Fünftes Capitel.
Das Tabu von Tonga-Tabelu.

[263] »Nun, fragt Yvernes, werden wir denn an den Hauptinseln von Tonga-Tabu anhalten?

– Gewiß, Verehrtester, antwortet Calistus Munbar. Sie werden diesen Archipel genügend kennen zu lernen Muße haben, ihn, den man auch den Archipel von Hapaï oder die Freundschafts-Inseln nennen könnte, denn so hatte ihn Cook wegen des hier gefundenen freundlichen Empfanges einst getauft.

– Und wir werden daselbst ohne Zweifel besser behandelt, als auf den Cooks-Inseln? fragt Pinchinat.

– Höchst wahrscheinlich.

– Werden wir alle Inseln der Gruppe besuchen? erkundigt sich Frascolin.

– Das geht nicht an, da es deren hundertfünfzig giebt...

– Und nachher? fragt Yvernes weiter.

– Nachher gehen wir nach den Fidschi-Inseln, dann nach den Neuen Hebriden, und schließlich, wenn wir die Malayen ans Land gesetzt haben, nach der Madelainebay zurück. Zunächst werden wir hier nur vor Bavoa und vor Tonga-Tabu anhalten, doch auch da werden Sie die ersehnten Wilden nicht zu Gesicht bekommen, mein lieber Pinchinat! setzt der Oberintendant hinzu.[263]

– Entschieden giebt's die Rasse also gar nicht mehr, selbst nicht im Westen des Stillen Oceans! erwidert der Bratschist.


Kapitän Turner empfängt die unterzeichneten Anweisungen. (S. 263)
Kapitän Turner empfängt die unterzeichneten Anweisungen. (S. 263)

– Weit gefehlt! Auf den Neuen Hebriden und den Salomons-Inseln lebt davon noch eine ansehnliche Menge. Auf Tonga sind die Unterthanen König Georgs I. freilich fast civilisiert und im ganzen sehr nette Leute. Immerhin würde ich Ihnen nicht rathen, eine der entzückenden Tongadamen zu heiraten.

– Warum denn nicht?


 Ein blinder Schuß krachte aus dem Mittelthurme (S. 262.)
Ein blinder Schuß krachte aus dem Mittelthurme (S. 262.)

Weil die Ehen zwischen Fremden und Eingebornen für nicht glückliche gehalten werden. Solche Eheleute haben stets verschiedne Neigungen.

– Schön! ruft Pinchinat, und der alte Saitenkratzer Zorn wollte sich gerade auf Tonga-Tabu vermählen!

– Ich? erwidert der Violoncellist achselzuckend. Weder auf Tonga-Tabu, noch anderswo. Hörst Du's, schlechter Spaßvogel?

– Der Chef unsers Orchesters ist klug und weise, antwortet Pinchinat. Wissen Sie, lieber Calistus – ich möchte Sie mit Ihrer Erlaubniß lieber Eucalistus nennen, so sympathisch sind Sie mir geworden...

– Meine Erlaubniß haben Sie dazu!

– Nun also, mein lieber Eucalistus, man hat nicht vierzig Jahre lang die Saiten des Violoncells gekratzt, ohne ein Philosoph zu werden, und die Philosophie lehrt, daß das einzige Mittel, in der Ehe glücklich zu leben, das ist, überhaupt nicht verheiratet zu sein.«

Am Morgen des 6. Januar tauchen die Höhen von Vavao, der bedeutendsten Insel der nördlichen Gruppe, am Horizonte auf. Diese Gruppe unterscheidet sich durch ihre vulcanische Bildung wesentlich von den beiden andern, denen von Hapaï und von Tonga-Tabu. Alle drei liegen zwischen dem 17. und dem 22. Grade südlicher Breite und zwischen dem 166. und 168. Grade westlicher Länge – auf einem Flächenraume von zweitausendfünfhundert Quadratkilometern, über den hundertfünfzig Inseln mit sechzigtausend Bewohnern verstreut sind.

Hier kreuzten die Schiffe Tasman's 1643 und die Cook's 1773 während dessen zweiter Entdeckungsreise im Großen Ocean. Nach dem Sturze der Dynastie der Finare-Finare und der Gründung eines Bundesstaates 1797, decimierte ein Bürgerkrieg die Bevölkerung des Archipels. Das war die Zeit der Ankunft jener Methodisten-Missionäre, die dieser anspruchsvollen anglikanischen Secte zur Herrschaft verhalfen. Jetzt ist König Georg I. der anerkannte Beherrscher seines Reiches, vorläufig unter dem Protectorate Englands, bis dieses einst...

Diese drei Punkte haben den Zweck, der Zukunft nicht vorzugreifen, wenn man auch die eines britischen Schutzstaates ziemlich bestimmt voraussehen kann.

Die Schifffahrt ist sehr schwierig durch dieses Labyrinth mit Cocospalmen bedeckter Inseln und Eilande, dem man doch folgen muß, um nach Nu-Osa, der Hauptstadt der Vavaogruppe, zu gelangen.[267]

Das vulcanische Vavao ist häufigen Erdbeben ausgesetzt, worauf man hier auch beim Bau der Wohnhäuser Rücksicht nimmt. Aufgerichtete Stämme, die mittelst Latten von Cocosholz verbunden sind, bilden die Mauern und darauf ruht ein ovales Dach. Das Ganze ist kühl und sauber. Das ganze Bild erregt die Aufmerksamkeit unsrer Künstler, die sich am Vordertheile Standard-Islands aufhalten, während dieses durch die mit Dörfern besetzten Canäle gleitet. Da und dort weht von einigen europäischen Häusern die deutsche oder die englische Flagge. Trotz der vulcanischen Natur dieses Archipels ist nicht anzunehmen, daß der kürzliche furchtbare Aschen- und Schlackenregen von ihm ausgegangen wäre.

Die Tongier haben nicht einmal von der achtundvierzigstündigen Finsterniß zu leiden gehabt, da der Wind die Staubwolken nach der entgegengesetzten Seite getrieben hatte. Höchst wahrscheinlich gehört der Vulcan, der sie auswarf, einer isolierten, mehr östlich liegenden Insel an, wenn derselbe nicht gar erst neuerdings zwischen Samoa und Tonga aufgestiegen ist.

Der Aufenthalt Standard-Islands bei Vavao hat nur acht Tage gedauert. Diese Insel verdient einen Besuch, obgleich sie erst vor wenigen Jahren durch einen schrecklichen Cyclon verwüstet wurde, der die kleine Kirche der Maristen umstürzte und viele Wohnungen von Eingebornen zerstörte. Das Land mit seinen zahlreichen Dörfern, Orangenhainen, Zuckerrohrplantagen, Bananen-, Maulbeer-, Brodbaum- und Santelholzwäldern hat darum an Reiz jedoch nicht eingebüßt. Von Hausthieren finden sich nur Schweine und Geflügel; von Vögeln zahllose Tauben und schönfarbige, geschwätzige Papageien. Von Reptilien kommen nur einzelne ungefährliche Schlangen und hübsche grüne Eidechsen vor, die man für abgefallene Blätter halten könnte.

Der Oberintendant hat die Schönheit des Typus der Eingebornen nicht zu sehr gepriesen; diese findet sich übrigens allgemein bei den Malayenrassen im mittleren Stillen Ocean: die Männer stolz, hochgewachsen, vielleicht etwas wohlbeleibt, aber von tadelloser Gestalt und gemessener Haltung, mit durchdringendem Blick und einem Teint, der zwischen kupferbraun und olivengrün die Mitte hält; die Frauen graziös und wohlproportioniert, mit sehr kleinen und zarten Händen und Füßen. Sie beschäftigen sich vorzugsweise mit der Herstellung von Strohmatten, Körben and Stoffen, ähnlich denen auf Tahiti, ohne daß ihre Finger durch diese Handarbeiten leiden. Uebrigens kann man sich von der Schönheit der Tongier leicht mit eignen Augen überzeugen. Nach der Mode des Landes sind das abscheuliche Beinkleid und der lächerliche Schlepprock noch nicht[268] zugelassen. Die Männer tragen dafür einen einfachen Schurz oder Gürtel, die Frauen den Caraco und einen kurzen, mit seinen getrockneten Rindenstückchen verzierten Rock. Beide Geschlechter legen Werth auf sorgsame Haarfrisur, die bei den jungen Mädchen von der Stirn aus hoch aufragt und durch ein Gitter von Cocosfasern an Stelle eines Kammes getragen wird.

Das alles genügt jedoch nicht, den dickköpfigen Sebastian Zorn von seiner Voreingenommenheit zu heilen: er wird sich weder hier noch sonstwo unter dem Monde ins Ehejoch spannen lassen.

Ihm und seinen Kameraden ist es jedoch stets eine große Befriedigung, an diesen Inseln einmal ans Land gehen zu können. Natürliche Berge, wirkliche Felder und Wasserläufe... das ist doch etwas andres als gemachte Flüsse und künstliche Ufer. Man muß eben ein Calistus Munbar sein, um seinem Juwel des Stillen Oceans den Vorzug vor den Schöpfungen der Natur zu geben.

Vavao ist zwar nicht die gewöhnliche Residenz des Königs Georg, er besitzt in Nu-Osa aber einen Palast, sagen wir lieber, ein hübsches Landhaus, wo er sich häufig aufhält. Der königliche Palast und die Wohnungen der englischen Vertreter befinden sich auf der Insel Tonga-Tabu.

Standard-Island soll daselbst, nahe dem südlichen Wendekreise, zum letztenmale vor der Umkehr nach Norden Halt machen.

Von Vavao aus erfreuen sich die Milliardeser zwei Tage lang einer recht abwechslungsreichen Fahrt, während der die eine Insel die andre ablöst. Alle lassen jedoch den gleichen Charakter erkennen, der der nördlichen Gruppe ebenso wie der Mittelgruppe von Hapaï eigen ist. Die äußerst sorgfältig ausgeführten Seekarten dieser Gegend gestatten dem Commodore Simcoë, sich getrost in das Gewirr von Wasserstraßen zwischen Hapaï und Tonga-Tabu hineinzuwagen. An Lootsen hätte es ihm im Nothfalle auch nicht gefehlt. Alle Inseln umschwärmen zahlreiche Fahrzeuge, meist Goëletten unter deutscher Flagge, die hier den Küstenverkehr unterhalten, während größere Handelsschiffe die Ausfuhr der Baumwolle, der Koprah, des Kaffees und des Mais, d. h. der hauptsächlichsten Naturproducte, besorgen. Doch nicht allein Lootsen wären auf Verlangen zu haben gewesen, sondern auch die Insassen der hier üblichen Piroguen mit doppelten, durch eine Plattform verbundenen sogenannten »Auslegern«, die bis zweihundert Mann aufnehmen können. Gewiß wären hunderte von Eingebornen auf das erste Signal herbeigeeilt, und welche Ernte für sie, wenn das Lootsenhonorar nach dem Tonnengehalte von Standard-Island berechnet wurde. Zweihundertundfünfzig[269] Millionen Tonnen! Der seiner Sache sichre Commodore Simcoë verläßt sich aber auf sich selbst und auf seine Officiere, die allen Befehlen mit erprobter Sorgsamkeit nachkommen.

Tonga-Tabu kommt am Morgen des 9. Januar in Sicht, wo sich Standard-Island nur noch drei bis vier Meilen davon entfernt befindet. Im Ganzen sehr niedrig, da es keiner geologischen Umwälzung seinen Ursprung verdankt, ist es nicht aus dem Meeresgrunde, wie so viele andre Inseln, emporgedrängt worden. Infusorien sind es, die es nach und nach, indem sie ihre madreporischen Bauten immer übereinander lagerten, hervorgebracht haben.

Welche Arbeit gehörte aber zu dieser Fläche von sieben- bis achthundert Quadratkilometern, auf der jetzt zwanzigtausend Menschen wohnen!

Der Commodore Simcoë macht gegenüber dem Hafen von Maofuga Halt.

Zwischen der seßhaften und der beweglichen Insel – der Schwester Latonas mythologischen Angedenkens – entwickelt sich sofort der gewohnte Verkehr. Doch wie auffällig unterscheidet sich dieser Archipel von dem der Marquisen, Pomotous und der Gesellschafts-Inseln! Hier herrscht der englische Einfluß, und der diesem unterworfene König Georg I. wird sich gar nicht beeilen, den Milliardesern amerikanischer Herkunft einen besonders freundlichen Empfang zu bereiten.

Das Quartett entdeckt in Maofuga indeß auch eine kleine französische Niederlassung. Hier befindet sich der Sitz des Bischofs von Oceanien, der eben jetzt auf amtlicher Rundreise begriffen war. Hier erheben sich die katholische Mission, die Schulen für Knaben und Mädchen und ein Haus für Ordensgeistliche. Natürlich werden die Pariser von ihren Landsleuten herzlich bewillkommnet. Der Superior der Mission bietet ihnen gastliche Aufnahme an, was sie von der Nothwendigkeit befreit, das »Haus der Fremden« aufzusuchen. Ihre Ausflüge sollen sich nur nach zwei andern bemerkenswerthen Punkten richten, nach Nakualosa, der »Reichshauptstadt« des Königs Georg, und nach dem Dorfe Mua mit vierhundert katholischen Einwohnern.

Als Tasman einst Tonga-Tabu entdeckte, gab er ihm den Namen Amsterdam – ein Name, den seine Häuser aus Pandanusblättern und Cocosfasern freilich nicht rechtfertigen. Europäische Wohnstätten fehlen hier zwar keineswegs, der einheimische Name eignet sich aber doch für die Insel besser.

Der Hafen von Maofuga liegt an der Nordküste. Hätte sich Standard-Island einige Meilen weiter westlich festgelegt, so wäre Nakualosa mit seinen königlichen Gärten und dem Palaste sichtbar gewesen. Weiter im Osten dagegen[270] hätte der Commodore Simcoë eine tief ins Land einschneidende Bucht gefunden, in deren Hintergrunde das Dorf Mua liegt. Beides unterließ er wegen der Gefahr einer Strandung zwischen den Hunderten von Eilanden, zwischen denen nur Schiffe von geringem Tonnengehalt genug Wassertiefe finden. Die Propeller-Insel muß also während des ganzen Aufenthalts vor Maofuga liegen bleiben.

Begeben sich auch zahlreiche Milliardeser nach diesem Hafenplatze, so denken doch nur wenige an einen Besuch des Innern der Insel. Und doch ist diese wunderschön und verdient das Lob, das Elisée Reclus ihr gespendet hat. Es ist zwar sehr warm, die Luft schwül und es drohen heftige Regenstürze, so daß schon etwas Touristentollheit dazu gehört, das Land durchstreifen zu wollen. Trotzdem thun das Frascolin, Yvernes und Pinchinat, der Violoncellist ist aber nicht zu bewegen, sein behagliches Zimmer im Casino vor dem Abend zu verlassen und bevor der Nachtwind den Strand von Maofuga etwas erfrischt hat. Auch der Oberintendant entschuldigt sich, die drei Tollköpfe nicht begleiten zu können.

»Ich würde unterwegs zerschmelzen! erklärt er.

– Dann brächten wir Sie auf Flaschen gezogen nach Hause!« antwortet der Bratschist.

Diese verlockende Aussicht kann Calistus Munbar, der in festem Zustande zu bleiben vorzieht, doch nicht andern Sinnes machen.

Zum Glück neigt sich die Sonne schon seit drei Wochen der nördlichen Erdhälfte wieder zu, und Standard-Island kann sich von ihrem Gluthherde so weit entfernt halten, daß es sich eine normale Temperatur sichert.

Mit dem Frühroth des nächsten Tages verlassen die drei Freunde also Maofuga und wandern der Hauptstadt der Insel zu. Gewiß ist es warm, doch noch erträglich unter dem Dache von Cocospalmen, Lakilakis, Tui-tuis, das sind Lichterbäumen, und Cocas, deren rothe und schwarze Beeren glänzende Traubenbüschel bilden.


Mit einem weißen Hemde angethan, stand Seine Majestät... (S. 275.)
Mit einem weißen Hemde angethan, stand Seine Majestät... (S. 275.)

Erst gegen Mittag zeigt sich die Hauptstadt in all' ihrem blühenden Glanze – ein Ausdruck, der zu die ser Jahreszeit ganz berechtigt ist. Der Palast des Königs scheint aus einem riesigen Bouquet von Grün hervorzutreten. Einen auffallenden Contrast bieten die blumenübersäeten Hütten der Eingebornen mit den Wohnungen von stockenglischem Aussehen, z. B. der Niederlassung der protestantischen Missionäre. Der Einfluß dieser wesleyanischen Priester hat sich hier[271] überall vorwiegend geltend gemacht, und die Tongier nahmen, freilich nach manchem traurigen Blutvergießen, deren Glaubenslehre an.

Immerhin haben sie auf ihre kanakische »Religion«, wenn man so sagen darf, keineswegs ganz verzichtet. Bei ihnen steht der Oberpriester über dem Könige. In ihrer merkwürdigen Cosmogonie spielen gute und böse Geister eine wichtige Rolle. Das Christenthum wird schwerlich das noch immer geübte Tabu auszurotten vermögen, und wenn ein solches aufgehoben werden soll, geht es nicht ohne Entsühnungsceremonien ab, bei denen zuweilen Menschenopfer vorkommen.[272]

Nach den Berichten verschiedner Forscher – vorzüglich Aylie Marin's gelegentlich seiner Reise im Jahre 1882 – kann Nakualosa noch immer nur als halbcivilisiert betrachtet werden.

Frascolin, Pinchinat und Yvernes haben nicht das Verlangen empfunden, dem König Georg ihre Huldigung zu Füßen zu legen.


Als sie anlangten, war das Fest schon in vollem Gange. (S. 277.)
Als sie anlangten, war das Fest schon in vollem Gange. (S. 277.)

Das ist gar nicht im bildlichen Sinne zu nehmen, denn es herrscht hier die Sitte, dem Souverän die Füße zu küssen. Unsre Pariser schätzen sich glücklich, dessen enthoben zu sein, als sie auf einem Platze von Nakualosa den »Tui«, wie man Seine Majestät hier nennt, mit einer Art weißem Hemde und einem kleinen, seine Hüften umschließenden Rocke aus heimischem Gewebe bekleidet, vor Augen bekommen. Dieser Fußkuß würde gewiß zu ihren unangenehmsten Reiseerinnerungen gehört haben.

»Man sieht hieraus, bemerkt Pinchinat, daß es der Insel sehr an Wasser fehlen muß!«

Wirklich kennt man auf Vavao ebenso wie auf Tonga-Tabu und den andern Inseln des Archipels nichts von einem Flusse oder Bache. Die Eingebornen haben nichts als das in Cisternen gesammelte Regenwasser zur Verfügung und sparen das nicht weniger, als ihr König Georg I.

Sehr ermüdet sind die drei Touristen heute nach dem Hafen von Moafuga zurückgekehrt und begeben sich noch nach ihren schönen Zimmern im Casino. Dem ungläubigen Sebastian Zorn versichern sie, daß ihr Ausflug hochinteressant gewesen sei. Doch alle Jubelhymnen Yvernes' vermögen den Violoncellisten nicht zu bestimmen, am nächsten Tage das Dorf Mua mit zu besuchen.

Der Marsch dahin sollte sehr lang und anstrengend werden. Doch gerade das Innere des wunderbaren Landes zu sehen, ist von besonderm Interesse, und die Touristen brechen deshalb zu Fuß nach der Bay von Mua auf, immer nahe dem Korallenuser dahin, vor dem viele Eilande liegen und wo sich die Cocosbäume ganz Oceaniens ein Stelldichein gegeben zu haben scheinen.

In Mua treffen sie erst am Nachmittage ein, so daß sie dort übernachten müssen, wozu sich für sie als Franzosen die Niederlassung der katholischen Missionäre ganz angezeigt erweist. Der Superior begrüßt seine Gäste mit wahrhaft rührender Freude. Bei ihm verbringen sie einen höchst angenehmen Abend in anziehendem Geplauder, das sich mehr auf Frankreich als auf die tongische Colonie bezieht. Die Ordensgeistlichen denken nicht ohne Wehmuth an die so entfernte Heimat. Und doch genießen sie hier die Befriedigung, hochgeachtet[275] und geehrt zu sein von der kleinen Welt, die sie trotz mancher Hindernisse zum katholischen Glauben bekehrt haben. Die Methodisten haben hier sogar eine Art Annex zu dem Dorfe Mua errichten müssen, um die Interessen des wesleyanischen Proselytismus nicht ganz in den Hintergrund treten zu lassen.

Der Superior zeigt seinen Gästen mit einem gewissen Stolze die Anlagen der Mission, das von den Eingebornen von Mua freiwillig erbaute Wohnhaus und die hübsche Kirche, errichtet nach den Plänen tongischer Architekten, deren sich ihre Collegen in Frankreich nicht zu schämen brauchten.

Am Abend gehen alle in der Umgebung des Dorfes spazieren, und zwar bis nach den alten Gräbern von Tui-Tonga, wo Schiefergestein und Korallen sich in primitiver und anziehender Kunst vermischen. Dann folgt ein Besuch der uralten Anpflanzung von Meas, Bananen oder monströsen Feigenbäumen mit gleich Schlangen verschlungenen Wurzeln – Baumriesen, die zuweilen einen Umfang von sechzig Metern haben. Frascolin besteht darauf, diesen zu messen, schreibt das Ergebniß in sein Taschenbuch ein und läßt es sich durch den Superior eigens bestätigen. Nun soll Einer das Vorkommen eines solchen Wunders der Pflanzenwelt noch anzweifeln!

Nach einem guten Abendbrod genießt man in den Zimmern der Mission eine erquickende Ruhe, um nach ebenso gutem Frühstück und herzlichem Abschied von den in Mua siedelnden Missionären nach Standard-Island zurückzukehren, wo die kleine Gesellschaft eintrifft, als es am Thurme des Rathhauses fünf Uhr schlägt. Diesmal bedürfen die drei Ausflügler keiner poetischen Uebertreibungen, um Sebastian Zorn zu versichern, daß die letzten beiden Tage ihnen unvergeßlich bleiben werden.

Am folgenden Tage erhält Cyrus Bikerstaff den Besuch des Kapitän Sarol, der folgenden Zweck hatte:

Eine Anzahl Malayen – etwa hundert – waren von den Neuen Hebriden geholt und nach Tonga-Tabu zur Urbarmachung großer Bodenstrecken gebracht worden, einer Arbeit, zu der die trägen Eingebornen hier nie zu gebrauchen wären. Nachdem sie ihre Arbeit kürzlich vollendet hatten, warteten die Malayen auf eine Gelegenheit zur Heimreise. Der Kapitän Sarol kam nun, um zu fragen, ob der Gouverneur gestatten würde, sie auf Standard-Island mitzunehmen. Binnen fünf bis sechs Wochen sollte dieses bei Erromango eintreffen, und die Ueberführung jener Leute könnte das städtische Budget doch nicht nennenswerth belasten. Es wäre nicht schön gewesen, den wackern Leuten eine so leicht zu[276] erweisende Gefälligkeit abzuschlagen. Der Gouverneur giebt also dem Anliegen nach und erntet dafür die Danksagungen nicht nur der Malayen, sondern auch der Maristen von Tonga-Tabu, für die jene hierher geholt worden waren.

Wer hätte ahnen können, daß der Kapitän Sarol sich damit nur Helfershelfer verschaffte, daß diese Neu-Hebridier ihn zur gelegnen Zeit in seinen schwarzen Plänen unterstützen würden! Und konnte er sich nicht Glück wünschen, jene auf Tonga-Tabu getroffen und nach Standard-Island eingeschmuggelt zu haben?

Für den nächsten Tag ist die Abreise der Milliardeser aus dem Archipel geplant.

Am Nachmittage können sie noch einem halb weltlichen, halb geistlichen Feste beiwohnen, an dem die Eingebornen eifrigst theilnehmen.

Das Programm dazu enthält unter anderm verschiedne Tanzaufführungen, und da das das Interesse unsrer Pariser erweckt, begeben sie sich gegen drei Uhr aus Land.

Der Oberintendant begleitet sie, doch diesmal schließt sich ihnen auch Athanase Dorémus an, denn einer derartigen Festlichkeit kann ein Tanz- und Anstandslehrer ja unmöglich fern bleiben. Sogar Sebastian Zorn hat sich entschlossen, seinen Kameraden zu folgen, gewiß mehr in der Absicht, die tongische Musik anzuhören, als die choreographischen Leistungen der Landesbevölkerung zu bewundern.

An Ort und Stelle angelangt, war das Fest schon in vollem Gange. Der Kavaliqueur, ein Auszug der getrockneten Pfefferbaumwurzel, macht fleißig die Runde und rinnt durch die Kehlen von etwa hundert Tänzern, Männern und Frauen, jungen Burschen und jungen Mädchen, von denen die letzteren aus ihrem langen Haar einen koketten Kopfschmuck gebildet haben, wie sie ihn bis zu ihrem Hochzeitstage tragen müssen.

Das Orchester ist höchst einfach. Es besteht aus einer scharf klingenden, Fanghu-Fanghu genannten Flöte und einem Dutzend Nasas, das sind Trommeln, die mit derben Schlägen – sogar im Takt, wie Pinchinat bemerkt – bearbeitet werden.

Offenbar blickt der »allzeit fertige« Athanase Dorémus mit vollster Verachtung auf die Tänze, wovon sich keiner in die Kategorie der Quadrillen, Mazurkas, Polkas oder der Walzer einreihen läßt. Er geniert sich nicht einmal, darüber die Achseln zu zucken, im Gegensatz zu Yvernes, der an diesen Tänzen wenigstens die Originalität zu schätzen weiß.[277]

Die ersten davon sind nur Tänze im Sitzen und bestehen ausschließlich aus Körperbewegungen und Pantomimen, die von einem getragnen, traurigen Rhythmus begleitet werden.

Hierauf folgen wirkliche Tänze, an denen sich Männlein und Weiblein mit allem Feuer ihres Temperaments betheiligen und die einmal aus graziösen Pas bestehen und dann wieder den Kampfesmuth des Eingebornen, der auf dem Kriegspfade wandelt, darstellen.

Das Quartett betrachtet dieses Schauspiel und fragt sich, wie die Leute sich wohl benehmen würden, wenn sie eine anregende europäische Ballmusik noch mehr belebte.

Da macht Pinchinat den Vorschlag, ihre Instrumente aus dem Casino holen zu lassen und den Tänzern und Tänzerinnen die flottesten »sechs Achtel« und die beliebtesten »zwei Viertel« (Tact-Tänze) von Lecoq, Audran und Offenbach aufzuspielen. Die andern stimmen zu und Calistus Munbar ist überzeugt, daß das eine wunderbare Wirkung hervorbringen müsse.

Eine halbe Stunde später sind die Instrumente zur Stelle und der »Ball« beginnt von neuem.

Die Eingebornen sind ebenso erstaunt wie entzückt, das Violoncell und die drei Violinen zu hören, die eine ihnen ganz fremde Musik erzeugen.

Gewiß sind sie nicht unempfindlich gegen dieselbe; auch ist zweifellos nachgewiesen, daß ihre charakteristischen Tänze nur Producte augenblicklicher Eingebung und nicht eingelernt und eingeübt sind... wie sehr das Athanase Dorémus auch bestreiten mochte. Tongier und Tongierinnen überbieten sich in Bewegungen und grotesken Sprüngen, während Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat teuflische Melodien aus »Orpheus in der Unterwelt« zum Besten geben. Der Oberintendant selbst kann sich nicht mehr halten und tanzt ein Quadrillensolo vor allem Volke, während der Tanz- und Anstandslehrer sich vor solchem Greuel die Augen zuhält. Zur reinen Kakophonie wird die Tanzmusik freilich, als auch noch die scharfen Flöten und die Trommeln mit einfallen, das steigert aber den Feuereifer der Tänzer bis aufs höchste, und man weiß kaum, wie das enden sollte, als ein Zwischenfall dem infernalischen Treiben ein unerwartetes Ziel setzte.

Ein Tongier, ein großer kräftiger Bursche, stürzt sich, entzückt über die Töne, die der Violoncellist seinem Instrumente entlockte, plötzlich auf dieses, reißt es an sich und entflieht damit unter dem Ausrufe:[278]

»Tabu... Tabu!«

Das Violoncell steht unter dem Tabu! Niemand darf es, ohne eine Heiligthumsschändung zu begehen, mehr anrühren! Der Oberpriester, der König Georg, die Hofwürdenträger und das ganze Volk... alles würde sich empören, wenn Einer sich solcher Todsünde schuldig machte.

Sebastian Zorn kehrt sich nicht daran. Er hängt an dem Meisterwerke von Gand und Bernardel. So macht er sich also auf, den Flüchtigen zu verfolgen, und seine Kameraden eilen ihm zu Hilfe. Die Eingebornen mischen sich ebenfalls ein... alles stürmt und tobt wild durcheinander.

Der Tongier ist aber so schnellfüßig, daß man darauf verzichten muß, ihn einzuholen. Schon nach einigen Minuten ist er weit, weit weg.

Athemlos kehren Sebastian Zorn und die andern zu Calistus Munbar zurück, der noch keuchend vom Tanzen dasitzt. Wenn man sagte, daß der Violoncellist von unbeschreiblicher Wuth überschäumte, so wäre das nicht genug. Er siedet, er erstickt! Ob tabuiert oder nicht, er will sein Instrument wieder haben! Und sollte Standard-Island gegen Tonga-Tabu eine Kriegserklärung loslassen – sind nicht Kriege schon aus unbedeutenderen Ursachen entstanden? – das Violoncell mußte seinem Eigenthümer wiedergegeben werden!


Der Tongier reißt das Violoncell an sich und entflieht. (S. 278.)
Der Tongier reißt das Violoncell an sich und entflieht. (S. 278.)

Zum Glück nehmen sich die Inselbehörden der Sache an. Nach einer Stunde wurde der Eingeborne ergriffen und gezwungen, das Instrument zurückzubringen. Das ging aber doch nicht so glatt ab, und es fehlte nicht viel daran, daß ein Ultimatum des Gouverneurs Cyrus Bikerstaff gelegentlich einer Frage des Tabu die religiösen Leidenschaften des ganzen Archipels erweckt hätte.

Die Aufhebung des Tabu mußte übrigens vorschriftsmäßig, unter Beachtung aller für solche Fälle vorgesehenen Ceremonien erfolgen. So wurden nach alter Sitte eine Anzahl Schweine geschlachtet, mit süßen Bataten, Taros und Macoresrüchten zwischen heißen Steinen gedämpft und schließlich zur großen Befriedigung der tongischen Magen verzehrt.

Das Violoncell hatte sich bei dem lärmenden Vorfalle nur etwas verstimmt, und Sebastian Zorn konnte dem leicht abhelfen, nachdem er sich zu seiner Freude überzeugt, daß es in den Händen des halbwilden Musikenthusiasten wenigstens keinen weitern Schaden genommen hatte.[279]

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 263-273,275-280.
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