Sechstes Capitel.
In welchem der Leser dazu kommt, die Bekanntschaft einer noch neuen Persönlichkeit zu machen.

[45] Die Reise war angefangen. Man wird zugeben, daß darin keine große Schwierigkeit lag.

Professor Tartelett wiederholte auch oft genug mit unbestreitbarer Logik:

»Eine Reise fängt allemal an! Aber wie sie endigt, das ist der Haken!«[45]

Die von Godfrey bewohnte Cabine lag am Ende des Hinterdecks des »Dream«, an dem hinteren Salon, der als Eßzimmer diente. Unser junger Reisender war daselbst so bequem und prächtig wie möglich einlogirt. Der Photographie Phinas hatte er den besten Platz an der hellsten Wandstelle eingeräumt. Ein freilich etwas schmales Lager, ein Waschtisch für seine Toilette, einige Wandschränke für Kleidungsstücke und Leibwäsche, ein Arbeitstischchen und ein Lehnstuhl, um sich bequem setzen zu können, was fehlte diesem Passagier von zweiundzwanzig Jahren dann wohl noch? Unter solchen Verhältnissen wäre er zweiundzwanzigmal um die Welt gefahren. Befand er sich nicht im Alter der praktischen Philosophie, welche eine rüstige Gesundheit und gute Laune erzeugt? O, Ihr jungen Leute, reist, wenn Ihr es könnt, und wenn Ihr es nicht könnt... so reist doch!

Tartelett freilich befand sich nicht in so rosenrother Stimmung. Seine, neben der seines Schülers gelegene Cabine kam ihm gar so eng vor, das Lager zu hart, die sechs Quadratyard Bodenfläche erschienen ihm ungenügend, seine gewohnten Tanzübungen auszuführen. Würde der Tanz- und Anstandslehrer etwa gar in dem Reisenden untergehen? Nein, jener lag ihm einmal im Blute, und wenn Tartelett's letztes Stündchen dereinst kam, konnte man sicher darauf rechnen, daß seine Füße sich in ganz gerader Haltung, die Fersen geschlossen, in erster Position befinden würden.

Die Mahlzeiten sollten gemeinschaftlich eingenommen werden, und das geschah auch – Godfrey und Tartelett saßen sich dabei gegenüber, der Capitän und der zweite Officier nahmen die anderen Seiten des geränderten Tisches ein – eine Einrichtung, welche bekanntlich dazu dient, bei stärkerem Seegang zu verhindern, daß Teller u. s. w. hinuntergleiten. Man kann sich leicht vorstellen, daß Tartelett's Platz hier häufig leer blieb.

Bei der Abfahrt im schönen Monat Juni wehte eine angenehme nordöstliche Brise. Capitän Turcotte hatte einige Segel beisetzen lassen, um schneller vorwärts zu kommen, und der dadurch mehr gehaltene »Dream« rollte nicht allzusehr von einer Seite zur an deren. Da die Wellen übrigens von rückwärts kamen, so schwankte er auch nicht merkbar der Länge nach. Diese Schiffsbewegung ist es aber nicht, welche auf den Gesichtern der Passagiere die spitzigen Nasen, die hohlen Augen, bleichen Stirnen und die farblosen Wangen hervorbringt. Es war mit einem Worte ein ganz erträglicher Zustand. Das Fahrzeug glitt auf freundlichem Meere nach Südwesten hin, fast ohne zu schwanken. Die amerikanische Küste entschwand bald am fernen Horizonte.[46]

In zwei Tagen ereignete sich nicht der geringste erwähnenswerthe Umstand. Der »Dream« dampfte ungestört weiter. Der Anfang dieser Reise gestaltete sich also recht günstig, obwohl Capitän Turcotte zuweilen eine gewisse Beklommenheit zeigte, die er doch vergeblich zu verbergen sachte. Jeden Tag, wenn die Sonne durch den Meridian ging, bestimmte er genau die Ortslage des Schiffes Es fiel jedoch auf, daß er nachher immer den zweiten Officier nach seiner Cabine kommen ließ, und daselbst verweilten die beiden Seeleute in längerer geheim gehaltener Verhandlung, als verständigten sie sich im Voraus angesichts einer bevorstehenden ernsten Eventualität. Godfrey schien zwar nicht viel hiervon zu bemerken, denn er verstand von der Schifffahrt so viel wie nichts, der Obersteuermann und einzelne Matrosen schüttelten indeß bedenklich die Köpfe.

Die wackeren Leute hatten dazu umsomehr Ursache, als schon in der ersten Woche zwei- bis dreimal während der Nacht und ohne erkennbare Nothwendigkeit dieses Manövers die Richtung des »Dream« merkbar verändert und erst am Tage wieder eingeschlagen wurde. Was bei einem, den wechselnden Strömungen der Atmosphäre unterworfenen Segelschiff erklärlich gewesen wäre, war es doch nicht bei einem Dampfer, der immer der Linie der größten Kreise folgen kann und seine Segel einzieht, wenn ihm der Wind nicht günstig ist.

Am 12. Juni des Morgens ereignete sich an Bord ein unerwarteter Zwischenfall.

Capitän Turcotte, der zweite Officier und Godfrey hatten sich eben zum Frühstück niedergesetzt, als sich vom Verdeck lautes Geräusch vernehmen ließ. Fast gleichzeitig erschien der Obersteuermann, die Thür aufstoßend, auf der Schwelle des Salons.

»Capitän! rief er.

– Was giebt es denn? fragt Turcotte, lebhaft, wie ein richtiger Seemann stets auf dem Qui-vive.

– Es hat sich – ein Chinese vorgefunden, meldete der Mann.

– Ein Chinese?

– Ja, ein leibhaftiger Chinese, den wir ganz zufällig unten im Raum entdeckt haben!

– Unten im Raum? rief Capitän Turcotte. Alle Teufel und Wetter, so werft ihn in's Wasser!

All right!« antwortete der Steuermann.

Und bei der tiefen Verachtung, welche jeder Californier gegenüber einem Sohne des Himmlischen Reiches empfinden muß, erschien dem ehrenwerthen Manne dieser Befehl so natürlich, daß er sich ohne Gewissensbisse sofort daran machte, ihn auszuführen.


»Wer bist Du?« fragte er. (S. 49.)
»Wer bist Du?« fragte er. (S. 49.)

[47] Inzwischen hatte Capitän Turcotte sich erhoben, verließ, gefolgt von Godfrey und dem zweiten Officier, den Salon des Hinterdecks und begab sich nach dem Vordertheil des »Dream«.

Wirklich, da wand sich ein von starken Armen gehaltener Chinese unter den Händen einiger Matrosen, die es ihm nicht an Püffen und Stößen fehlen ließen.


Man mußte den unglücklichen Lehrer sehen... (S. 53.)
Man mußte den unglücklichen Lehrer sehen... (S. 53.)


[48] Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig bis vierzig Jahren, mit intelligentem Gesicht, gut gewachsen und von behäbiger Physiognomie, obgleich sein Gesicht infolge eines schon sechzigstündigen Aufenthaltes in dem wenig gelüfteten Schiffsraum etwas blaß geworden war. Nur der Zufall hatte seine Entdeckung in dem dunklen Versteck herbeigeführt.

Der Capitän Turcotte bedeutete seinen Leuten durch ein Zeichen, den Mann loszulassen.

»Wer bist Du? fragte er.

– Ein Sohn der Sonne.[49]

– Und wie nennst Du Dich?

– Seng-Vou, antwortete der Chinese, dessen Name in seiner Sprache bedeutete: »Der nicht lebt«.

– Was machst Du hier an Bord?

– Ich fahre über See, antwortete Seng-Vou gelassen, aber so, daß ich Ihnen nur die geringste Beschwerde mache.

– In der That, mit der geringsten Beschwerde für uns!... Und Du hast Dich bei der Abfahrt im Raum versteckt?

– Wie Sie sagen, Capitän.

– Um Dich gratis von Amerika nach China, nach der anderen Seite des Stillen Oceans schaffen zu lassen?

– Wenn Sie es wollen, ja.

– Und wenn ich es nicht will, verschmitzte Gelbhaut, wenn ich dich ersuchte, von hier nach China zu schwimmen?

– So würde ich den Versuch machen, erwiderte der Chinese lächelnd, obgleich ich wahrscheinlich unterwegs untergehen würde.

– Wohlan, verdammter John1, rief Capitän Turcotte, ich werde Dich lehren, die Ueberfahrtskosten ersparen zu wollen!«.

Vielleicht mehr erzürnt, als die ganze Sache werth war, hätte Capitän Turcotte die angedrohte Execution wahrscheinlich ausführen lassen, als Godfrey sich einmischte.

»Capitän, sagte er, ein Chinese mehr an Bord des »Dream« bedeutet einen solchen weniger in Californien, wo es deren so wie so sehr viele giebt.

– Wo es deren zu viele giebt, verbesserte ihn Capitän Turcotte.

– Meinetwegen zu viele, meinte Godfrey. Nun wohl, da dieser arme Teufel den Entschluß gefaßt hat, San Francisco von seiner Gegenwart zu befreien, verdient er schon einiges Mitleid.... Was ist auch dabei? Wir werfen ihn beim Passiren der Küste von Shangaï hinaus, und dann ist von der ganzen Geschichte nicht mehr die Rede.«

Mit der Aeußerung, daß es zu viele Chinesen in Californien gäbe, führte Godfrey nur die Sprache jedes echten Sohnes dieses Staates. Unzweifelhaft ist die Auswanderung der Söhne des Himmlischen Reiches – es giebt deren dreihundert Millionen in China gegenüber dreißig Millionen Amerikanern in den[50] Vereinigten Staaten – zur wirklichen Gefahr für die Staaten des fernen Westens angewachsen. Die Gesetzgebung dieser Staaten, Californien, Nieder-Californien, Oregon, Nevada, Utah, ja der Congreß selbst, hat sich mit der Einwanderung dieser neuen Art von Volksseuche beschäftigt, der die Yankees den bezeichnenden Namen »die gelbe Pest« gegeben haben.

Jener Zeit zählte man 50.000 Kinder des Himmlischen Reiches allein in Californien. Diese Leute, welche in der Goldwäscherei besonders thätig, dabei sehr ausharrend sind, von einem Löffel Reis, einem Schluck Thee und einem Zuge Opiumrauch leben, veranlaßten zum Schaden der eingeborenen Arbeiter einen merkbaren Niedergang des Preises der Handarbeit. Man hatte sich schon – im Widerspruch mit der amerikanischen Verfassung – gezwungen gesehen, sie Ausnahmegesetzen zu unterstellen, welche ihre Einwanderung regeln sollten und ihnen das Recht absprachen, sich naturalisiren zu lassen, da man fürchtete, daß sie gar einmal die Majorität im Congreß erlangen könnten. Im Allgemeinen gleich den Indianern und Negern schlecht behandelt, wurden sie, wie um den Namen »Pestträger«, mit dem man sie belegte, zu rechtfertigen, meist in einer Art Ghetto zusammengepfercht, wo sie Sitten und Gebräuche des Himmlischen Reiches streng conserviren.

In der Hauptstadt von Californien sind sie durch das Drängen der anderen Racen in das Quartier der Sacramentostraße getrieben worden, welche von ihren merkwürdigen Fahnen und Laternen fast verstopft erscheint. Hier trifft man sie zu Tausenden in der weitärmeligen Blouse, der konischen Mütze und den nach vorn spitzig auslaufenden Schuhen. Hier leben sie meist als Gewürzkrämer oder Wäscher, wenn sie nicht als Köche dienen oder einer jener dramatischen Gruppen angehören, welche auf dem französischen Theater von San Francisco chinesische Stücke aufführen.

Seng-Vou – wir haben keinen Grund es zu verheimlichen – gehörte einer jener heterogenen Truppen an, in welcher er die Charge als erster Komiker bekleidete, wenn dieser europäische theatertechnische Ausdruck überhaupt auf einen chinesischen Künstler Anwendung finden kann. Diese sind nämlich, selbst wenn sie Scherze machen, so ernsthaft, daß der californische Romandichter Bret Harte sagen konnte, er habe nie einen chinesischen Schauspieler lachen sehen, ja er gesteht auch, niemals erkannt haben zu können, ob eines jener Theaterstücke, denen er mit beiwohnte, ein Trauerspiel oder eine gewöhnliche Posse gewesen sei.[51]

Kurz, Seng-Vou war ein Komiker. Reich an Erfolgen, vielleicht mehr als an baarem Gelde, hatte er nach Schluß der Saison sein Vaterland nicht erst als Leichnam wiedersehen wollen.2 So war er auf gut Glück in den unteren Raum des »Dream« eingeschlichen. Hoffte er, mit hinreichendem Mundvorrath versehen, diese Ueberfahrt von einigen Wochen incognito zu machen und sich nachher an irgend einem Punkt der chinesischen Küste ungesehen wegzustehlen?

Wahrscheinlich, wenigstens deutete Alles darauf hin.

Godfrey hatte gewiß recht daran gethan, zu Gunsten des Eindringlings zu interveniren, und Capitän Turcotte, der sich wohl erzürnter stellte, als er im Grunde war, verzichtete darauf, Seng-Vou über Bord werfen und sich in den Wogen des Stillen Oceans allein durchhelfen zu lassen.

Nach seinem Versteck im Raum kehrte Seng-Vou zwar nicht zurück, aber er belästigte deshalb an Bord doch so gut wie Niemand. Phlegmatisch steif und wenig mittheilsam, ging er den Matrosen, welche ihm stets etwas anzuhaben suchten, sorgfältig aus dem Wege und ernährte sich von seinen eigenen Vorräthen. Uebrigens war er so mager, daß sein hinzugekommenes Eigengewicht die Fahrtunkosten des »Dream« nicht merklich steigern konnte. Wenn Seng-Vou auch umsonst mitfuhr, so konnte seine Reise doch der Casse William W. Kolderup's nicht einen Cent Unkosten verursachen.

Seine Anwesenheit an Bord veranlaßte doch den Capitän Turcotte zu einer Reflexion, deren eigentlichen Sinn außer dem zweiten Officier gewiß Niemand begriff.

»Er wird uns, wenn's darauf ankommt, doch geniren, dieser verdammte Chinese!... Doch... desto schlimmer für ihn!

– Warum hat er sich betrügerischer Weise auf dem »Dream« eingeschifft! antwortete der zweite Officier.

– Um so billig nach Shangai zu gelangen!... Zum Kukuck mit John und allen Söhnen John's!«

Fußnoten

1 Ein Spitzname, den die Amerikaner den Chinesen beilegen.


2 Es ist unter den Chinesen Sitte, sich nur in ihrem Vaterlande begraben zu lassen, und es giebt besondere Schiffe, welche ausschließlich dem Leichentransporte dienen.


Quelle:
Jules Verne: Die Schule der Robinsons. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLI, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 52.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Schule der Robinsons
Die Schule der Robinsons / Von Rotterdam nach Kopenhagen
Jules Verne: Die Schule der Robinsons
Die Schule der Robinsons

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon