[501] Ueber die Absichten der Piraten konnte ein weiterer Zweifel nicht bestehen. Dicht bei der Insel hatten sie Anker geworfen, und es lag auf der Hand, daß sie am nächsten Tage mittels ihrer Canots an's Ufer gehen würden.
So bereit und entschlossen zum Handeln Cyrus Smith und seine Genossen auch waren, so durften sie eine gewisse Klugheit doch nicht aus den Augen setzen. Vielleicht konnte ihre Anwesenheit überhaupt verborgen bleiben, für den Fall, daß die Seeräuber sich begnügten, nur an's Land zu gehen und nicht in's Innere von Lincoln einzudringen. Wirklich war ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß sie keinen anderen Zweck verfolgten, als an der Mercy-Mündung Wasser einzunehmen, und dabei konnten die ein und eine[501] halbe Meile von der Mündung über den Fluß geschlagene Brücke und die Werkstätte in den Kaminen ihren Blicken recht wohl entgehen.
Warum hißten sie aber jene Flagge an der Mastspitze der Brigg? Weshalb lösten sie einen Kanonenschuß? Gewiß einfacher Firlefanz, wenn er nicht die Bedeutung einer Besitznahme der Insel haben sollte! Cyrus Smith wußte nun, daß das Fahrzeug furchtbare Waffen führte. Und was hatten die Ansiedler, um den Kanonen der Piraten zu antworten? – Nichts als einige Flinten!
»Jedenfalls, bemerkte Cyrus Smith, befinden wir uns hier in uneinnehmbarer Stellung. Der Feind wird die frühere Abflußöffnung, jetzt, wo sie von Blüthen und Gräsern verdeckt ist, nicht auffinden, und folglich auch nicht in das Granithaus eindringen können.
– Aber unsere Anpflanzungen, unser Hühnerhof, die Viehhürde, Alles, Alles! rief Pencroff, mit dem Fuße stampfend. Sie können Alles verwüsten, Alles in wenig Stunden zerstören!
– Alles, Pencroff, antwortete Cyrus Smith, und wir besitzen kein Mittel, sie daran zu hindern.
– Sind ihrer Viele? – Das ist die Frage, sagte der Reporter. Wenn sie nur Zwölf sind, werden wir mit ihnen fertig, aber Vierzig, Fünfzig, vielleicht noch mehr! ...
– Herr Smith, begann da Ayrton, der auf den Ingenieur zutrat, würden Sie mir eine Erlaubniß ertheilen?
– Welche, mein Freund?
– Mich nach dem Schiffe zu begeben und die Stärke der Mannschaft zu erforschen?
– Aber, Ayrton, erwiderte der Ingenieur, Sie riskiren Ihr Leben ...
– Warum sollte ich nicht?
– Das ist mehr als Ihre Pflicht.
– Ich habe auch mehr zu leisten, als meine Pflicht, antwortete Ayrton.
– Sie wollten mit der Pirogue bis zum Schiffe rudern? fragte Gedeon Spilett.
– Nein, mein Herr, ich will dahin schwimmen; die Pirogue würde da nicht hindurch kommen, wo es einem Schwimmer noch möglich ist.
– Haben Sie auch bedacht, daß die Brigg mehr als eine Meile vom Ufer liegt?[502]
– Ich bin ein guter Schwimmer, Herr Harbert.
– ich wiederhole Ihnen aber, Sie setzen Ihr Leben auf's Spiel, meinte der Ingenieur.
– Das thut nichts, antwortete Ayrton. Herr Smith, ich verlange das als eine Gnade von Ihnen. Vielleicht erringe ich mir dadurch wieder einige Achtung vor mir selbst!
– So gehen Sie mit Gott, Ayrton, erwiderte Cyrus Smith, der recht wohl fühlte, daß eine Verweigerung dieser Erlaubniß den früheren Verbrecher, der wieder zum ehrlichen Menschen geworden war, tief betrüben müßte.
– Ich begleite Sie, rief Pencroff.
– Sie mißtrauen mir also! sagte Ayrton verletzt und schnell, doch bald rang sich ein schmerzlicher Seufzer aus seinem Busen los.
– Nein! Nein! rief wie zum Troste Cyrus Smith, nein, Ayrton, Pencroff mißtraut Ihnen nicht! Sie haben seine Worte falsch gedeutet!
– Wirklich, erklärte der Seemann, ich wollte Ayrton damit nur vorschlagen, ihn bis zum Eilande zu begleiten. Wenn es auch nicht gerade wahrscheinlich ist, so könnte sich doch Einer jener Spitzbuben nach dem Eilande begeben haben, und dann möchten zwei Mann wohl nicht zuviel sein, ihn zu verhindern, ein Signal zu geben. Ich will Ayrton nur auf dem Eilande erwarten, und er mag, da er es nun einmal so will, allein nach dem Schiffe zu gelangen suchen.«
Nach derartiger Erledigung dieses kleinen Zwischenfalles traf Ayrton die nothwendigsten Vorbereitungen. Sein Project war kühn, doch konnte es, begünstigt durch die Dunkelheit der Nacht, wohl gelingen. Erreichte er nur das Fahrzeug, so vermochte Ayrton, wenn er sich an die Knie unter den Krahnbalken anklammerte, oder in die Putern kletterte, sich über die Anzahl und vielleicht auch über die Absichten der Seeräuber zu unterrichten.
Gefolgt von ihren Genossen begaben sich Ayrton und Pencroff nach dem Strande hinab. Ayrton warf die Kleider ab und bestrich sich mit Fett, um weniger von der Kälte des Wassers zu leiden. Er mußte ja dar auf gefaßt sein, vielleicht mehrere Stunden in demselben auszuhalten.
Pencroff und Nab hatten inzwischen die Pirogue herzugeholt, welche einige hundert Schritte weiter oben, am Ufer der Mercy, angebunden lag, und als sie mit ihr anlangten, war Ayrton bereit abzufahren.
Um Ayrtons Schultern warf man eine Decke, und[503] die Colonisten drückten ihm glückwünschend die Hand.
Pencroff und Ayrton schifften sich auf dem Boote ein
Es war zehn und einhalb Uhr Abends, als Beide in der Dunkelheit verschwanden; ihre Genossen wollten deren Rückkehr in den Kaminen erwarten.
Leicht überschifften Jene den Canal und landeten an dem gegenüberliegenden Ufer des Eilandes. Auch hierbei gingen sie schon mit aller Vorsicht[504] zu Werke, im Fall sich die Piraten in der Nähe umhertrieben. Dem Anscheine nach erwies sich das Eiland aber verlassen. Ayrton überschritt es, von Pencroff gefolgt, eiligst, wobei ganze Mengen der in Felsenlöchern nistenden Vögel aufgescheucht wurden; dann stürzte er sich ins Meer und schwamm geräuschlos auf das Schiff zu, zu dem einige kurz vorher angezündete Lichter ihm den Weg wiesen.
Pencroff verbarg sich in einer Höhle am Ufer und erwartete die Rückkehr seines Gefährten.[505]
Inzwischen theilten Ayrton's kräftige Arme die Wellen und glitt er über die Wasserfläche, fast ohne eine Bewegung in derselben zu veranlassen. Kaum ragte sein Kopf daraus hervor, während seine Augen scharf nach der dunkeln Masse der Brigg gerichtet waren, deren Feuer sich auf dem Meere spiegelten. Nur an die Pflicht, welche zu erfüllen er auf sich genommen hatte, dachte er, nicht an die Gefahren, die ihm nicht allein an Bord des Schiffes, sondern auch durch die in dieser Gegend häufig vorkommenden Haifische drohten. Die Strömung unterstützte ihn, und schnell entfernte er sich von der Küste.
Eine halbe Stunde später erreichte Ayrton, ohne gesehen oder gehört worden zu sein, das Schiff, und schwang sich an den Kniebalken unter dem Bugspriet hinaus. Er schöpfte ein wenig Athem, klomm an den Ketten in die Höhe und gelangte so nach der vordersten Spitze des Schiffes. Dort hingen einige Matrosenkleider zum Trocknen. Er schlüpfte in ein Paar Beinkleider. Dann horchte er gespannt.
Am Bord der Brigg schlief man noch nicht. Im Gegentheil, man sprach, sang und lachte laut. Ayrton vernahm folgende von den gewohnten Flüchen begleitete Worte:
»Ein guter Fang, unser Schiff da!
– Er segelt gut, der Speedy1; er verdient seinen Namen.
– Die ganze Flotte aus Norfolk mag hinter ihm her sein, sie holt ihn nicht ein!
– Hurrah, seinem Commandanten!
– Hurrah, Bob Harvey!«
Die Gefühle Ayrton's, als dieses Gespräch an sein Ohr drang, wird man verstehen, wenn man erfährt, daß er in diesem Bob Harvey einen seiner alten Raubgenossen aus Australien wieder erkannte, einen kühnen Seemann, der seine eigenen räuberischen Absichten aufgenommen und weiter geführt hatte. Bob Harvey hatte sich bei der Insel Norfolk dieser Brigg, als sie, mit Waffen, Munition, Geräthen und Werkzeugen aller Art beladen, zur Abfahrt nach einer der Sandwichs-Inseln bereit lag, bemächtigt. Seine ganze Bande hatte das Schiff überrumpelt, und jetzt als Piraten, wie früher als Verbrecher auf dem Lande, kreuzten diese Elenden durch den Pacifischen[506] Ocean, zerstörten die Schiffe, massacrirten die Besatzungen und übertrafen noch die Malayen an Wildheit.
Die Schurken sprachen ganz laut, rühmten sich ihrer Heldenthaten und tranken im Uebermaß. Ayrton vermochte im weiteren Verlaufe noch Folgendes zu verstehen:
Die Besatzung des Speedy bestand durchweg nur aus englischen Gefangenen, welche aus Norfolk entflohen waren.
Unter 29°2' südlicher Breite und 165°42' östlicher Länge liegt im Osten Australiens eine kleine Insel von sechs Meilen Umfang, die der Mont-Pitt in einer Höhe von 1100 Fuß über dem Meere beherrscht. Das ist die Insel Norfolk, welche ein Etablissement enthält, in dem die unverbesserlichsten der englischen Sträflinge detinirt sind. Dort befinden sich unter eiserner Disciplin, von den härtesten Strafen bedroht und von fünfhundert Soldaten und gegen hundertundfünfzig Beamten unter einem Gouverneur bewacht, etwa fünfhundert solcher Bösewichte. Unmöglich kann man eine schlimmere Gesellschaft von Verbrechern zusammenfinden. Manchmal – wenn auch nur sehr selten – gelingt es trotz der scharfen Wache einigen derselben auszubrechen, indem sie sich eines beliebigen Schiffes bemächtigen und mit demselben nach den polynesischen Archipelen entweichen.
So hatten es auch Bob Harvey und seine Mitschuldigen gemacht. Dasselbe hatte Ayrton früher in Absicht gehabt. Bob Harvey hatte die Brigg Speedy zu überrumpeln gewußt, als sie vor Norfolk ankerte; die Besatzung war niedergemetzelt worden, und seit einem Jahre schon kreuzte das zum Piratenschiffe gewordene Fahrzeug auf den Fluthen des Stillen Oceanes unter dem Commando Bob Harvey's, der, ehemals Kapitän eines Ostindienfahrers, jetzt zum Seeräuber geworden war, und den Ayrton sehr gut kannte.
Der größte Theil der Deportirten befand sich auf dem Oberdeck im Hintertheil des Schiffes versammelt, einige aber plauderten da und dort auf dem Verdeck ziemlich laut.
Das Gespräch, welches immer unter Geschrei und Zurufen geführt wurde, belehrte Ayrton, daß nur der Zufall den Speedy nach der Insel Lincoln verschlagen habe. Noch niemals hatte Bob Harvey den Fuß darauf gesetzt; da er aber ein noch unbekanntes Land auf seinem Wege fand, hatte er, ganz wie Cyrus Smith es geahnt, der Insel, deren Lage noch keine Karte verzeichnete,[507] einen Besuch machen und sie im passenden Falle zum Versteckhafen der Brigg erwählen wollen.
Die an der Mastspitze gehißte schwarze Flagge und der nach Art der Kriegsschiffe, wenn sie sich einem Hafen nähern, abgegebene Kanonenschuß lief nur auf eine reine Albernheit der Seeräuber hinaus. Jedenfalls kam beiden die Bedeutung eines Signals nicht zu, und bis jetzt bestand keinerlei Verbindung zwischen der Insel Lincoln und den Flüchtlingen aus Norfolk.
Dem Gebiete der Ansiedler drohte also eine sehr ernsthafte Gefahr. Offenbar mußte die Insel bei ihrem Wasserreichthume, ihren kleinen Häfen, ihren von den Ansiedlern schon so rührig entwickelten Hilfsquellen und den verborgenen Höhlungen im Granithause auch den Verbrechern ausnehmend passen; in ihren Händen wäre sie zum herrlichsten Versteck geworden, und gerade ihre Unbekanntheit gewährleistete ihnen für längere Zeit eine straflose Sicherheit. Es lag auf der Hand, daß auch das Leben der Colonisten keine Schonung gefunden hätte, und daß es Bob Harvey's und seiner Genossen erste Sorge gewesen wäre, Jene ohne Gnade niederzumetzeln. Cyrus Smith und die Seinen konnten sich nicht einmal durch die Flucht retten und sich im Innern der Insel verbergen, da die Verbrecher sich hier festsetzen zu wollen schienen, und selbst für den Fall, daß der Speedy auf Raub auslief, doch jedenfalls einige Mann von der Besatzung zurückgeblieben wären, um sich hier einzurichten. Man mußte sich also wohl oder übel zum Kampfe und zur Vernichtung dieser Elenden bis auf den letzten Mann entschließen, dieser Schurken, welche kein Mitleid verdienten und denen gegenüber jedes Mittel erlaubt erschien.
Das waren etwa Ayrton's Gedanken, von denen er fühlte, daß Cyrus Smith sie gewiß theilen werde.
War aber ein Widerstand und zuletzt ein Sieg überhaupt wahrscheinlich? Das hing von der Bewaffnung der Brigg und der Anzahl Menschen ab, welche sie trug.
Ayrton beschloß, sich hierüber um jeden Preis Aufklärung zu verschaffen, und da eine Stunde nach seiner Ankunft etwas mehr Ruhe eintrat und schon eine Menge Verbrecher in trunkenen Schlaf gefallen waren, so zögerte Ayrton keinen Augenblick, sich auf das Verdeck des Speedy zu wagen, das die Stocklaternen fast in völliger Dunkelheit ließen.
Er schwang sich über die Brüstung und gelangte neben dem Bugspriet[508] auf das Vorderkastell der Brigg. Lautlos glitt er durch die da und dort liegenden Schläfer um das Schiff und überzeugte sich, daß der Speedy vier acht- bis zehnpfündige Kanonen führte. Eine nähere Untersuchung belehrte ihn auch, daß es Hinterladungsgeschütze, also ganz moderne Waffen waren, die sich schnell laden lassen und von fürchterlicher Wirkung sind.
Auf dem Verdeck selbst lagen etwa zehn Mann umher, doch mochten wohl mehr noch im Innern des Schiffes ruhen. Aus den vorher gehörten Worten glaubte Ayrton schon haben abnehmen zu können, daß ungefähr fünfzig Mann an Bord seien. Das waren freilich viel für die Ansiedler der Insel Lincoln! Dank Ayrtons kühnem Unternehmen konnte diese Anzahl Cyrus Smith dann wenigstens nicht überraschen; er mußte die Stärke seiner Gegner vorher kennen und seine Anordnungen darnach zu treffen wissen.
Ayrton brauchte jetzt also nur zurückzukehren und seinen Genossen Bericht über das Wagniß, das er übernommen, zu erstatten, und schon suchte er das Vordertheil der Brigg zu erreichen, um ungehört in's Meer hinabzugleiten.
Doch da kam dem Manne, welcher versprochen hatte, noch mehr als seine Pflicht zu thun, ein heroischer Gedanke. Er wollte sein Leben opfern, aber die Insel und ihre Ansiedler retten. Cyrus Smith konnte offenbar fünfzig bis an die Zähne bewaffneten Banditen nicht auf die Dauer widerstehen, ob diese den Eingang in's Granithaus nun mit Gewalt zu erzwingen suchten oder die Belagerten nach und nach durch Hunger überwältigten. Dann stellte er sich seine Retter vor, sie, die ihn wieder zum Menschen und auch zum ehrlichen Menschen gemacht hatten, sie, denen er Alles verdankte, ohne Mitleid erschlagen, ihre Arbeiten vernichtet, ihre Insel als Schlupfwinkel einer Seeräuberbande! Er sagte sich, daß er, Ayrton, im Grunde die Ursache all' dieses Unglücks, daß sein früherer Verbrechergefährte, Bob Harvey, nur seine eigenen Absichten jetzt auszuführen im Begriffe sei – da lief ein erstarrender Schrecken durch alle seine Glieder. Und dann ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, die Brigg und Alles, was sie trug, in die Luft zu sprengen. Ayrton mußte bei der Explosion mit zu Grunde gehen, doch – er hatte seine Pflicht gethan.
Er überlegte keinen Augenblick. Die Pulverkammer, welche stets im Hintertheile der Schiffe liegt, zu erreichen, konnte nicht allzu schwer sein; an Pulver konnte es einem Fahrzeuge dieses Schlages nicht fehlen, und[509] ein Funke mußte ja genügen, dasselbe in einem Augenblicke zu zerstören.
Ayrton schlich sich vorsichtig nach dem Zwischendeck, in dem viel trunkene Schläfer umherlagen. Am Fuße des einen Mastes beleuchtete eine Stocklaterne einen rund um jenen laufenden Gewehrständer, der mit Waffen aller Art besetzt war.
Ayrton steckte von denselben einen Revolver zu sich, und sah auch nach, ob er geladen und schußfertig sei. Mehr brauchte er ja nicht, das Werk, der Zerstörung zu vollenden. So glitt er nach dem Hintertheile, um unter das Oberdeck zu gelangen, wo die Pulverkammer sich befinden mußte.
In dem fast dunkeln Zwischendeckraume konnte er freilich nur schwer vorwärts kommen, ohne da und dort an einen halb eingeschlafenen Sträfling zu stoßen; manches Fluch- und Schimpfwort folgte ihm nach. Manchmal war er sogar gezwungen, seinen Weg zu unterbrechen. Endlich gelangte er aber doch an eine Wand, welche den hintersten Theil abschloß, und fand an derselben die Thür, die nach dem Pulverraume führen mußte.
Da Ayrton nichts übrig blieb, als diese mit Gewalt zu öffnen, so ging er sofort daran. Natürlich konnte das ohne einiges Geräusch nicht abgehen, da er gezwungen war, ein Vorlegeschloß zu sprengen. Doch unter Ayrton's kräftiger Hand sprang das Schloß auf, – die Thür stand offen ...
In diesem Augenblicke legte sich ein Arm auf Ayrton's Schultern.
»Was beginnst Du da?« fragte mit strenger Stimme ein hochgewachsener Mann, der aus dem Schatten hervortrat und mit einer Handlaterne Ayrton voll in's Gesicht leuchtete.
Ayrton schnellte zurück. Bei dem plötzlichen Lichtscheine hatte er seinen alten Mitschuldigen, Bob Harvey, wieder erkannt, Letzterer aber ihn wahrscheinlich nicht, da er Ayrton schon längst für todt halten mußte.
»Was beginnst Du da?« sagte Bob Harvey und ergriff Ayrton am Gürtel des Beinkleides.
Ohne eine Antwort zu geben stieß Ayrton den Räuberhauptmann kraftvoll zurück und suchte in die Pulverkammer einzudringen. Ein Revolverschuß in diese Tonnen, und Alles war vollbracht! ...
»Hierher, Jungens!« rief da Bob Harvey laut.
Zwei bis drei Piraten, die bei dem Zurufe erwacht waren, stürzten sich auf Ayrton und versuchten ihn nieder zu werfen Ayrton riß sich aus ihren[510] Fäusten los. Zwei Schüsse knallten aus seinem Revolver, und zwei Verbrecher fielen zu Boden; aber ein Messerstich, dem er nicht ausweichen konnte, traf ihn selbst an der Schulter.
Ayrton sah wohl ein, daß er sein Vorhaben nicht werde ausführen können. Bob Harvey hatte die Thür zur Pulverkammer wieder zugeschlagen, und im Zwischendeck entstand eine Bewegung, welche die größte Zahl der Piraten ermunterte. Jetzt galt es Ayrton, sein Leben zu schonen, um an Cyrus Smith's Seite noch mit kämpfen zu können. Es blieb ihm also nichts übrig, als sein Heil in der Flucht zu suchen.
Ob diese noch ausführbar wäre, das war nicht vorher zu sagen, obwohl Ayrton entschlossen war, Alles daran zu setzen, um zu seinen Genossen zurück zu gelangen.
Noch hatte er vier Schüsse vorräthig. Zwei feuerte er ab, den einen auf Bob Harvey, der diesen jedoch mindestens nicht gefährlich traf, und indem er eine augenblickliche Verwirrung seiner Gegner benutzte, eilte Ayrton nach der Treppe, um auf das Verdeck hinauf zu gelangen. Im Vorüberlaufen an der Mastlaterne zertrümmerte er diese mit einer Spiere, so daß es rings umher vollständig dunkel und seine Flucht dadurch begünstigt wurde.
Eben kamen aber, von dem Lärmen erschreckt, einige Mann diese Treppe herunter. Ein fünfter Revolverschuß Ayrton's streckte den Einen nieder, die An deren eilten, ohne zu wissen, was eigentlich vorging, wieder zurück. In zwei Sätzen war Ayrton auf dem Verdecke, und drei Secunden später, nachdem er auch seinen letzten Schuß auf einen der Piraten, der ihn am Halse packen wollte, abgefeuert, schwang er sich über die Schanzkleidung und sprang in's Meer.
Doch keine sechs Faden weit war er dahin geschwommen, als die Kugeln um ihn einschlugen.
Was mochte Pencroff fühlen, der hinter einem Felsen des Eilandes versteckt lag, was Cyrus Smith, Harbert und Nab, die sich in den Kaminen aufhielten, als sie an Bord der Brigg jene Gewehrschüsse hörten? Sie stürzten vor nach dem Strande, mit den Flinten in der Hand, bereit, jedem Angriffe entgegenzutreten.
Für sie gab es keine Zweifel mehr! Ayrton war, überrascht von den Piraten, von diesen ermordet worden, und vielleicht suchten die Schurken[511] das Dunkel der Nacht zu benutzen, um eine Landung an der Insel auszuführen.
Eine halbe Stunde verrann unter tödtlichen Qualen. Es fiel zwar kein Schuß mehr, doch wurden auch weder Ayrton noch Pencroff sichtbar. War das Eiland schon besetzt? Sollte man Ayrton und Pencroff zu Hilfe eilen? Doch wie? Bei dem Hochwasser im Meere machte sich ein Ueberschreiten des Canals unmöglich. Die Pirogue war nicht zur Hand! Wer fühlt[512] nicht die entsetzliche Angst mit, die sich Cyrus Smith's und seiner Gefährten bemächtigte?
Gegen Mitternacht endlich stieß ein Boot, welches zwei Menschen trug, an den Strand. Das waren Ayrton, mit einer leichten Verwundung an der Schulter, und Pencroff, heil und gesund, die von ihren Freunden mit offenen Armen empfangen wurden.
Sofort zogen Alle sich in die Kamine zurück. Dort erzählte Ayrton das[513] Vorgefallene, und verhehlte auch seine Absicht nicht, die Brigg in die Luft zu sprengen, an deren Ausführung er nur verhindert worden sei.
Alle Hände streckten sich Ayrton dankend entgegen, welcher übrigens den Ernst der Lage keineswegs verheimlichte. Die Piraten waren gewarnt. Sie wußten, daß die Insel Lincoln bewohnt sei, und betraten diese voraussichtlich nur in größerer Anzahl und gut bewaffnet. Schonung durfte man von ihnen nicht erwarten, und wenn die Ansiedler in ihre Hände fielen, war ihnen der Tod gewiß.
»Nun, wir werden auch zu sterben wissen! rief der Reporter.
– Ziehen wir uns zurück und halten scharf Wache, sagte der Ingenieur.
– Haben wir eine Aussicht, uns aus dieser Lage zu ziehen, Herr Cyrus? fragte der Seemann.
– O ja, Pencroff.
– Hm! Sechs gegen Fünfzig!
– Ja wohl! Sechs! ... ohne auf ...
– Auf wen zu zählen?« fragte Pencroff.
Cyrus antwortete nicht, aber er wies mit der Hand gen Himmel.
1 Ein englisches Wort, welches »hurtig« bedeutet.
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