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[78] In den skandinavischen Ländern und nicht nur bei den Bewohnern der Städte, sondern auch draußen auf dem Lande, findet man eine recht erfreuliche Volksbildung, welche über die ersten Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens überall hinausgeht. Der Bauer lernt mit Vergnügen und hat im Allgemeinen einen offenen Kopf; er hat Interesse für öffentliche Angelegenheiten und nimmt an Allem, was den Staat oder die Gemeinde angeht, lebhaften Antheil. Im Storthing bilden die Vertreter dieser Classe immer die Majorität. Manchmal sitzen sie hier in ihrer eigenthümlichen Provinzialkleidung, und man rühmt ihnen mit Recht ihren klaren Verstand, den praktischen Sinn und ein richtiges Auffassungsvermögen – wenn dieses auch nur ein etwas langsames ist – nebst einer über jeden Zweifel erhabenen Unbestechlichkeit nach.
Es ist also nicht zu verwundern, daß der Name Sylvius Hog's in ganz Norwegen gekannt war und selbst in diesem etwas wilden Theile Telemarkens mit hoher Achtung genannt wurde.
Auch Frau Hansen glaubte, als sie den von Allen geschätzten Gast empfing, ihm sagen zu müssen, wie sehr sie sich geehrt fühle, ihn einige Tage unter ihrem Dache beherbergen zu dürfen.
»Ich weiß zwar nicht, ob das für Sie, Frau Hansen, eine besondere Ehre ist, antwortete darauf Sylvius Hog, aber das weiß ich, daß es mir ein großes Vergnügen gewährt. O, ich habe meine Zuhörer schon seit längerer Zeit von diesem gastlichen Hause in Dal reden hören, und schon aus diesem Grunde hatte ich beschlossen, hier vielleicht eine Woche lang zu verweilen; und doch, der heilige Olaf möge mir seinen Schutz entziehen, hatte ich nimmermehr gedacht, hier – nur auf einem Fuße anzukommen.«
Der vortreffliche Mann drückte dabei herzlich und freundschaftlich die Hand seiner Wirthin.
»Herr Sylvius, begann da Hulda, wünschen Sie vielleicht, daß mein Bruder von Bamble einen Arzt herbeiholt?
– Einen Arzt, meine kleine Hulda? Aber wollt Ihr denn, daß ich gar den Gebrauch meiner beiden Beine einbüße?[78]
– O, Herr Sylvius!...
– Einen Arzt! Und warum nicht gleich meinen Freund, den Doctor Boek von Christiania? Und Alles das wegen einer einfachen Schrunde?
– Doch auch eine solche, erwiderte Joël, kann, wenn sie nicht richtig behandelt wird, recht ernste Folgen nach sich ziehen.
– Wirklich, Joël? Würden Sie mir nicht gefälligst sagen, warum Sie wollen, daß dieselbe so ernsthaft würde?
– Ich will es gewiß nicht, Herr Sylvius! Nein, behüte mich Gott davor!
– Nun, er wird Sie behüten, und auch mich, sowie das ganze Haus der Frau Hansen, vorzüglich, wenn die liebenswürdige Hulda es übernimmt, mir ihre Pflege angedeihen zu lassen.
– Ganz gewiß, Herr Sylvius!
– Sehr schön, liebe Freunde. Binnen vier bis fünf Tagen wird von der Sache nichts mehr zu sehen sein. Warum sollte man übrigens in einem so reizenden Zimmer nicht schnell wieder gesund werden? Wo könnte man eine bessere Behandlung finden, als in dem vortrefflichen Gasthause zu Dal? Und dann dieses gute Bett mit seinen Sinnsprüchen, die gewiß mehr werth sind, als die entsetzlichen Formeln der Facultät. Das hübsche Fenster hier, das den Ausblick nach dem Thale des Maan gewährt, das Murmeln des Wassers, das bis nach meinem Schlafraum hereindringt, der Duft der alten Bäume, die rings um das Haus einen grünen Rahmen bilden, die gute Luft, die würzige Bergluft – ist das nicht Alles die beste Arznei, die man nur finden kann? Bedarf man derselben, so braucht man nur das Fenster zu öffnen, da kommt sie von selbst, stärkt und erquickt den Schwachen und – setzt ihn nicht einmal auf strenge Diät!«
Er sagte das Alles so heiter, dieser Sylvius Hog, daß mit ihm wirklich etwas wie ein Hauch von Glück in das Haus einzuziehen schien. Diesen Eindruck hatten davon wenigstens der Bruder und die Schwester, welche, sich an der Hand haltend, ihm zuhörten und Beide dieselbe Regung empfanden.
Der Professor war zuerst nach dem Zimmer im Erdgeschoß geführt worden. Jetzt saß und lag er halb in einem großen Armstuhle und hatte das Bein auf ein Bänkchen ausgestreckt, während Hulda und Joël sich seiner Pflege widmeten. Außer einem Umschlag von frischem Wasser wollte er kein anderes Heilmittel, und in der That brauchte er ja auch kein weiteres.[79]
»Gut, liebe Freunde, ganz gut! sagte er. Man darf mit den Droguen keinen Mißbrauch treiben. Ah, Ihr wißt es schon, ohne Eure Zuvorkommenheit hätte ich bald etwas zu viel von den Wundern des Rjukansos kennen gelernt – ich wäre wie ein Felsstück einfach in den Schlund hinabgerollt. Dann wäre eine neue Fabel zu der längstbekannten Fabel des Maristien hinzugekommen, und ich hätte dafür nicht einmal eine Entschuldigung gehabt! Mich erwartete ja keine Braut am anderen Rande, wie jenen unglücklichen Eystein!
– Und welcher Schmerz wäre das für Frau Hog gewesen, sagte Hulda. Sie würde sich nimmer haben trösten können...
– Frau Hog?... erwiderte der Professor. O, Frau Hog hätte gewiß nicht eine einzige Thräne vergossen.
– Aber, Herr Sylvius!
– Nein, sag' ich Euch, einfach aus dem Grunde, weil es gar keine Frau Hog giebt. Ich könnte mir auch kaum vorstellen, wie eine Frau Hog hätte aussehen sollen – ob fett oder mager, klein oder groß.
– Als Ihre Gattin hätte sie sicherlich liebenswürdig, geistvoll und gut sein müssen, meinte Hulda.
– Ei wirklich, mein Schatz? Gut, gut, ich will Ihnen glauben! Ja, ich glaube Ihnen!
– Doch wenn Ihre Eltern, Ihre Freunde von einem solchen Unfall Kunde bekommen hätten?... sagte Joël.
– Eltern hab' ich ebenso wenig, mein Sohn! Freunde – nun ja, es scheint ja, als wenn ich deren nicht wenig zählte, abgesehen von denen, die ich mir im Hause der Frau Hansen zu erwerben hoffe, und denen habt Ihr Beide die Mühe, mich zu beweinen, ja abgenommen! Doch, liebe Kinder, sagt mir erst, könnt Ihr mich denn auch einige Tage hier behalten?
– So lange es Ihnen gefällt, Herr Sylvius, versicherte Hulda. Dieses Zimmer gehört ganz Ihnen.
– Ich hatte ja schon vorher die Absicht, mich in Dal aufzuhalten, wie es wohl alle Lustreisenden thun, um von hier aus Telemarken nach allen Seiten durchstreifen zu können... Jetzt wird's nun damit freilich nichts, oder es geschieht doch erst später, das ist Alles.
– Vor Ende der Woche, Herr Sylvius, meinte Joël, hoffe ich, daß Sie wieder vollständig auf den Füßen sein werden.
– Und ich hoffe es nicht minder.
– Dann bin ich gern erbötig, Sie in dem Bezirke, wo Sie es wünschen, umherzuführen.
– Das werden wir ja sehen, Joël; davon sprechen wir, wenn ich erst wieder mehr hergestellt bin. Noch[80] hab' ich einen ganzen Monat Ferien vor mir, und wenn ich den ganz im Gasthaus der Frau Hansen verbringen sollte, wär' ich doch gewiß nicht zu beklagen. Ich muß ja von hier aus das Vestfjorddal zwischen den beiden Seen besuchen, muß den Gusta besteigen und einmal nach dem Rjukansos zurückkehren, denn wenn ich auch beinahe ein freiwilliges Sturzbad[81] in demselben genommen hätte, hab' ich ihn doch eigentlich wenig gesehen.... Und das möchte ich nicht unterlassen.
– Sie werden noch einmal dahin zurückkehren, Herr Sylvius, antwortete Hulda.
– Nun, wir begeben uns Alle dahin mit der guten Frau Hansen, vorausgesetzt, daß sie uns begleiten will. Ach, da fällt mir noch ein, daß wir auch Kate, meine alte, treue Haushälterin, und Fink, meinen alten Diener in Christiania, mit einigen Worten benachrichtigen müssen. Sie würden sehr unruhig werden, wenn sie von mir gar nichts hörten, und mir mit Recht böse sein. Nun aber muß ich Ihnen ein Geständniß ablegen. Die Erdbeeren, die schöne Milch – die sind recht angenehm, recht erquickend; als Nahrung reichen sie allein aber doch nicht aus, da ich mich nicht gern auf Krankendiät gesetzt sähe. Ist es für Sie bald Zeit, zu speisen?
– O, darauf kommt's ja nicht an, Herr Sylvius.
– Im Gegentheil, darauf kommt sehr viel an! Glauben Sie denn, ich wollte mich während meines Aufenthalts in Dal am Tische und in meinem Zimmer allein langweilen? Nein, ich will mit Euch und mit Eurer Mutter essen, wenn Frau Hansen nichts dagegen hat.«
Frau Hansen mußte, als man ihr diesen Wunsch des Professors mittheilte, wenn sie auch vielleicht lieber für sich allein geblieben wäre, demselben doch nachgeben; sie und die Ihrigen konnten es sich ja als eine Ehre anrechnen, einen Abgeordneten des Storthing mit am Tische zu haben.
»Es ist also abgemacht, erklärte Sylvius Hog, wir werden Alle zusammen im großen Zimmer speisen....
– Gewiß, Herr Sylvius, bestätigte Joël, und wenn das Essen bereit ist, werd' ich Sie gleich auf dem Lehnstuhle dahinbringen.
– Gut, gut, lieber Joël; aber warum denn nicht gleich mittelst Schuß? Nein, wenn ich einen Arm aufstützen kann, komme ich schon dahin. So viel ich weiß, bin ich doch nicht amputirt worden.
– Wie Sie wünschen, Herr Sylvius, antwortete Hulda, begehen Sie aber keine neue Unvorsichtigkeit, sonst müßte Joël doch noch den Arzt herbeiholen.
– Was? Drohungen?... Nun ja, ich werde schon vernünftig und ganz artig sein; und so lange ich nicht auf zu knappe Diät gesetzt bin, sollt Ihr an mir den folgsamsten Patienten haben. – Aber, liebe Freunde, habt Ihr denn noch gar keinen Hunger?[82]
– Es bedarf nur noch einer Viertelstunde, erwiderte Hulda, dann ist Alles fertig und wir können Ihnen mit einer Johannisbeersuppe, einer Forelle aus dem Maan, einem Feldhuhn, das Joël gestern aus Hardanger mitgebracht, und mit einer guten Flasche Wein aufwarten.
– Schön, mein liebes Kind, ich danke im Voraus!«
Hulda verließ ihn nun, um sich mit dem Essen zu beschäftigen und den Tisch im großen Zimmer zurecht zu machen, während Joël den Schußkarren wieder zum Werkführer Lengling schaffte.
Sylvius Hog blieb allein. Woran hätte er da denken sollen, als an die ehrbare Familie, deren Gast und Schuldner er jetzt gleichzeitig geworden war? Was konnte er thun, um die Dienstleistungen, die Pflege, die Hulda und Joël ihm gewidmet, zu vergelten? Vorläufig gewann er jedoch keine Zeit, sich längeren Betrachtungen hinzugeben, denn zehn Minuten später saß er schon auf dem Ehrenplatz am großen Tische. Das Essen war vortrefflich. Es rechtfertigte nach allen Seiten den guten Ruf des Gasthauses, und der Professor aß mit dem größten Appetit.
Der Abend verging nachher unter gemüthlichem Plaudern, an dem Sylvius Hog sehr regen Antheil nahm. An Stelle der Frau Hansen, welche sich nur sehr selten mit einmischte, veranlaßte er den Bruder und die Schwester zum Sprechen.
Die warme Theilnahme, welche er für sie empfand, konnte dabei nur noch zunehmen. Die beiden Geschwister vereinigte eine so zärtliche Freundschaft, daß der Professor davon wirklich gerührt wurde.
Als die Nacht herankam, begab er sich mit Hilfe Huldas und Joëls wieder nach seinem Zimmer, sagte den neuen Freunden, ebenso wie diese ihm, herzlich gute Nacht, und kaum hatte er sich in dem sauberen Bett mit den Sinnsprüchen ausgestreckt, da lag er auch schon in sanftem Schlummer.
Als Sylvius Hog am folgenden Morgen mit Tagesanbruch aufwachte, überließ er sich wieder seinem Nachdenken, ehe Jemand an der Thür klopfte.
»Nein, sagte er, ich weiß wahrlich nicht, wie ich mich abfinden soll. Man kann sich doch nicht retten, pflegen und heilen lassen, um das Alles mit einem »Schön Dank!« auszugleichen. Ich bin Hulda und Joël tief verpflichtet, das ist unbestreitbar, und doch sind das keine Dienste, die man mit Geld belohnen könnte! Pfui doch!... Andererseits scheint mir die ganze, aus so wackeren Leuten bestehende Familie so glücklich zu leben, daß ich zu ihrem Glück nichts[83] hinzuzufügen vermöchte. Nun, wir werden ja mit einander plaudern, und vielleicht führt mich das eher auf die rechte Fährte....«
Während der drei Tage, welche der Professor noch das verletzte Bein ruhig auf dem Schemel ausgestreckt halten mußte, plauderten denn auch alle Drei häufiger von Dem und Jenem; leider schienen sich beide Geschwister eine merkwürdige Zurückhaltung aufzuerlegen. Weder der Eine noch die Andere wollten sie etwas über ihre Mutter aussagen, deren kühlere und sorgenvolle Haltung Sylvius Hog recht wohl bemerkt hatte. Aus unerklärlichem Feingefühl hüteten sie sich sogar, ihm von der Angst, die sie wegen der verzögerten Rückkehr Ole Kamp's empfanden, etwas mitzutheilen, da sie Gefahr zu laufen fürchteten, ihrem Gaste durch Erzählungen von ihren Besorgnissen die gute Laune zu verderben.
»Indeß, äußerte Joël einmal zu seiner Schwester, thun wir doch vielleicht Unrecht daran, uns Herrn Sylvius nicht zu vertrauen. Er ist ein Mann, der uns wohl guten Rath ertheilen könnte, und bei seiner ausgebreiteten Bekanntschaft könnten wir durch ihn wahrscheinlich auch erfahren, ob man sich im Seeamte damit beschäftigt, klar zu stellen, was aus dem »Viken« geworden ist.
– Du hast Recht, meinte Hulda, ich denke auch, wir thun besser, ihm Alles zu sagen, nur wollen wir damit warten, bis er vollkommen wieder hergestellt ist.
– O, das kann ja nicht lange dauern!« erwiderte Joël.
Mit dem Ende der Woche brauchte Sylvius Hog schon keine Hilfe mehr beim Verlassen seines Zimmers, obwohl er noch ein wenig hinkte. Jetzt setzte er sich gern vor dem Hause auf eine im Schatten der Bäume stehende Bank. Von da aus konnte er den Gipfel des Gusta sehen, der im hellen Sonnenschein glänzte, während der Maan, der oft Holzstämme mit sich herabführt, zu seinen Füßen rauschte.
Hier sah man auch zuweilen Leute vorüberkommen, die von Dal nach dem Rjukansos gingen. Meist waren es Lustreisende, welche eine oder zwei Stunden im Gasthause der Frau Hansen Rast machten, um zu frühstücken oder zu Mittag zu essen. Daneben trafen auch, Tornister auf dem Rücken und die kleine norwegische Kokarde an der Mütze, einige Studenten von Christiania hier ein.
Diese kannten natürlich den Professor, und so hörte man immer und immer wieder ein fröhliches »Guten Tag« und herzliche Grüße, welche bewiesen, wie beliebt Sylvius Hog auch bei der ganzen akademischen Jugend war.
»O, Sie sind hier, Herr Sylvius?[84]
– Ja, liebe Freunde.
– Sie, den man tief drin in Hardanger wähnt?
– Das ist eine Täuschung. Eigentlich müßte ich im Grunde das Rjukansos liegen.
– O, gar das; nun, wir wollen überall melden, daß Sie sich in Dal befinden.
– Ja, in Dal... Und mit einem Bein in der Binde.
– Sie haben glücklicher Weise aber eine gute Lagerstatt und sorgsame Pflege im Hause der Frau Hansen gefunden?
– Wer könnte sich's besser erdenken?
– Gewiß, es gibt keine behaglichere Stelle.
– Und etwa wo bravere Menschen?
– Nein, die gibt's auch nicht!« erklärten freudig die Touristen.
Dann tranken wohl Alle auf die Gesundheit Huldas und Joëls, welche Beide in ganz Telemarken rühmlich bekannt waren.
Darauf berichtete der Professor sein Abenteuer und gestand seine Unbesonnenheit freimüthig ein, erzählte auch getreulich, wie er gerettet worden sei und wie viel Dankbarkeit er seinen Rettern schulde.
»Und wenn ich hier bleibe, bis meine Schuld abgetragen ist, setzte er lächelnd hinzu, dann, meine Herren, bleibt mein Staatsrechts-Colleg noch lange geschlossen und Sie können Ferien ohne Ende machen.
– Ah, Herr Professor, rief dann die lustige Gesellschaft; gewiß ist daran die reizende Hulda schuld, die Sie hier in Dal zurückhält.
– Ein liebenswürdiges Kind, meine Freunde, und bezaubernd obendrein, und ich – beim heiligen Olaf – ich bin auch erst sechzig Jahre alt!
– Auf das Wohlsein des Herrn Professor Hog!
– Und auf das Eure, junge Leute! Immer durchstreift das Vaterland, unterrichtet und belustigt Euch! In Eurem Alter ist es immer und überall schön! Aber hütet Euch vor dem Wege über den Maristien! Joël und Hulda könnten vielleicht nicht gleich zur Stelle sein, um die Unbesonnenen zu retten, die sich dahin gewagt hätten.«
Dann zog die muntere Schaar ab und noch lange hallte ihr »God aften« aus dem Thal zurück.
Dann und wann einmal mußte sich Joël aus dem Hause entfernen, um Lustreisenden, welche den Gusta besteigen wollten, als Führer zu dienen, und[85] Sylvius Hog hätte ihn wohl gern dabei begleitet. Er behauptete zwar, so gut wie geheilt zu sein, da die Schrunde an seinem Beine sich vernarbt hatte, Hulda widerrieth ihm aber gar zu ernstlich, sich einer für ihn jetzt noch viel zu großen Anstrengung auszusetzen, und wenn Hulda das sagte, mußte er schon gehorchen.
Es ist übrigens ein merkwürdiger Berg, dieser Gusta, dessen von schneeerfüllten Schluchten gestreifter Mittelkegel aus dichtem Tannenforst aufragt, wie aus einem grünen Kragen, der ihn unten vollständig umhüllt. Dazu bietet sein Gipfel einen wunderbar schönen, ausgedehnten Gesichtskreis, der im Osten den Bezirk von Numedal, im Westen ganz Hardanger mit seinen Gletschern umfaßt, während man dicht an seinem Fuße das vielfach gewundene Vestfjorddal zwischen dem Mjös- und Tinn-See, Dal mit seinen niedlichen Häusern, die wie einem Kinderspielzeugkasten entnommen aussehen, und den Lauf des Maan überblickt, welcher als spiegelndes Band da und dort aus dem Grün der ebenen Strecken hervorleuchtet.
Um eine solche Bergfahrt auszuführen, brach Joël schon Morgens fünf Uhr auf und traf gewöhnlich Abends um sechs Uhr wieder zu Hause ein. Sylvius Hog und Hulda gingen ihm dann entgegen und erwarteten ihn neben der Fährmannshütte. Hatte das urwüchsige Fahrzeug die Lustreisenden und deren Führer an's Ufer gesetzt, so wechselten die Drei einen herzlichen Händedruck und verbrachten zusammen wieder einen höchst angenehmen Abend. Der Professor schleppte zwar noch immer etwas den Fuß, doch er beklagte sich nicht und schien überhaupt nicht zu viel Eile zu haben, sich vollkommen wieder hergestellt zu sehen, da das ja fast gleichbedeutend mit dem Verlassen des gastlichen Hauses der Frau Hansen war.
Die Zeit verflog ihm übrigens auffallend schnell. Er hatte nach Christiania gemeldet, daß er sich noch einige Zeit in Dal aufzuhalten denke. Das Gerücht von seinem Abenteuer am Rjukansos war durch das ganze Land gegangen; die Blätter hatten es weiter erzählt und einzelne derselben es noch in ihrer eigenen Weise ausgeschmückt. Infoge dessen strömte – abgesehen von den Broschüren und Tagesblättern – eine ganze Menge Briefe nach dem Gasthause zusammen. Er mußte alle lesen, mußte auf die meisten antworten.
Sylvius Hog las, antwortete, und da er in seine Briefe gar so häufig die Namen Joëls und Huldas einfließen ließ, wurden auch diese bald in zweiter Linie in ganz Norwegen bekannt.[86]
Der Aufenthalt bei Frau Hansen konnte sich indeß nicht bis in's Unendliche verlängern. Doch Sylvius Hog war sich auch nach langem Zeitraume ebenso wenig wie bei seiner Ankunft darüber klar, wie es ihm möglich sein würde, seine Schuld abzutragen. Inzwischen fing er dagegen an zu muthmaßen, daß diese Familie doch nicht so glücklich sein möge, wie er immer geglaubt hatte. Die Ungeduld, mit der Bruder und Schwester jeden Tag den Postboten von Christiania oder von Bergen erwarteten, ihre Enttäuschung, ja, ihr Kummer, wenn sie sahen, daß derselbe niemals einen Brief für sie mitbrachte, waren zu deutliche Zeugen dafür.
Jetzt schrieb man schon den 9..Juni – und noch immer keine Nachricht über den »Viken«! Schon handelte es sich also um eine Verzögerung von über zwei Wochen nach dem für seine Heimkehr bestimmten Zeitpunkt. Nicht ein einziger Brief von Ole! Nichts, was den heimlichen Kummer Huldas hätte mildern können! Das arme Mädchen begann allmählich zu verzweifeln, und Sylvius Hog fand sie eines Morgens mit recht roth geweinten Augen.
»Was bedeutet das? fragte er sich. Ein Unglück, das man fürchtet und mir verhehlt? Betrifft es wohl ein Geheimniß der Familie, in das ein Fremder einzudringen nicht berechtigt ist? Doch bin ich für sie denn immer noch ein Fremder? Nein; das können sie doch selbst nicht glauben. Nun, wenn ich meine Wiederabreise ankündige, werden sie vielleicht deutlich einsehen, daß es ein wahrer Freund ist, der von ihnen scheidet.«
Noch an demselben Tage begann er also:
»Liebe Freunde, es naht nun der Zeitpunkt, wo ich zu meinem lebhaften Bedauern Euch doch endlich verlassen muß.
– Schon, Herr Sylvius, schon! rief Joël mit einer Lebhaftigkeit, die er kaum zu bemeistern vermochte.
– O, hier bei Euch vergeht Einem die Zeit gar zu geschwind. Jetzt weile ich schon seit siebzehn Tagen in Dal.
– Wie?... Siebzehn Tage? wiederholte Hulda.
– Ja, liebes Kind, und das Ende meines Urlaubs rückt heran. Ich habe jetzt kaum noch eine Woche übrig, die geplante Reise nach Drammen und Kongsberg auszuführen. Und doch verdankt das Storthing eigentlich nur Euch, daß ihm die Mühe erspart bleibt, meinen Deputirtenplatz mit einem Nachfolger zu besetzen, und das Storthing wird ebenso wenig wie ich selbst sich darüber klar werden können, welche Belohnung...[87]
– O, Herr Sylvius!... fiel ihm Hulda ins Wort, die ihm mit ihrer kleinen Hand den Mund verschließen zu wollen schien.
– Nun ja, ich gehorche, es ist mir ja verboten, davon zu sprechen... wenigstens hier!...
– Weder hier, noch sonstwo! sagte das junge Mädchen.
– Es sei; in dieser Angelegenheit bin ich eben nicht mein eigener Herr und muß mich unterwerfen; doch werden Sie und Joël nicht einmal nach Christiania kommen, um mich zu besuchen?
– Sie besuchen, Herr Sylvius?...
– Nun ja, mich besuchen.... Ein paar Tage in meinem Hause zu verbringen... natürlich zugleich mit Frau Hansen.
– Und wenn wir das Gasthaus verlassen, wer sollte demselben dann vorstehen?
– O, das Gasthaus bedarf Eurer, mein' ich, dann einmal nicht mehr, wenn die Reisezeit vorüber ist. Ich denke also, mit Ende Herbst müßte sich das ausführen lassen....
– Herr Sylvius, antwortete Hulda, das dürfte doch seine Schwierigkeiten haben....
– Nein, im Gegentheil, liebe Freunde, das geht ganz leicht. Antwortet mir nicht »Nein!«, eine Weigerung nehme ich nicht an. Und dann, wenn ich Euch erst da unten habe, im besten Zimmer meines Hauses, neben meiner alten Kate und meinem alten, treuen Fink, dann werdet Ihr wie meine Kinder sein und als solche müßt Ihr mir auch sagen, was ich vielleicht für Euch thun kann.
– Was Sie thun könnten, Herr Sylvius? erwiderte Joël, seiner Schwester einen Blick zuwerfend.
– Joël!... rief Hulda, welche den Gedanken des Bruders errieth.
– Sprechen Sie, junger Freund, sprechen Sie offen!
– Nun gut, Herr Sylvius, Sie könnten uns eine sehr große Ehre erweisen.
– Ich? Inwiefern?
– Etwas, was Ihnen nicht allzu viel Unbequemlichkeit auferlegte, Sie könnten der Hochzeit meiner Schwester Hulda beiwohnen...
– Ihrer Hochzeit? rief Sylvius Hog erstaunt. Wie, meine kleine Hulda will sich verheiraten, und mir hat man kein Sterbenswörtchen davon mitgetheilt?[88]
– Ach, Herr Sylvius!... seufzte das junge Mädchen, deren Augen sich mit Thränen füllten.
... Und wann soll diese Hochzeit stattfinden?
– Wann es Gott gefällt, uns Ole, Huldas Bräutigam, wieder heimzuführen!« antwortete Joël.[89]
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