Erstes Capitel.
Zum Heil oder Verderben? – Ayrton herbeigerufen? – Das ist der Duncan nicht! – Ein verdächtiges Schiff. – Vorsichtsmaßregeln. – Annäherung des Fahrzeuges. – Ein Kanonenschuß. – Die Brigg ankert in Sicht der Insel. – Anbruch der Nacht.

[489] Zwei und ein halb Jahre waren vergangen, seitdem die verschlagenen Insassen des Ballons auf die Insel Lincoln geworfen wurden, und bis jetzt hatten sie noch niemals Gelegenheit gehabt, sich mit anderen Menschen in Verbindung zu setzen. Einmal versuchte es bekanntlich Gedeon Spilett, als er einem Vogel jene Notiz über das Geheimniß ihres Aufenthaltsortes anvertraute, doch schien es fast unmöglich, eine ernstere Hoffnung auf Erfolg darauf zu gründen. Nur Ayrton allein gesellte sich unter den erzählten Umständen zu den Mitgliedern der Colonie. – Und jetzt – am 17. October – erschienen plötzlich noch andere Menschen in Sicht der Insel auf dem verlassenen Oceane!

Kein Zweifel! – Ein Schiff war dort! Würde es aber auf offener See vorübersegeln oder hier an's Land gehen? Binnen wenigen Stunden mußten die Ansiedler hierüber Aufschluß haben.

Cyrus Smith und Harbert, die auch Gedeon Spilett, Pencroff und Nab eiligst herbeigerufen hatten, setzten diese von dem Vorfall in Kenntniß. Pencroff ergriff das Fernrohr, durchmusterte schnell den Horizont und rief, als er die bezeichnete Stelle, welche das unerkennbare Fleckchen auf dem[489] photographischen Negativ verursacht hatte, auffand, mit einem Tone, der wenig Befriedigung über das Gesehene verrieth:

»Tausend Teufel! Ja, das ist ein Schiff!

– Kommt es auf uns zu?

– Kann ich noch nicht bestimmen, erwiderte Pencroff; jetzt ragen nur die Masten über den Horizont, der Rumpf ist noch ganz unsichtbar.

– Was ist zu thun? fragte der junge Mann.

– Ruhig abzuwarten«, antwortete Cyrus Smith.

Lange Zeit sprachen die Colonisten kein Wort. Gedanken und Gemüthsbewegungen, Furcht und Hoffnung, Alles was sich an dieses unerwartete und seit ihrem Aufenthalte auf Lincoln unbestritten bedeutungsvollste Ereigniß knüpfte, fesselte ihre Zunge.

Gewiß befanden sich die Ansiedler nicht in der traurigen Lage von Schiffbrüchigen auf unfruchtbarer Insel, die einer stiefmütterlichen Natur ihr elendes Dasein abringen, und nur von der einen Sehnsucht erfüllt sind, bewohnte Länder wiederzusehen. Vorzüglich Pencroff und Nab, welche sich jetzt so reich und glücklich fühlten, hätten ihre Insel sicherlich nicht ohne tiefes Bedauern verlassen. Sie hatten sich in dieses Leben auf einem Stückchen Erde gefunden, das ihre einsichtige Thätigkeit so zu sagen schon civilisirt hatte! Und dennoch, das Schiff da draußen erschien ihnen wie ein Bote vom Festlande, vielleicht ein Stück von ihrem Vaterlande, dem sie hier begegneten. Es trug jedenfalls Ihresgleichen, sollte ihr Herz bei diesem Anblick nicht höher schlagen?

Von Zeit zu Zeit ergriff Pencroff wieder das Fernrohr und nahm am Fenster Platz. Mit größter Aufmerksamkeit betrachtete er das Schiff, welches noch gegen zwanzig Meilen im Osten entfernt sein mochte. Die Colonisten vermochten ihre Anwesenheit also noch auf keine Weise zu erkennen zu geben. Eine Flagge wäre nicht bemerkt, ein Signalschuß nicht gehört, ein Feuer jetzt nicht erkannt worden.

Auf keinen Fall konnte aber die vom Franklin-Berge hoch überragte Insel den Augen der Schiffswache entgangen sein. Was veranlaßte das Schiff jedoch hier zu landen? Lenkte es nur der blinde Zufall nach diesem Theile des Stillen Oceanes, in dem die Seekarten doch, außer der kleinen und abseits von den Schiffscursen gelegenen Insel Tabor, kein Land verzeichneten?[490]

Auf diese Frage, welche Allen vorschwebte, gab Harbert plötzlich eine Antwort.

»Sollte das nicht der Duncan sein?« rief er aus.

Der Duncan war, wie der Leser sich erinnert, die Yacht Lord Glenarvan's, der Ayrton einst auf dem Eiland aussetzte und einmal zu dessen Wiederaufnahme zurückkehren sollte. Das Eiland nun lag keineswegs so entfernt von der Insel Lincoln, daß ein dorthin segelndes Schiff nicht hätte in Sicht der letzteren vorüber kommen können. Nur hundertundfünfzig Meilen in der Länge und fünfundsiebenzig Meilen in der Breite trennten beide Punkte von einander.

»Wir werden Ayrton Nachricht geben, sagte Gedeon Spilett, und ihn unverzüglich hierher rufen müssen. Er allein vermag uns bald zu sagen, ob das der Duncan ist.«

Alle theilten diese Ansicht, der Ingenieur begab sich nach dem Telegraphen-Apparate, der das Granithaus mit der Wohnung neben der Hürde verband, und ließ folgendes Telegramm ab:

»Sofort hierher kommen!«

Wenige Augenblicke nachher schlug die Weckerglocke wieder an.

»Ich komme«, lautete Ayrtons Antwort.

Die Colonisten setzten inzwischen die Beobachtung des Schiffes fort.

»Wenn es der Duncan ist, begann Harbert, so muß ihn Ayrton leicht erkennen, da er sich eine Zeit lang darauf befunden hat.

– Und wenn er ihn wieder erkennt, fügte Pencroff hinzu, so mag er wohl etwas Herzklopfen bekommen.

– Gewiß, antwortete Cyrus Smith, doch jetzt ist Ayrton würdig, an Bord des Duncan zurückzukehren, und gebe der Himmel, daß jenes die Yacht Lord Glenarvan's sei, denn jedes andere Schiff flößt mir unwillkürlich einen beängstigenden Verdacht ein! Diese Meere werden nicht viel befahren, und immer fürchte ich noch den Besuch irgend welcher malayischen Seeräuber auf unserer Insel.

– O, wir vertheidigen sie! rief Harbert muthig.

– Gewiß, mein Kind, erwiderte lächelnd der Ingenieur, besser ist's aber doch, das nicht nöthig zu haben.

– Erlauben Sie, fiel da Gedeon Spilett ein. Die Insel ist den Seefahrern noch unbekannt, da sie sich selbst auf den neuesten Karten nicht[491] verzeichnet findet. Sollte das nun für ein Schiff, das sie zufällig zu Gesicht bekam, nicht vielmehr ein Grund sein, auf jene zuzusteuern, als ihr aus dem Wege zu gehen?

– Ganz richtig, bestätigte Pencroff.

– Ich bin derselben Meinung, fügte der Ingenieur hinzu. Ja, die Pflicht eines Kapitäns erfordert es, jedes unbekannte und noch nicht eingetragene Land anzulaufen und aufzunehmen; in dieser Lage befindet sich gerade unsere Insel.

– Nehmen wir einmal an, fragte Pencroff, jenes Schiff näherte sich der Küste und ginge da, einige Kabellängen von uns, vor Anker, was würden wir wohl thun?«

Diese so nackt hingestellte Frage erhielt nicht sogleich eine Antwort. Nach einigem Ueberlegen äußerte sich Cyrus Smith mit gewohntem ruhigen Tone darüber.

»Was wir thun würden, meine Freunde, sagte er, und thun müßten, wäre Folgendes: Wir setzen uns mit dem Fahrzeug in Verbindung, schiffen uns auf ihm ein und verlassen also unsere Insel, doch erst nach officieller Besitznahme derselben für die Vereinigten Staaten. Später kehren wir mit allen Denen hierher zurück, die sich zu dem Zwecke uns anschließen wollen, dieselbe dauernd zu besiedeln und der großen Republik eine vortheilhafte Station in diesem Theile des Pacifischen Oceanes zu gründen und anzubieten.

– Hurrah! rief Pencroff; es wird kein zu kleines Geschenk sein, das wir unserem Vaterlande damit machen! Schon ist ja ihre Colonisation fast vollendet; alle Theile der Insel sind getauft, sie hat einen natürlichen Hafen, einen bequemen Wasserplatz, Straßen, eine Telegraphenlinie, eine Werft und eine Werkstatt – nur der Name der Insel Lincoln braucht noch auf den Seekarten nachgetragen zu werden.

– Doch wenn sie während unserer Abwesenheit ein Anderer in Besitz nähme? warf Gedeon Spilett ein.

– Tausend Teufel! wetterte Pencroff, da blieb ich lieber allein als Wache zurück, und auf mein Wort, mir soll sie keiner stehlen, wie die Uhr aus der Tasche eines Tölpels!«

Eine Stunde über blieb es unmöglich, mit Gewißheit zu sagen, ob das signalisirte Schiff auf die Insel Lincoln zusteuere oder nicht. Es hatte sich[492] jetzt zwar der Insel genähert, doch welchen Curs hielt es im Grunde ein? Pencroff vermochte das noch nicht zu erkennen. Da der Wind aus Nordosten kam, war es jedenfalls anzunehmen, daß das Schiff unter Steuerbordhalfen segle. Zudem begünstigte die Brise ein Anlaufen der Insel, der es sich bei der ruhigen See furchtlos nähern konnte, obwohl die Karten Sondirungen des umgebenden Wassers nicht verzeichneten.

Gegen vier Uhr, eine Stunde nachdem er herbei gerufen worden war, kam Ayrton im Granithause an, und trat in den Hauptsaal mit den Worten ein:

»Zu Ihrem Befehle, meine Herren.«

Cyrus Smith streckte ihm, wie er das immer zu thun pflegte, die Hand entgegen und führte ihn nach dem Fenster.

»Ayrton, begann er, wir haben Sie eines sehr gewichtigen Grundes wegen hierher kommen lassen. Ein Fahrzeug ist in Sicht der Insel.«

Zuerst lief eine leichte Blässe über Ayrton's Wangen, und seine Augen verschleierten sich einen Augenblick. Dann lehnte er sich zum Fenster hinaus, durchlief den Horizont mit den Augen, doch er sah nichts.

»Nehmen Sie dieses Fernrohr, sagte Gedeon Spilett, und sehen aufmerksam dorthin, denn es könnte doch möglich sein, jenes wäre der Duncan, der jetzt zurückkehrte, Sie heimzuführen.

– Der Duncan! murmelte Ayrton. Schon?!«

Das letzte Wörtchen entschlüpfte seinen Lippen mehr unwillkürlich, und vor Erregung barg er den Kopf in seinen Händen.

Zwölf Jahre Verbannung auf einer verlassenen Insel schien ihm der Buße noch nicht genug? Der reuige Sünder fühlte sich, weder in seinen, noch in Anderer Augen, noch immer nicht begnadigt?

»Nein! sagte er, nein! Das ist unmöglich der Duncan.

– Ueberzeugen Sie sich genau, Ayrton, bat der Ingenieur, uns liegt sehr viel daran, bei Zeiten zu wissen, woran wir sind.«

Ayrton nahm das Fernglas noch einmal und richtete es nach dem betreffenden Punkte. Einige Minuten lang beobachtete er den Horizont, ohne die Lippen zu bewegen und eine Silbe laut werden zu lassen. Dann sagte er:

»Ein Schiff ist es wohl, doch für den Duncan kann ich es nicht halten.

– Und weshalb nicht? fragte Gedeon Spilett.[493]

– Weil der Duncan eine Dampfyacht ist und ich keine Spur von Rauch weder über noch neben dem Fahrzeuge sehe.

– Vielleicht benutzt er jetzt nur die Segel, wandte Pencroff ein. Der Wind ist der Richtung, welcher er zu folgen scheint, günstig, auch dürfte es ihm geboten erscheinen, bei dieser ungeheuren Entfernung von jedem Festlande seine Kohlen sorgsam zu sparen.

– Sie könnten möglicher Weise Recht haben, Pencroff, antwortete Ayrton; vielleicht hat man auf dem Schiffe die Kesselfeuer gelöscht. Lassen wir es sich der Küste etwas weiter nähern, so werden wir wissen, woran wir sind.«

Nach diesen Worten setzte sich Ayrton schweigend in einer Ecke des Saales nieder. Die Ansiedler tauschten ihre Meinungen über das unbekannte Schiff auch noch ferner aus, doch Ayrton nahm an dem Gespräche nicht mehr Theil.

Alle befanden sich jetzt in einer Gemüthsverfassung, die ihnen jede andere Beschäftigung einfach zur Unmöglichkeit machte. Gedeon Spilett und Pencroff schienen vorzüglich erregt, gingen ab und zu und fanden an keiner Stelle Ruhe. Bei Harbert überwog das Gefühl der neugierigen Erwartung. Nab allein bewahrte seine gewohnte Ruhe. War seine Heimat nicht da, wo sich sein Herr befand? Der Ingenieur selbst blieb in Gedanken vertieft, und fürchtete die Ankunft jenes Schiffes mehr, als er sie herbei wünschte.

Inzwischen hatte sich Letzteres der Insel ein wenig genähert. Mit bewaffnetem Auge erkannte man nun bestimmt, daß es ein größeres Seeschiff und nicht eine jener malayischen Praos war, deren sich die Seeräuber des Stillen Oceanes im Allgemeinen bedienen. Noch konnte man also hoffen, daß die Befürchtung des Ingenieurs sich nicht erfüllen und die Anwesenheit dieses Fahrzeugs im Gewässer der Insel Lincoln dieser keine Gefahr bringen werde. Pencroff bemerkte nach genauer Beobachtung, daß jenes Briggtakelage führe und unter Steuerbordhalfen, den unteren, den Mars- und den Bramsegeln in schiefer Richtung auf die Küste zulaufe, was Ayrton vollkommen bestätigte.

Bei Einhaltung dieses Curses mußte es jedoch bald hinter den Ausläufern des Krallen-Caps verschwinden, denn es segelte nach Südwest, und um es mit den Augen verfolgen zu können, hätte man sich nach den Anhöhen hinter der Washington-Bai neben dem Ballonhafen begeben müssen. Unglücklicher[494] Weise war es schon gegen fünf Uhr Abends, und die Dämmerung mußte bald jede Beobachtung vereiteln.

»Was sollen wir thun, wenn die Nacht kommt? fragte Gedeon Spilett; ein Feuer anzünden, um unsere Anwesenheit kund zu geben?«

Es war das eine ernste Frage, welche indeß, trotz der bösen Ahnungen des Ingenieurs, in bejahendem Sinne entschieden wurde. Während der Nacht konnte das Schiff verschwinden, weiter segeln auf Nimmerwiederkehr, und war diese Gelegenheit vorüber, würde sich jemals ein anderes in die Nähe der unbekannten Insel verirren? Und wer konnte vorhersagen, was den Colonisten noch in der Zukunft bevorstand?

»Ja wohl, sagte der Reporter, wir müssen jenem Schiffe, es sei nun welches es wolle, zeigen, daß die Insel bewohnt ist. Die Aussicht, die sich jetzt uns bietet, unbenutzt lassen, hieße uns künftig manche Selbstvorwürfe zuziehen!«

Es wurde also beschlossen, durch Nab und Pencroff bei einbrechender Dunkelheit auf einem höheren Punkte neben dem Ballonhafen ein weitleuchtendes Feuer entzünden zu lassen, das die Aufmerksamkeit der Besatzung jener Brigg nothwendig erregen mußte.

Gerade als Nab und der Seemann aber das Granithaus verlassen wollten, wechselte das Schiff die Halsen und fuhr nun direct nach der Insel in der Richtung auf die Unions-Bai zu. Sie lief gut, jene Brigg, denn sie kam jetzt sichtlich näher.

Nab und Pencroff ließen von ihrem Vorhaben ab, und Ayrton erhielt das Fernrohr wieder, um nun endgiltig entscheiden zu können, ob das heransegelnde Fahrzeug der Duncan sei oder nicht. Auch die schottische Yacht führte das Takelwerk einer Brigg. Es handelte sich also vorzüglich darum, zu erkennen, ob sich zwischen den beiden Masten des Schiffes, das jetzt nur noch zehn Meilen entfernt war, wohl ein Rauchfang erhöbe.


 » ... Für den Duncan kann ich es nicht halten.« (S. 493.)
» ... Für den Duncan kann ich es nicht halten.« (S. 493.)

Der sehr reine Horizont erleichterte diese Beobachtung, und bald ließ Ayrton das Rohr wieder sinken mit den Worten:

»Der Duncan ist es nicht! – Er konnte es nicht sein! ...

Pencroff brachte das Schiff noch einmal in das Gesichtsfeld des Fernglases, und erkannte, daß diese Brigg von drei- bis vierhundert Tonnen bei ihrer wunderbaren Schlankheit, ihren kühn aufstrebenden Masten und günstigen[495] Schwimmlinien ein guter Schnellsegler sein müsse. Welcher Nationalität er angehöre, war bis jetzt freilich schwer zu sagen.

»Doch flattert eine Flagge an der Mastspitze, erklärte der Seemann, nur bin ich nicht im Stande, deren Farben zu unterscheiden.

– Vor Ablauf einer Stunde werden wir darüber Gewißheit haben, sagte der Reporter. Uebrigens deutet Alles darauf hin, daß der Kapitän an's Land zu gehen beabsichtigt, und folglich machen wir, wenn nicht heute, so doch spätestens morgen seine nähere Bekanntschaft.[496]

– Zugegeben, entgegnete Pencroff Besser ist's aber doch, zu wissen, mit wem man zu thun hat, und ich wünschte recht sehr, die Farben des Unbekannten dort zu erkennen.«

Des Seemanns Auge verließ das Fernrohr keinen Augenblick.

Schon begann der Tag zu sinken, und allmälig legte sich die Brise. Die Flagge der Brigg hing schlaffer herab, und ihre Faltung machte ein Erkennen noch schwieriger.


 »Eine schwarze Flagge ist es!« (S. 498.)
»Eine schwarze Flagge ist es!« (S. 498.)

»Die amerikanische Flagge ist das nicht, murmelte Pencroff in kurz[497] abgebrochenen Sätzen, die englische, deren Roth zu gut in die Augen fällt, auch nicht, weder sind es die deutschen Farben, noch die französischen, weder die weiße Flagge Rußlands, noch die gelbe Spaniens ... Man könnte jene für ganz einfarbig halten ... Nun ... welcher begegnet man hier wohl am meisten? ... Der Flagge Chiles? ... diese ist dreifarbig ... Der Brasiliens? ... diese sieht aber grün aus ... Der japanischen? ... Sie ist schwarz und gelb ... aber diese hier ...«

Eben jetzt entfaltete ein kräftigerer Windstoß das unerkennbare Flaggentuch. Ayrton ergriff das Fernglas, welches der Seemann aus der Hand gelegt hatte, stellte es scharf für sein Auge ein und sagte erschrocken:

»Eine schwarze Flagge ist es!«

Wirklich flatterte außer dieser auch ein schwarzer Wimpel an der Mastspitze und verstärkte die Annahme der Colonisten, ein verdächtiges Fahrzeug vor sich zu haben.

Sollten des Ingenieurs Ahnungen jetzt wirklich in Erfüllung gehen? War jene Brigg ein Piratenschiff? Machte es diese Gegenden des Stillen Oceanes im Wettstreit mit den gefürchteten Malayen unsicher? Was konnte es an der Küste der Insel Lincoln suchen? Sah es in ihr ein unbekanntes Stück Erde, das zur Bergung gestohlenen Gutes wie geschaffen sein mußte? Wollte es für die schlechte Jahreszeit hier nur eine Zuflucht finden? War das Gebiet der Colonisten bestimmt, sich in ein Versteck ehrloser Verbrecher umzuwandeln, – in eine Art Piratenhauptpunkt des Pacifischen Oceans?

Alle diese Gedanken drängten sich den Ansiedlern auf. Ueber die Bedeutung der aufgepflanzten Fahne konnte ja kein Zweifel obwalten – dieses Seeräuberzeichen, das auch der Duncan tragen sollte, wenn die Sträflinge ihre Absicht hätten ausführen können.

Man verlor jetzt keine Zeit im langen Hin- und Herreden.

»Meine Freunde, sagte Cyrus Smith, vielleicht beabsichtigt jenes Schiff zuletzt doch nur, die Küsten der Insel näher zu untersuchen, und geht die Besatzung gar nicht an's Land. Das wäre der erwünschteste Fall. Doch, wie dem auch sei, wir müssen Alles thun, unsere Anwesenheit hier zu verbergen. Die Windmühle auf dem Plateau ist ein zu leicht erkennbares Zeichen, darum mögen Ayrton und Nab schnell die Flügel derselben abnehmen. Auch die Fenster unseres Granithauses wollen wir dichter unter Zweigen[498] verbergen und jedes Feuer löschen, damit nichts das Vorhandensein von Menschen auf der Insel verrathe.

– Und unser Kutter? fragte Harbert.

– O, der liegt im Ballonhafen geborgen, antwortete Pencroff; ich glaube niemals, daß ihn jene Schurken finden!«

Des Ingenieurs Anordnungen wurden sogleich vollzogen. Nab und Ayrton begaben sich nach dem Plateau und trafen Anstalt, jedes das Bewohntsein der Insel verrathende Zeichen zu entfernen oder zu verbergen. Während sie hiermit beschäftigt waren, holten ihre Genossen aus dem nahen Jacamarwalde eine große Menge Zweige und Schlingpflanzen, welche die Oeffnungen in der Mauer des Granithauses durch natürliches Grün verstecken sollten. Gleichzeitig legte man sich aber Waffen und Munition zurecht, um im Fall eines unerwarteten Angriffs Alles bei der Hand zu haben.

Nach Vollendung aller Vorsichtsmaßregeln sagte Cyrus Smith mit tief bewegter Stimme:

»Meine Freunde, wenn jene Elenden sich der Insel Lincoln sollten bemächtigen wollen, so vertheidigen wir sie, nicht wahr?

– Ja, Cyrus, erwiderte der Reporter, und wenn es sein muß, sterben wir dafür!«

Der Ingenieur streckte seinen Genossen die Hände entgegen, welche diese mit freudiger Zustimmung drückten.

Ayrton allein war in seiner Ecke geblieben und schloß sich dieser Kundgebung nicht an. Vielleicht fühlte er, der frühere Verbrecher, sich noch immer nicht würdig dazu.

Cyrus Smith sah ein, was in Ayrton's Seele vorgehen mochte, und wendete sich jetzt direct an Jenen.

»Nun, und Sie, Ayrton, fragte er, was gedenken Sie zu thun?

– Meine Pflicht!« antwortete Ayrton.

Dann erhob er sich, ging wieder nach dem Fenster, und seine Blicke suchten die grüne Schutzwand zu durchdringen.

Es war jetzt sieben ein halb Uhr und die Sonne seit etwa zwanzig Minuten hinter dem Granithause untergegangen, so daß der östliche Horizont sich schon langsam in Dunkel hüllte. Dennoch segelte die Brigg unaufgehalten gegen die Unions-Bai weiter heran. Jetzt befand sie sich in einer Entfernung[499] von ungefähr acht Meilen dem Plateau der Freien Umschau gerade gegenüber, denn nachdem sie in der Höhe des Krallen-Caps beigedreht hatte, lief sie mit Unterstützung der steigenden Fluth sehr schnell nach Norden zu. Bei dieser Entfernung konnte man sogar sagen, daß sie schon in die ausgedehnte Bai eingelaufen sei, denn eine vom Krallen- nach dem Kiefern-Cap gelegte gerade Linie wäre östlich auf Steuerbordseite derselben vorüber gegangen.

Würde die Brigg noch tiefer in die Bai einfahren? Das war die erste Frage. Würde sie darin Anker werfen? Das war die zweite. Würde sie sich damit begnügen, das Ufer näher zu beobachten und keine Mannschaften an's Land setzen? Das mußte man vor Ablauf einer Stunde erfahren. Die Colonisten mußten die weitere Entwickelung eben abwarten.

Nicht ohne ernstere Aengstlichkeit hatte Cyrus Smith die schwarze Flagge an dem verdächtigen Fahrzeuge aufgezogen gesehen. War das nicht eine ausgesprochene Bedrohung des Werkes, das er mit seinen Genossen bis jetzt so erfreulich gefördert hatte? Sollten die Seeräuber – denn für etwas Anderes konnte man die Besatzung jener Brigg nicht halten – diese Insel schon früher besucht haben, da sie bei Annäherung an das Land ihre Farbe zeigten? Waren sie hier schon vordem einmal angelaufen, was gewisse bis jetzt unerforscht gebliebene Eigenthümlichkeiten erklärt hätte? Lebte in den bis jetzt noch nicht untersuchten Theilen vielleicht ein Genosse derselben, der mit ihnen in Verbindung stand?

All' diese Fragen, welche Cyrus Smith sich aufdrängten, konnte er vorläufig nicht beantworten, doch er fühlte mit Bestimmtheit, daß die Lage der Colonie durch das Erscheinen der Brigg sehr ernstlich gefährdet sei.

Auf jeden Fall waren er und seine Genossen zum äußersten Widerstande entschlossen. Uebertrafen die Piraten wohl an Anzahl die Colonisten und hatten sie bessere Waffen als diese? – Das hätte man gerne gewußt, doch wie sollte man dazu gelangen?

Es wurde inzwischen völlig Nacht. Die schmale Mondsichel war im letzten Dämmerlichte schon verschwunden. Tiefe Finsterniß umfing das Meer und die Insel. Schwere, rings um den Horizont gelagerte Wolken ließen keinen Lichtschimmer durchdringen. Auch der Wind hatte sich schon mit Eintritt der Dämmerung gelegt. Kein Blättchen regte sich an den Bäumen, keine Welle murmelte am Strande. Von dem Schiffe sah man nichts; alle[500] Lichter desselben waren gelöscht oder verdeckt, und wenn es überhaupt noch in Sicht der Insel schwamm, so konnte man seine jetzige Stelle doch unmöglich bezeichnen.

»Ha, wer weiß, äußerte sich der Seemann, vielleicht ist das verdammte Schiff davon gesegelt und wir sehen mit Tagesanbruch keine Spur mehr von ihm wieder?«

Da blitzte, wie als Antwort auf Pencroff's Bemerkung, ein greller Lichtschein im Dunkel auf und hallte der Donner einer Kanone durch die Luft. Das Fahrzeug war also noch in der Nähe und führte Geschütze an Bord. Sechs Secunden waren zwischen dem Blitz und dem Donner verflossen. Die Brigg befand sich also etwa eine Meile von der Insel.

Zu gleicher Zeit hörte man das Klirren von Ketten, welche rasselnd durch die Klüsen liefen.

Das Schiff hatte in Sicht des Granithauses Anker geworfen!

Quelle:
Jules Verne: Die geheimnisvolle Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIV–XVI, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 489-501.
Lizenz:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon