Sechstes Kapitel.
Slawen und Germanen.

[77] Der erste Tee mit Butterbroten wurde im Speisezimmer der Gebrüder Johausen vorschriftsmäßig genau um neun Uhr morgens aufgetragen. Die – wie sie selbst sagten – »bis zur zehnten Dezimale getriebene« Pünktlichkeit war eine der hervortretendsten Eigenschaften der reichen Bankiers, und zwar im gewöhnlichen Leben nicht minder wie in der Geschäftsführung, gleichgültig ob es sich dabei darum handelte, Geld einzunehmen oder etwas zu bezahlen. Frank Johausen, der ältere der beiden Brüder, hielt vor allem darauf, daß Mahlzeiten, Besuche, das Aufstehen des Morgens und das Niederlegen des Abends mit militärischer Strenge geregelt blieben... das waren einmal die leitenden Grundsätze des Bankhauses, eines der bedeutendsten von Riga.

Am heutigen Morgen war der Samowar zur genannten Stunde nicht in Ordnung. Was war die Ursache? Nichts als ein bißchen Trägheit Trankels, des Hausdieners, dem ausschließlich die Bedienung seines Herrn oblag und der sich auch ohne Winkelzüge schuldig bekannte.

Als Herr Frank Johausen und sein Bruder, Frau Johausen und die kleine Margarete Johausen eintraten, war der Tee also noch nicht so weit fertig, daß man die auf dem Tisch bereit stehenden Tassen damit hätte füllen können.

Bekanntlich rühmen sich – wenn auch mit wenig Berechtigung – die reichen Deutschen der baltischen Provinzen, daß sie ihr Hausgesinde recht »väterlich« behandeln. Die Familie ist bei ihnen noch patriarchalisch geblieben und die Diener werden mehr als Kinder des Hauses betrachtet, gerade deshalb aber sind sie, das darf man ruhig glauben, auch gewissen väterlichen Bestrafungen fast schutzlos ausgesetzt.

»Trankel, warum ist der Tee noch nicht trinkfertig? fragte Frank Johausen.

– Ach, daß mir mein Herr und Gebieter verzeihe, antwortete Trankel kläglichen Tones, ich hatte nur vergessen...

– Das ist ja nicht das erste Mal, Trankel, fiel ihm der Bankier ins Wort, und ich habe Grund genug zu glauben, es werde auch nicht das letzte Mal gewesen sein.«[77]

Als Zeichen ihrer Zustimmung die Achseln zuckend, hatten sich Frau Johausen und ihr Schwager dem aus hübsch verzierter Fayence errichteten Ofen genähert, worin zum Glück das Feuer nicht, wie die Flamme des Samowars, erloschen war.

Trankel schlug die Augen nieder, ohne ein weiteres Wort zur Entschuldigung zu wagen. Mußte er sich doch eingestehen, daß es nicht sein erster Verstoß gegen die von den Johausens so hoch gehaltene Pünktlichkeit war.

Der Bankier entnahm der Seitentasche seines Rockes jetzt ein Notizbuch mit losen Blättern, schrieb einige Zeilen auf eine Seite und übergab das Blatt dem Diener.

»Besorge das an seine Adresse, sagte er, und warte da auf Antwort.«

Trankel wußte offenbar schon, wohin er geschickt und welcher Art die Antwort des Empfängers sein würde. Er sagte auch kein Wort, sondern beugte nur den Kopf, küßte seinem Herrn die Hand und schritt auf die Tür zu, um sich nach dem Polizeibureau zu begeben.

Auf dem Blatte aus dem Notizbuche standen nur die Worte:

»Gut für fünfundzwanzig, meinem Diener Trankel aufzuzählende Stockhiebe.

Frank Johausen.«


Als der Diener hinausgehen wollte, rief ihm der Bankier nach:

»Du wirst nicht vergessen, die Empfangsbescheinigung mit zurückzubringen!«

Trankel wollte das gewiß nicht vergessen. Der Bankier hatte für jede von ihm verlangte Züchtigung entsprechend dem vom Polizeihauptmann aufgestellten Satz zu zahlen.

So ging es jener Zeit und geht es vielleicht noch heute in solchen Dingen her, in Kurland und Esthland übrigens ebenso wie in Livland und ohne Zweifel auch in manchen anderen Provinzen des Moskowiterlandes.

Beiläufig noch ein Wort über die Familie Johausen.

Die Bedeutung eines Beamten in Rußland ist ja wohl allgemein bekannt. Er ist dem strengen Reglement des Tchin unterworfen... jener Leiter mit vierzehn Sprossen, die alle Staatsbeamten vom untersten Range bis zu dem eines Geheimrates mühevoll erklimmen müssen.

Es gibt aber auch andere hohe Gesellschaftsklassen, die mit der Beamtenwelt nichts gemein haben, darunter in erster Reihe den Adel der baltischen Provinzen, der sich eines großen, durch wirkliche Machtmittel noch vermehrten Ansehens erfreut. Durchweg germanischen Ursprungs, ist er älter als der russische Adel[78] und hat sich sehr wichtige Vorrechte zu sichern verstanden, darunter das, eigene Diplome auszustellen, die selbst die Mitglieder der kaiserlichen Familie anzunehmen sich nicht weigern.

Neben diesem Adel gibt es eine bürgerliche Klasse, die ihm zum Teil gleich, zum Teil sogar noch höher als jener dasteht, und zwar infolge ihres Einflusses auf die Provinz- und die Stadtverwaltung, und wie diese– wie erwähnt – fast ausschließlich von deutscher Abstammung. Sie umfaßt die Kaufleute und die Ehrenbürger, doch auch die etwas tiefer stehenden einfachen Bürger, die eine Art gesellschaftlicher Mittelklasse bilden. Zu den oberen Schichten gehören die Bankiers, die Reeder, die Künstler und die Kaufleute, die je nach der »Gilde«, in der sie eingetragen sind, eine gewisse Steuer dafür entrichten, daß sie mit dem Auslande Handel treiben dürfen. Unter der gesamten Bürgerschaft ist vor allem die obere Klasse gut gebildet, arbeitsam und gastfreundlich, und es läßt sich auch an ihrer Moralität und Rechtschaffenheit nicht im geringsten mäkeln. Zu denen, die von diesen obenan standen, gesellte die öffentliche Meinung mit vollem Rechte auch die Familie Johausen und das Bankgeschäft, dessen Kredit in Rußland wie im Ausland unerschütterlich fest stand.

Weit unter den privilegierten Klassen, die in allen baltischen Provinzen gewissermaßen die Herren spielen, führen die Landleute, die Ackerbauer und auch die ansässigen Hofeigentümer – an Zahl etwa eine Million – ein ärmliches Leben, obwohl sie die eigentlich eingeborenen Bewohner sind, im Grunde Letten, die ihre uralte slawische Sprache beibehalten haben, während das Deutsche die Umgangs- und Verkehrssprache der Stadtbevölkerung geblieben ist. Die Leute sind ja nicht mehr Leibeigene, sie werden aber noch häufig gleich solchen behandelt, zuweilen sogar gegen ihren Willen verheiratet, wenn es sich darum handelt, die Zahl der Familien zu vermehren, von denen die großen Herren das Recht haben, einen gewissen Zins einzuziehen.

Hieraus erklärt es sich wohl, daß der Beherrscher aller Reußen auf den Gedanken kam, diesen beklagenswerten Zustand der Dinge zu ändern, und daß seine Regierung sich bemühte, das slawische Element in die Ratskollegien und in die Verwaltung der Städte einzuführen. Das entfachte freilich einen Streit, dessen schreckliche Folgen wir im Laufe dieser Erzählung kennen lernen werden.

Der Hauptleiter des Bankhauses war der ältere der beiden Brüder, Frank Johausen. Der jüngere war unverheiratet. Der jetzt fünfundvierzig Jahre zählende Frank hatte eine Deutsche aus Frankfurt a. M. zur Gattin. Er war[79] Vater zweier Kinder, eines Sohnes, Karl mit Namen, der eben ins neunzehnte Jahr eingetreten war, und eines zwölfjährigen Töchterchens. Karl vollendete jetzt seine Studien an der Universität in Dorpat, wo Jean, der Sohn Dimitri Nicolefs, gerade auch am Ende der seinigen stand.

Riga, dessen Gründung bis zum dreizehnten Jahrhundert zurückliegt, ist – es sei das hier wiederholt – weit mehr eine deutsche als slawische Stadt. Man er kennt ihren Ursprung schon an den Häusern mit ihrem nach der Straße liegenden hohen Treppengiebel, der das Dach abschließt, obwohl einige Bauwerke durch ihre merkwürdige Anordnung und ihre hohen, goldfarbigen Kuppeln eine Andeutung von byzantinischer Architektur aufweisen.

Riga ist jetzt (seit 1863) eine offene Stadt. Ihr wichtigster Platz ist der des Rathauses, das die eine Seite davon einnimmt und einen hohen Glockenturm mit dicken Zwiebelknaufen trägt, während man an der anderen Seite das »Schwarzhäupterhaus« bewundern kann, über dem sich spitze Glockentürmchen erheben, deren Wetterfahnen recht kläglich knarren, und das im Beschauer mehr einen wunderlichen als einen künstlerischen Eindruck hervorbringt.

An diesem Platze steht auch das Johausensche Bankgebäude, ein sehr schönes Bauwerk moderner Art. Die Geschäftsräume liegen darin im Erdgeschoß, die Empfangszimmer nehmen das erste Stockwerk ein. Das Haus liegt also im verkehrsreichsten Stadtteile, und dank dem Umfange seines Umsatzes und der Ausdehnung seiner Geschäftsverbindungen erfreut es sich in der Stadt eines beträchtlichen, ja eines ganz hervorragenden Einflusses.

Sehr enge Bande vereinigen die Familie Johausen. Die beiden Brüder verstehen einander in allen Dingen. Der ältere hat die Hauptleitung des Geschäftes, der jüngere hat besonders die Buchführung und das Rechnungswesen in der Hand...


 »Besorge das an seine Adresse.« (S 78.)
»Besorge das an seine Adresse.« (S 78.)

Frau Johausen ist eine Natur, die sich so deutsch wie möglich gibt. Dabei bewahrt sie denn auch den Slawen gegenüber einen ungemeinen Stolz, und da die vornehme Welt in Riga sie stets mit hoher Achtung und unverkennbarer Freude empfängt, trägt das nur dazu bei, ihre nationale Eitelkeit noch weiter anzuregen.

Es ergibt sich hieraus, daß die Johausensche Familie in den vornehmen Bürgerkreisen der Stadt den ersten Rang einnahm, den ersten Rang aber auch in der finanziellen Welt der baltischen Provinzen. Nach außen genoß sie einen fast unbegrenzten Kredit bei der Russischen Staatsbank wegen ihres auswärtige[80] Handels, ebenso bei der Bank von Volka-Kama, der Diskontobank und bei der internationalen Bank in Petersburg. Eine freiwillige Auflösung ihres Geschäftes hätte den Gebrüdern Johausen gewiß eines der größten Vermögen in den Ostseeprovinzen in den Schoß geworfen.

Frank Johausen war Mitglied des Stadtrates, und zwar eines der einflußreichsten Mitglieder, denn er verteidigte immer mit größter Zähigkeit seine Kaste. Man bewunderte oder pries ihn als den Vertreter der Ideen, die seit der Eroberung in den Köpfen der oberen Schichten tief Wurzel geschlagen hatten.[81]

Gerade er mußte also von den Bestrebungen der Regierung, die starrsinnigen Rassen germanischen Blutes zu russifizieren, um so tiefer getroffen werden.

Die baltischen Provinzen wurden jener Zeit von dem Gouverneur Gorko verwaltet. Dieser, eine Persönlichkeit von hoher Intelligenz und sich der Schwierigkeiten seiner Aufgabe bewußt, unterhielt seine Beziehungen zur deutschen Bevölkerung mit vieler Klugheit, während er immer für den Sieg des slawischen Elementes tätig war. So suchte er eine Umänderung der öffentlichen Gewohnheiten herbeizuführen, ohne sich jemals roher, gewaltsamer Mittel zu bedienen. Streng, doch gerecht, sah er vorsichtig von allen Maßregeln ab, die einen Konflikt hätten herbeiführen können.

An der Spitze der Polizei stand der Oberst Raguenof, ein waschechter Russe. Weniger geschmeidig als sein Vorgesetzter, sah dieser hohe Beamte schon einen Feind in jedem Livländer, Esthen oder Kurländer, der nicht mit slawischer Muttermilch auferzogen worden war. Gegen fünfzig Jahre alt, war er ein kühner, schnell entschlossener Mann, ein überaus scharfer Polizist, der vor nichts zurückschreckte und den der Gouverneur nur mühsam in den gebotenen Schranken halten konnte. Er hätte, wenn das ausführbar war, lieber jedes Hindernis zertrümmert, statt es mit sanftem Griffe aus dem Wege zu räumen.

Es mag ein wenig auffallen, die bisher genannten Personen so eingehend geschildert zu sehen; aber wenn sie auch nicht sogleich besonders hervortreten, spielen sie doch eine wichtige Rolle in diesem gerichtlichen Drama, das infolge politischer Leidenschaften und Nationalitätenhaders in den baltischen Provinzen zu einem wahrhaft erschreckenden Ausbruch kommen sollte.

Nach dem Oberst Raguenof und im Gegensatz zu ihm sei der Leser auf den Major Verder hingewiesen, der in der Polizeiverwaltung dem vorigen zunächst untergeordnet war. Der Major ist germanischer Abstammung und zeigt bei der Ausübung seines Amtes oft die übermäßig strenge Pflichterfüllung seiner Rasse. Dabei hält er es freilich mehr mit den Deutschen, wie der Oberst mit den Slawen. Er verfolgt die einen mit Feuereifer und zeigt sich gegen die anderen milder. So wäre es trotz ihres Rangunterschiedes zwischen den beiden hohen Beamten schon häufig zu harten Zusammenstößen gekommen, wenn der General Gorko nicht rechtzeitig ausgleichend eingegriffen hätte.

Hierzu sei noch bemerkt, daß der Major Verder einen eifrigen Verbündeten in dem Brigadier Eck hatte, den wir schon im Anfange dieser Geschichte bei seiner Nachforschung nach dem Flüchtling aus den sibirischen Bergwerken kennen gelernt[82] haben. Dieser bedurfte keiner besonderen Anregung, bei den ihm anvertrauten Aufträgen seine Pflicht zu erfüllen, er tat eher noch mehr, vorzüglich wenn es galt, die Fährte eines Slawen aufzuspüren. Von den beiden Herren Johausen wurde er besonders hoch geschätzt, denn er hatte diesen schon mehrfach persönlich gute Dienste erweisen können, die übrigens am Kassenschalter des Bankgeschäftes stets eine reichliche klingende Anerkennung gefunden hatten.

Unseren Lesern ist nun die Sachlage bekannt, ebenso das Gebiet, auf dem die Gegner zusammenprallen sollten: das der städtischen Wahlen. Hier war Frank Johausen entschlossen, seinen Platz zu behaupten, während Dimitri Nicolef ihm, gegen seinen Willen, gegenüberstand, auf den Schild gehoben von der russischen Beamtenschaft und von der niederen Volksklasse, deren Wahlberechtigung ein neuer Zensus nicht unbeträchtlich erweitert hatte.

Daß der einfache Privatlehrer, der vermögenslose und keinerlei wichtige Stellung einnehmende Mann, zu einem Wettkampfe mit dem mächtigen Bankier, dem Vertreter der höheren Bürgerschaft und des Adels, aufgefordert wurde, bildete ein Wahrzeichen, dessen Bedeutung alle weiterblickenden Leute nicht verkennen konnten: wies es doch darauf hin, daß die politischen Verhältnisse der Provinzen vielleicht schon in naher Zukunft zum Nachteile der gegenwärtigen Machthaber in städtischen und Verwaltungsangelegenheiten eine Veränderung erfahren könnten.

Die Gebrüder Johausen zweifelten jedoch gar nicht daran, im bevorstehenden Wahlkampfe wenigstens den ihnen entgegengestellten Wettbewerber glatt zu besiegen. Die zunehmende Volkstümlichkeit Dimitri Nicolefs hofften sie schon im Keime zu ersticken. Vor Ablauf von sechs Wochen würde es sich ja zeigen, ob man ein Ehrenamt einem elenden Schuldner anvertrauen könnte, der im Zivilprozeß verurteilt und dessen Besitztum infolgedessen beschlagnahmt war, so daß er sich, zugrunde gerichtet und wohnungslos, auf die Straße gesetzt sah.

Binnen kaum zwei Monaten, am 15. Juni, verfiel bekanntlich der von Dimitri Nicolef in Anerkennung der Schulden seines Vaters zugunsten der Firma Johausen unterschriebene Schuldschein. Es handelte sich dabei um achtzehntausend Rubel. für einen bescheidenen Privatgelehrten um eine ungeheure Summe, die dieser schwerlich abzutragen in der Lage sein würde. Die Gebrüder Johausen glaubten behaupten zu dürfen, daß die Zahlung, die jenen aus ihrer Gewalt erlösen könnte, bis zum Verfallstage nicht geleistet sein werde. Schon bei den letzten Abzahlungen hatten sich ernste Schwierigkeiten gezeigt und nachher schienen[83] sich die Geldverhältnisse Nicolefs keineswegs gebessert zu haben. Nein, es mußte ihm unmöglich sein, seinen Verpflichtungen gegen das Bankhaus nachzukommen. Verlangte er Aufschub. so würde man unerbittlich bleiben. Das sollte weniger den Schuldner als solchen treffen, als den politischen Gegner, der dadurch mit einem Schlage abgetan würde.

Die Gebrüder Johausen ahnten dabei noch gar nicht, daß ein unvorhergesehenes und ganz unerwartetes Ereignis ihren Plänen noch weiter zu Hilfe kommen sollte. Sie bekamen damit den Blitz des Himmels in die Hand, den sie kaum zu gelegenerer Zeit und vernichtender auf das Haupt ihres volkstümlichen Rivalen schleudern konnten.

Trankel hatte sich auf das Geheiß seines Herrn beeilt – vielleicht ist das letzte Wort aber nicht ganz zutreffend – diesem Folge zu leisten. Mit beschämter Miene und zögernden Schrittes, doch als ein Mann, der den Weg zum Polizeiamte aus mehrfacher Erfahrung kannte, verließ er das Bankhaus, ließ das schloßartige Gebäude mit gelben Mauern, den Amtssitz des Gouverneurs, zur Linken, wand sich durch die Buden und Stände des Marktplatzes, wo alles zu verkaufen war, was irgend verkäuflich schien, wie Trödelkram aller Art, Kleinigkeiten von zweifelhaftem Werte, abgelegte und stark abgenutzte Kleidungsstücke, religiöse Sachen, Küchengeräte usw. Um sich Mut zu machen, leistete sich der vergeßliche Hausdiener noch eine Tasse heißen Tee mit einer Zugabe von Wodka, womit die wandernden Händler stets ein gutes Geschäft machen, dann warf er noch einen flüchtigen Blick auf die netten Bleicherinnen am Waschplatze, durchschritt mehrere Straßen, wo karrenziehende Sträflinge unter Führung eines grimmigen Aufsehers dahintrabten, aber voller Achtung gegen die Leute, die eine Verurteilung zum Bagno wegen eines Vergehens gegen die Disziplin doch noch nicht ehrlos macht, und endlich traf er ruhig im Polizeiamte ein.

Hier wurde der Hausdiener von den Polizisten wie ein alter Bekannter empfangen. Mehrere streckten ihm die Hand entgegen, die er als Antwort herzhaft drückte.

»Na, da bist du ja einmal wieder, Trankel, sagte einer der Polizisten. Wir haben dich doch recht lange nicht gesehen, Väterchen, das mag wenigstens sechs Monate her sein.

– Nun, so lange ist es nicht, erwiderte Trankel.

– Wer schickt dich denn heute?[84]

– Mein Hausherr, Herr Frank Johausen.

– Aha, und da möchtest du wohl mit dem Major Verder sprechen?

– Ja, wenn das möglich ist.

– Er ist soeben in sein Bureau gekommen, Trankel, und wenn du dir die Mühe geben willst, ihn da aufzusuchen, wird er gewiß erfreut sein, dich zu empfangen.«

Sich geschmeichelt fühlend, begab sich Trankel nach dem Zimmer des Majors und klopfte bescheiden an die Tür. Auf ein kurzes von innen heraustönendes »Herein!« trat er ein.

Der Major saß vor seinem Schreibtische und blätterte in einem Aktenbündel. Er wendete sofort die Augen dem Eingetretenen zu und sagte:

»Ah... du bist's ja, Trankel?

– Ich selbst, Herr Major.

– Und du kommst von...

– Von Herrn Johausen.

– Ist's denn etwas Schlimmes?

– Ach, nur der Samowar, der heute Morgen mit aller Gewalt nicht in Gang kommen wollte...

– Weil du jedenfalls vergessen hattest ihn anzuzünden, nicht wahr? bemerkte der Major lächelnd.

– Das wäre wohl möglich.

– Na... wie viele denn?

– Hier ist der Bestellschein.«

Trankel übergab damit dem Major den Zettel, den sein Herr ihm ausgehändigt hatte.

Der Major las die wenigen Worte.

»Oh... eine Kleinigkeit, sagte er.

– Hm! brummte Trankel.

– Nur fünfundzwanzig!«

Offenbar hätte Trankel es vorgezogen, mit einem Dutzend davonzukommen.

»Nun sagte der Major, du sollst bedient werden, ohne lange warten zu müssen.«

Er klingelte nach einem diensttuenden Polizisten.

Dieser trat ein und blieb in stramm militärischer Haltung stehen.[85]

»Fünfundzwanzig Stockhiebe, befahl der Major, doch nicht zu stark, so wie für einen Freund. – Ah, wenn sich's um einen Slawen handelte! Geh, Trankel, entkleide dich, und wenn die Sache vorüber ist, kommst du wieder und holst dir bei mir den Empfangschein.

– Ich danke, Herr Major.«

Trankel verließ das Amtszimmer und folgte dem Polizisten nach dem Raum, wo die Bestrafung erfolgen sollte.

Man würde ihn ja als Freund, als treuen Kunden behandeln, so daß er nicht gar so schwer zu leiden hätte. Trankel legte Jacke und Hemd ab, um den Rücken zu entblößen, und beugte sich dann nieder, während der Polizist mit einem Bambusstocke in der Hand sich schon vorbereitete, loszuschlagen.

In dem Augenblicke aber, wo der erste Hieb fallen sollte, entstand vor der Tür des Polizeiamtes ein gewaltiger Lärm. Schwer keuchend kam ein Mann hereingestürzt und rief:

»Der Major Verder!... Der Major Verder!«

Der schon über Trankels Rücken schwebende Stock hatte sich wieder gesenkt, und der Polizist hatte die Tür aufgerissen, um zu sehen, was draußen vorging.

Trankel, der sich dafür nicht weniger interessierte, hatte nichts besseres zu tun, als ebenfalls hinauszulugen.

Auf den Lärm war auch schon der Major Verder aus seinem Bureau gekommen.

»Was ist denn los?« fragte er.

Der keuchende Mann trat, die Mütze in der Hand, an ihn heran und überreichte ihm ein Telegramm mit den Worten:

»Es ist ein Verbrechen begangen worden...

– Wann?..

– In vergangener Nacht.

– Was für ein Verbrechen?

– Ein Mord.

– Wo?

– Auf der Landstraße von Pernau in der Schenke 'Zum umgebrochenen Kreuze'.

– Und wer ist das Opfer?

– Der Bankbote des Hauses Johausen.

– Wie... Der arme Poch! rief Trankel. Mein Freund Poch?[86]

– Kennt man einen Beweggrund zu der Schandtat?

– Es liegt ein Raub vor, denn die Brieftasche Pochs ist leer in dem Zimmer gefunden worden, worin er ermordet worden ist.

– Weiß man, was diese enthalten hatte?

– Noch nicht, Herr Major; das Bankhaus wird darüber aber Auskunft geben können.«

Die aus Pernau eingetroffene Depesche enthielt alles das, was der Überbringer schon im Telegraphenamte erfahren hatte.

Der Major wendete sich an die Unterbeamten und sagte:

»Du... du machst dem Richter Kerstorf dienstliche Meldung.

– Sofort, Herr Major.

– Du, du läufst zum Doktor Hamine...

– Zu Befehl, Herr Major.

– Und ihr sagt beiden, unverzüglich nach der Johausenschen Bank zu kommen, wo ich die Herren erwarten würde.«

Die Polizisten eilten aus dem Polizeiamte davon, und wenige Minuten später machte sich der Major Verder auf den Weg nach dem Bankhause.

So kam es, daß Trankel bei der Unruhe, die die Nachricht von jenem Verbrechen verursacht hatte, heute die fünfundzwanzig Stockschläge nicht bekam, zu denen er wegen Versehens in seinem Dienste verurteilt worden war.

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 77-87.
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