ins Schiffsjournal einzutragen, daß er die Linie passiert habe.
An diesem Tage hatte er um neun Uhr morgens bei klarem Wetter eine erste Beobachtung mit dem Sextanten und dem Chronometer ausgeführt, um die geographische Länge, d. h. die Ortszeit, zu erfahren, und diese Beobachtung sollte zu Mittag, wenn die Sonne durch den Meridian ging – unter Berücksichtigung der mittels des Logs gemessenen, bis dahin zurückgelegten Strecke –[54] vervollständigt werden. Zu Mittag zeigte ihm die zweite Beobachtung die geographische Breite durch die Höhe der Sonne über dem Horizonte, und er bestimmte mittels des Chronometers genau die Stunde (d. h. in diesem Falle die Pariser Zeit).
Das Wetter war günstig, die Luft rein und klar. Bourcart konnte also die Ergebnisse seiner Beobachtungen für hinreichend genau halten, und er erklärte deshalb auf Grund seiner Berechnungen:
»Eben haben wir den Aequator überschritten, liebe Freunde; der »Saint Enoch« ist damit nach der nördlichen Halbkugel der Erde zurückgekehrt.«
Obwohl der Doctor Filhiol, als der einzige an Bord, der die Linie noch nicht passiert hatte, schon bei der Fahrt über den Atlantischen Ocean der bekannten »Taufe« nicht unterzogen worden war, verschonte man ihn doch auch diesmal mit der nicht gerade angenehmen Ceremonie. Die Officiere begnügten sich, in ihrer Messe, ebenso wie die Matrosen im Volkslogis, auf den guten Erfolg der Fahrt ein Glas zu leeren. Die Mannschaft hatte eine doppelte Ration Branntwein bekommen, wie das auch jedesmal geschah, wenn ein Walfisch eingebracht worden war.
Trotz seines Knurrens und Brummens mußte sich sogar Jean-Marie Cabidoulin bequemen, mit dem Meister Ollive einmal auf einen Schluck anzustoßen.
»Eine gute Anfeuchtung für die Kehle... so etwas kann man nicht ablehnen, hatte sein Kamerad ihn angerufen.
– Nein, gewiß nicht, antwortete der Böttcher, doch das ändert nichts an meiner Anschauungsweise der Dinge!
– Ganz nach Belieben, Alterchen, doch trinke nur einmal mit!«
Gewöhnlich herrschen zu jetziger Jahreszeit auf diesem Theile des Stillen Oceans sehr schwache Luftströmungen, und der »Saint Enoch« gerieth gar in eine fast vollständige Windstille. Wie lang erscheinen dann die Stunden! Ohne von der Stelle zu kommen, ist ein Schiff dann vom Abend bis zum Morgen und vom Morgen bis zum Abend der Spielball des Seegangs. Die Seeleute suchen sich deshalb durch Lectüre oder durch Plaudern die Zeit zu verkürzen, wenn sie nicht schlafen, um bei der erdrückenden tropischen Hitze die qualvollen Stunden zu vergessen.
Am Nachmittage des 27. April saßen Bourcart, seine Officiere, der Doctor Filhiol und auch der Meister Ollive nebst dem Meister Cabidoulin[55] unter dem Sonnendache auf dem Hinterdecke und plauderten von dem und jenem. Da wandte sich der Obersteuermann an den Böttcher mit den Worten:
»Na, Cabidoulin, gestehen Sie denn nicht zu, daß es für den Anfang einer Fangreise recht vielversprechend ist, schon neunhundert Faß Thran im Raume zu haben?
– Neunhundert Faß, Herr Heurtaux, erwiderte der Böttcher, das sind noch lange keine zweitausend, und die fehlenden elfhundert werden nicht so leicht voll werden, wie man in der Cambüse seine Tasse füllt.
– Das heißt wohl, fiel der Lieutenant Coquebert lachend ein, daß uns kein einziger Walfisch mehr in den Weg kommt...
– Und daß die große Seeschlange sie alle verzehrt hat, setzte der Lieutenant Allotte in gleichem Tone hinzu.
– Vielleicht... meinte der Tonnenbinder, der sich zu scherzen hütete.
– Meister Cabidoulin, fragte hierauf der Kapitän Bourcart, Sie glauben wohl noch immer an diesen Ausbund von Ungeheuern?
– Ob er daran glaubt, der Dickkopf! erklärte Meister Ollive. Er hört auch nicht auf, auf dem Vordercastell davon zu schwätzen...
– Und wird auch später davon ebenso sprechen! versicherte der Böttcher.
– Schön, sagte Heurtaux. Für die Mehrzahl unserer Leute hat das ja keine Bedeutung, sie geben so wie so nichts auf Cabidoulin's gruselige Geschichten. Was dagegen die Leichtmatrosen betrifft, liegt die Sache anders, und ich weiß doch nicht, ob diese sich nicht schließlich zu fürchten anfangen.
– So halten Sie also Ihre Zunge im Zaume, Cabidoulin! befahl der Kapitän.
– Ja, warum denn? antwortete der Böttcher. Mindestens werden die Leute dann unterrichtet sein, und wenn sich die Seeschlange oder ein anderes Seeungeheuer sehen läßt...
– Wie? fragte Heurtaux. Sie denken gar, daß wir der berüchtigten Seeschlange begegnen könnten?
– Daran ist doch nicht zu zweifeln.
– Und warum?
– Ja, sehen Sie, Herr Heurtaux, das ist nun einmal meine Ueberzeugung, und die Späße des Meister Ollive werden diese nicht erschüttern.
– Ich bitte Sie aber, während aller Fahrten im Laufe von vierzig Jahren auf dem Atlantischen und dem Stillen Oceane haben Sie, soviel ich weiß, dieses phantastische Thier noch niemals zu sehen bekommen...
[56]
– Und ich rechnete darauf, daß das auch in Zukunft nicht der Fall wäre, da ich auf dem Lande Anker geworfen hatte. Nun hat mich aber unser Kapitän noch einmal vom Stapel laufen lassen, und diesmal wird es mir nicht geschenkt bleiben!
– O, ich wäre wahrlich nicht böse, dem Unthier zu begegnen! rief der Lieutenant Allotte.
– Sagen Sie das nicht, Lieutenant, sagen Sie das nicht! ermahnte der Böttcher den jungen Mann ernsten Tones.[57]
– Oho, Jean-Marie Cabidoulin, fiel jetzt Bourcart ein, das kann nicht Ihr Ernst sein!... Die große Seeschlange!... Ich wiederhole Ihnen zum hundertstenmale: Niemand hat sie bisher gesehen und niemand wird sie zu Gesicht bekommen... aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht existiert und nicht existieren kann...
– Sie existiert dennoch, Herr Kapitän, antwortete hartnäckig der Böttcher, der »Saint Enoch« wird ihre Bekanntschaft schon noch vor Beendigung seiner Reise machen... und wenn das nur nicht deren vorzeitiges Ende herbeiführt!«
Jean-Marie Cabidoulin sprach mit dem Tone so felsenfester Ueberzeugung, daß nicht nur die Leichtmatrosen an Bord, sondern auch die befahrenen Matrosen den bedrohlichen Prophezeiungen des Böttchers Glauben zu schenken anfingen. Wer konnte wissen, ob es dem Kapitän gelänge, dem Unglückspropheten den Mund zu stopfen!
Bei dieser Gelegenheit fragte Bourcart den Doctor Filhiol, was ihm wohl von der fabelhaften Seeschlange bekannt sei, und darauf berichtete der junge Arzt folgendes:
»Nun ich habe wohl fast alles gelesen, was man darüber geschrieben hat, und kenne auch die Spöttereien, die der »Constitutionel« damals über sich ergehen lassen mußte, als er alle die Fabeln als Wahrheiten hinstellte. Erinnern Sie sich auch, Kapitän, daß die Geschichte nicht neueren Datums ist. Ihre Anfänge findet man schon zu Beginn der christlichen Zeitrechnung. Schon damals dichtete die Leichtgläubigkeit der Menschen den Achtfüßern, Tintenfischen, den Kopffüßlern und anderen Geschöpfen riesige Größenverhältnisse an, obgleich diese alle in der Länge, ihre Fühlfäden eingerechnet, kaum mehr als siebzig bis achtzig Centimeter messen. Das bleibt doch weit zurück gegen die angeblichen Ungeheuer mit dreißig, sechzig, ja mit hundert Fuß langen Armen, Riesenthiere, die überhaupt nur in der Einbildung gelebt haben. Hat man doch sogar von einem eine halbe Lieue langen Kraken gefaselt, der ganze Schiffe in die Tiefen des Oceans hinunterziehen sollte!«
Meister Cabidoulin lauschte gespannt den Worten des Doctors, schüttelte aber dessen Versicherungen gegenüber immer verneinend den Kopf.
»Nein, fuhr Filhiol fort, reine Fabeln, an die die Alten vielleicht glaubten, denn schon von Plinius' Zeiten her ging die Rede von einer amphibischen Schlange mit großem Hundekopfe, nach rückwärts stehenden Ohren und mit gelblich schimmernden Schuppen bedecktem Leibe, die sich auf kleinere Schiffe[58] stürzte und sie zu Grunde richtete. Zehn oder zwölf Jahrhunderte später berichtete dann der norwegische Bischof Pantoppidan von einem Seeungeheuer, dessen Hörner mit Raaen ausgerüsteten Masten glichen, und wenn die Fischer sich auf tiefem Wasser zu befinden glaubten, fanden sie oft schon einige Fuß tief Grund, weil jenes Thier unter dem Kiel ihrer Schaluppe hinschwamm. Ja man verstieg sich sogar zu der Behauptung, das Thier habe einen ungeheuer großen Pferdekopf, schwarze Augen und eine weiße Mähne, bei seinem Untertauchen aber verdränge es eine so große Menge Wasser, daß das Meer in eine den Wirbeln des Maëlstroms gleichende Bewegung gerathe.
– Und warum sollte man das nicht ausgesprochen haben, wenn man es doch beobachtet hatte? bemerkte der Böttcher.
– Beobachtet... oder geglaubt, es beobachtet zu haben, mein armer Cabidoulin, antwortete der Kapitän Bourcart.
– Ueberdies, setzte der Doctor Filhiol hinzu, widersprachen sich jene guten Leute mehrfach, denn die einen behaupteten, das Thier habe eine spitze Schnauze und werfe das Wasser durch ein Spritzloch aus, und die anderen blieben dabei, es habe Flossen gleich den Ohren des Elefanten. Dann war wieder von dem großen weißen Walfisch an der Küste Grönlands, dem berühmten Maby Dick, die Rede, dem die schottischen Walfänger über zwei Jahrhunderte lang nachspürten, ohne ihn je gesehen zu haben, geschweige denn zu erreichen...
– Was doch nicht verhinderte, an sein Vorhandensein zu glauben, fiel Bourcart lachend ein.
– Natürlich nicht, bestätigte Filhiol, ebenso wie an das der nicht weniger sagenhaften Schlange, die vor einigen vierzig Jahren zuerst in der Bai von Glocester und ein zweitesmal dreißig Meilen seewärts von Boston in amerikanischen Gewässern zum Entsetzen aller »Zeugen« ihr Unwesen trieb.«
Der Doctor mochte aber predigen, so viel er wollte, Cabidoulin beharrte doch auf seiner eingewurzelten Anschauung. Was diese Wunderthiere anging, meinte er, daß das Meer, sowie es ganz außergewöhnliche Pflanzengebilde, z. B. achthundert bis tausend Fuß lange Algen enthalte, doch auch Ungeheuer von riesigen Größenverhältnissen verbergen könne, die ihrer Organisation nach in großer Tiefe lebten und nur selten einmal auftauchten.
Als glaubhaft wird ja berichtet, daß die Yacht »Concordia« 1819 etwa fünfzehn Seemeilen seitwärts von Race-Point einer Art Schlange begegnet sei, die fünf bis sechs Fuß über die Wasserfläche hervorragte und einen Pferdeoder[59] richtiger einen Reptilienkopf gehabt haben soll, doch nur fünfzig Fuß lang, also noch nicht einmal so lang war, wie viele Wale und Pottfische.
Im Jahre 1848 glaubte die Mannschaft an Bord des »Peking« ein ungeheueres, über hundert Fuß langes Thier zu sehen, das sich an der Meeresoberfläche hin bewegte. Eine genauere Untersuchung zeigte aber, daß es sich nur um eine außergewöhnlich lange, mit Seeparasiten aller Art bedeckte Algenmasse handelte.
Im Jahre 1849 behauptete der Kapitän Schielderup in der schmalen Wasserstraße, die die Insel Osterssen vom Festlande trennt, eine schlafend auf dem Wasser liegende, mindestens sechshundert Fuß lange Schlange bemerkt zu haben.
Im Jahre 1857 meldeten die Ausguckposten des »Castillan« das Erscheinen eines Ungeheuers mit dickem, tonnenförmigem Kopfe, dessen Gesammtlänge auf zweihundert Fuß geschätzt wurde.
Ferner berichtete 1862 der Commandant Beyer, der Führer des Avisos »Alecton«...
»Entschuldigen Sie hier eine Unterbrechung, Herr Filhiol, ließ sich da Meister Cabidoulin vernehmen, ich kenne nämlich einen Matrosen, der dort mit an Bord war.
– An Bord des »Alecton«? fragte Bourcart.
– Jawohl!
– Und Sie wollen sagen, Cabidoulin, jener Matrose habe gesehen, was der Commandant damals berichtete?
– Gesehen, wie ich Sie sehe, und es war ein leibhaftiges Ungeheuer, das die Mannschaft bei jener Gelegenheit an Bord gehißt hat...
– Gut, antwortete Doctor Filhiol, es handelte sich aber nur um einen unmäßig großen, krebsrothen Kopffüßler mit hoch am Kopfe liegenden Augen, einem papageischnabelähnlichen Maule, spindelförmigem, in der Mitte wie aufgeblähtem Körper und zwei aus abgerundeten, fleischigen Lappen bestehenden Flossen an dessen unterem Theile, während vom Kopfe selbst recht lange Fangarme ausgingen. Die gesammte weiche Fleischmasse wog nicht weniger als zweitausend Kilogramm, obwohl das Thier vom Kopf bis zum Schwanze nur fünf bis sechs Meter maß. Das war also keine Seeschlange...
– Wenn es aber derartige Ungeheuer giebt, meinte der Bötther, so möcht' ich doch fragen, warum es nicht auch die Seeschlange geben soll.«[60]
Wir fügen hier noch die Wahrnehmungen an, die in späterer Zeit bezüglich der Ungeheuerarten gemacht worden sind, welche die Meerestiefe beherbergt.
Im Jahre 1864 stieß, einige hundert Seemeilen von San Francisco, das holländische Schiff »Cornelis« mit einem Octopus (Achtfüßer) zusammen, von dem ein mit Saugnäpfen versehener Fangarm das Wasserstag des Bugspriets gepackt hatte und dieses fast bis zur Wasserfläche hinunterzerrte. Nach der Abtrennung des Fangarmes durch Beilhiebe klammerten sich zwei andere Arme (oder Füße), der eine an die Jungfernblöcke der Wandtroffen des großen Focksegels, der andere an das Gangspill an; nach deren Abtrennung mußten noch acht weitere Tentakeln abgehackt werden, die das Schiff sehr merkbar nach Steuerbord neigten.
Einige Jahre darauf beobachtete man im Meerbusen von Mexiko ein Seeungeheuer mit Froschkopf, hervorstehenden Augen und mit zwei meergrünen Armen, deren breite Hände sich auf die Bordwand eines größeren Bootes gelegt hatten. Sechs Revolverkugeln genügten kaum, das riesige Reptil zum Rückzuge zu zwingen. Das war eine sogenannte »Manta«, deren Arme mit dem Körper mit einer Art Haut, wie bei den Fledermäusen, verbunden sind, und die jener Zeit überall auf dem Meerbusen einen nicht geringen Schrecken hervorrief.
Im Jahre 1873 war es der Kutter »Lida«, der in dem Sunde von Sleat, zwischen der Insel Skye und dem Festlande, in seinem Kielwasser eine lebende, plumpe Masse entdeckte; ferner der »Nestor«, der zwischen Malacca und Penang nahe an einem Ungeheuer des Meeres vorüberkam, das der Schätzung nach zweihundertfünfzig Fuß lang und fünfzig Fuß breit gewesen sein soll. Es hatte einen viereckigen, gelb und schwarz gestreiften Kopf, ähnlich einem Salamander, dessen gewaltige Masse die Officiere und die Passagiere des Schiffes deutlich sehen konnten.
Endlich glaubte 1875 der Befehlshaber der »Pauline«, Georg Drivor, zwanzig Meilen vom Cap San Roque, der Nordostspitze Brasiliens, eine ungeheuere Schlange wahrzunehmen, die sich um einen Walfisch gelegt hatte, gegen den sie gleich einer Boa Constrictor ankämpfte. Diese Schlange, deren Farbe mit der des Meerwals übereinstimmte, sollte hundertsechzig bis hundertsiebzig Fuß lang gewesen sein. Sie spielte scheinbar eine Zeitlang mit ihrem Opfer und zog es endlich mit ins Meer hinab.
Das sind die Beobachtungen, die sich seit dreißig Jahren in den Berichten verschiedener Kapitäne angegeben finden. Ein Zweifel an dem Vorkommen[61] gewisser, wenigstens höchst merkwürdiger Meergeschöpfe kann danach kaum noch aufrecht gehalten werden. Selbst wenn man alle Uebertreibungen ausscheidet und nicht anerkennt, daß die Oceane von Ungeheuern bewohnt seien, die die größten Walfische an Körpermasse um das zehn- oder gar das hundertfache übertreffen, muß man den vorher angeführten Angaben doch wohl einigen Glauben schenken.
Nicht zuzustimmen ist dagegen der Behauptung Jean-Marie Cabidoulin's, daß das Meer Geschöpfe – Schlangen oder Kopffüßler – von solcher Größe und Stärke beherberge, daß sie Fahrzeuge von größerem Tonnengehalt zum Kentern bringen könnten. Wenn gar viele Schiffe verschollen sind, so daß man von ihnen also niemals nur das geringste wieder gehört hat, so kommt das daher, daß sie durch Collision zu Grunde gegangen, auf Rissen gescheitert und geborsten oder unter Segel im Wüthen der Orkane untergegangen sind. Für Schiffbrüche giebt es genug, leider zu viele Ursachen, ohne daß man, wie der starrköpfige Tonnenbinder, dafür noch Pythonschlangen, Wunderthiere und übernatürliche Hydren heranzuziehen braucht.
Die Windstille zog sich zum großen Verdruß der Officiere und Mannschaften des »Saint Enoch« auffallend in die Länge. Ihr Ende war kaum abzusehen, und erst am 5. Mai stellte sich ein plötzlicher Witterungsumschlag ein. An diesem Tage sprang eine steife Brise auf, mit deren Hilfe das Fahrzeug seine Reise nach Nordosten fortsetzte.
Gleichzeitig tauchte auch ein Schiff auf, das schon vorher denselben Curs steuernd gesehen worden war, und das sich jetzt etwa bis auf eine Seemeile näherte.
Niemand an Bord bezweifelte, daß es ebenfalls ein Walfänger wäre. Entweder hatte es mit dem Walfang noch nicht begonnen oder war dabei nicht vom Glück begünstigt gewesen, denn es schien noch ohne Ladung zu sein, da sein Rumpf ziemlich hoch emporragte.
»Ich möchte wohl wissen, sagte Bourcart, ob dieser Dreimaster, ebenso wie wir, die Küsten von Niedercalifornien aufsucht und vielleicht ebenfalls der Bai Marguerite zusteuert.
– Das wäre ja möglich, antwortete Heurtaux, und wenn es zutrifft, könnten wir ja mit ihm in Gesellschaft segeln.
– Ist es ein Amerikaner, ein Deutscher, ein Engländer oder ein Norweger? fragte der Lieutenant Coquebert.[62]
– Nun, wir können ihn ja ansprechen, meinte der Kapitän Bourcart. Hissen wir unsere Flagge, so wird er die seinige zeigen, dann wissen wir sofort, woran wir sind.«
Eine Minute darauf flatterten die Farben Frankreichs an der Besangaffel des »Saint Enoch«. Das andere Fahrzeug war aber unhöflich genug, nicht zu antworten.
»Ah, kein Zweifel, rief Romain Allotte, das ist ein Engländer!«
An Bord waren auch alle übrigen der Ansicht, daß ein Fahrzeug, das die französische Flagge nicht grüßte, nur ein »English aus England« sein könne.
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