Sechzehntes Capitel.
Harry Felton.

[166] Der Dampfer »Oregon« fuhr mit der Schnelligkeit von siebzehn Knoten in der Stunde und wurde durch prachtvolles Wetter begünstigt – eine nicht ungewöhnliche Erscheinung in diesem Theile des Stillen Oceans, besonders um diese Jahreszeit. Das tüchtige Schiff schien gleichsam die Ungeduld der Mrs. Branican und Zach Fren's zu theilen. Es ist selbstverständlich, daß die Passagiere, die Officiere und die Mannschaft dieser energischen und so tapferen Frau die größten Sympathien entgegenbrachten.

Als sich der »Oregon« in 33 Grad 51 Minuten südlicher Breite und 148 Grad 40 Minuten östlicher Länge befand, signalisirten die Wachen Land. Am 15. August fuhr er nach einer Fahrt von neunzehn Tagen, auf der siebentausend Meilen zurückgelegt wurden, in die Bai von Port-Jackson, dessen Felsen gleichsam ein offenes Thor gegen das Meer zu bilden. Dann glitt das Schiff an den kleinen Golfen, die mit Villen und Häusern besäet sind, vorüber und kam nach Darling-Harbour, dem eigentlichen Hafen von Sydney, an dessen Quai es anlegte.[166]

Als erster stieg ein Zollbeamter an Bord des Schiffes.

»Lebt Harry Felton? fragte Mrs. Branican.

– Er lebt,« erwiderte dieser Beamte, der ahnte, daß er Mrs. Branican vor sich hatte.

Wußte nicht ganz Sydney, daß sich diese muthige Frau auf dem »Oregon« eingeschifft hatte, und erwartete sie nicht die ganze Stadt mit der größten Ungeduld?

»Wo ist Harry Felton?

– Im Seehospiz.«

Mrs. Branican und Zach Fren schifften sich sogleich aus und die Menge begrüßte sie mit jener Ehrerbietung, die man ihr in San-Diego entgegenbrachte und überall auf der Erde entgegengebracht hätte.

Ein Wagen brachte sie zu dem Seehospiz, wo sie von dem diensthabenden Arzte empfangen wurden.

»Hat Harry Felton sprechen können?... Ist er bei Bewußtsein?... fragte Mrs. Branican.

– Nein, Mistreß, erwiderte der Arzt. Der Unglückliche ist noch nicht zu sich gekommen... Er kann wahrscheinlich nicht sprechen... Sein Leben kann stündlich erlöschen...

– Harry Felton darf nicht sterben! sagte Mrs. Branican. Er allein weiß, ob Capitän John, ob einige seiner Gefährten noch leben!... Er allein kann sagen, wo sie sind!... Ich bin wegen Harry Felton's hergekommen... um ihn zu hören...

– Mistreß, ich führe Sie sofort zu ihm,« erwiderte der Arzt.

In einigen Augenblicken befanden sie sich in dem Zimmer Harry Felton's.

Vor sechs Monaten durchzogen Reisende die Provinz Ulakarra in Neu-Südwales, an der südlichen Grenze von Queensland, und bemerkten, als sie an das linke Ufer des Parrn kamen, einen Mann an einem Baume liegen. Mit einigen Lumpen bedeckt, von Entbehrungen erschöpft und durch Anstrengungen gebrochen, konnte dieser Mensch nicht zum Bewußtsein gebracht werden; wenn sich nicht das Officierspatent in seiner Tasche vorgefunden hätte, so würde man nicht gewußt haben, wer der Unglückliche war.

Es war Harry Felton, der zweite Officier des »Franklin«.

Woher kam er? Aus welchem fernen, unbekannten Theile Australiens? Seit wann irrte er in diesen furchtbaren Einöden umher? Hatten ihn die Eingeborenen[167] gefangen genommen und konnte er nicht entfliehen? Wo hatte er seine Gefährten zurückgelassen? Er wird doch nicht der einzig Ueberlebende der seit vierzehn Jahren Verschollenen sein?... Alle diese Fragen harrten jetzt noch der Lösung.

Es erregte ein allgemeines Interesse, zu erfahren, woher Harry Felton käme, sein Leben seit dem Schiffbruche des »Franklin« kennen zu lernen und endlich eine Beschreibung der Katastrophe zu vernehmen.


... fuhr er in die Bai von Fort Jackson. (S. 166.)
... fuhr er in die Bai von Fort Jackson. (S. 166.)

Harry Felton wurde zur nächsten Bahnstation Oxley gebracht und von hier nach Sydney geführt. Der »Morning Herald«, der vor allen anderen Zeitungen von seiner Ankunft Kenntniß erhielt, brachte einen Artikel über ihn, den wir schon oben wiedergegeben haben.
[168]

... und bemerkten einen Mann an einem Baume liegen. (S. 167.)
... und bemerkten einen Mann an einem Baume liegen. (S. 167.)

Jetzt stand Mrs. Branican neben Harry Felton, den sie freilich nicht erkannt haben würde. Er war damals sechsundvierzig Jahre alt und man hätte ihn für sechzig gehalten. Er war der einzige Mensch – fast ein Leichnam – der etwas über Capitän John und seine Gefährten sagen konnte.

Die sorgfältigste Pflege hatte bis zu diesem Tage den Zustand Harry Felton's nicht zu bessern vermocht, woran sicher die furchtbaren Entbehrungen[169] Schuld waren, die er wochenlang – wer weiß? – vielleicht jahrelang durch ganz Centralaustralien ertragen hatte. Der Lebensfunke, der in ihm noch glimmte, konnte jeden Augenblick erlöschen.

So lange er in dem Seehospize war, hatte er kaum die Augen geöffnet, ohne daß man wußte, ob er sich von dem Rechenschaft gebe, was um ihn vorging. Man labte ihn ein wenig, er schien es nicht zu bemerken. Es war daher zu befürchten, daß die furchtbaren Leiden seine geistigen Kräfte so zerstört haben möchten, daß er sich an nichts mehr erinnerte; und doch hing von ihm die Rettung der Anderen ab, wenn sie noch lebten.

Mrs. Branican setzte sich an das Bett und achtete auf jede Bewegung der Augenlider, auf jede Bewegung der Lippen, auf das geringste Lebenszeichen. Zach Fren stand neben ihr und suchte irgend einen Lichtstrahl seines Geistes zu erhaschen, wie der Schiffer in dem dichten Nebel den Leuchtthurm sucht.

Aber dieses Licht leuchtete weder an diesem Tage noch an den folgenden. Die Augenlider des Kranken blieben beharrlich geschlossen, und wenn Dolly sie hob, so sah sie nur einen starren Blick.

Aber weder sie noch Zach Fren verzweifelten.

»Wenn Harry Felton die Frau seines Capitäns er kennt, sagte Zach Fren, so wird er sich auch verständlich machen können, ohne zu sprechen.«

Ja, es war wichtig, daß er Mrs. Branican erkenne, und möglicherweise auch auf seinen Zustand von heilsamen Folgen. Man würde daher mit der größten Vorsicht vorgehen, während er sich an die Anwesenheit Dollys gewöhnen würde....

Er würde das durch Zeichen angeben können, wenn ihm auch die Zunge versagte.

Obgleich man Mrs. Branican rieth, sich nicht stets in diesem Krankenzimmer aufzuhalten, so wollte sie sich doch keine Stunde der Ruhe, keinen Augenblick in der frischen Luft gönnen.

»Harry Felton kann sterben, und wenn das letzte Wort sich seinen Lippen entringt, so muß ich dabei sein, um es hören!... Ich weiche nicht von ihm!«

Gegen Abend schien sich an Harry Felton eine kleine Besserung zu zeigen. Er schlug manchmal die Augen auf, aber sein Blick fiel nicht auf Mrs. Branican. Und doch beugte sie sich über ihn und nannte seinen Namen, nannte John... nannte San-Diego!... Würden all diese Namen ihn nicht an seine Gefährten[170] erinnern?... Ein Wort... nur ein einziges Wort sollte er sprechen: »Leben sie?... Sind sie am Leben?«

Alles, was Harry Felton leiden mußte, bevor er hierher kam, litt vielleicht auch John, sagte sich Dolly... Dann dachte sie, daß John unterwegs zusammengebrochen sei... Aber nein, John hatte Harry Felton nicht folgen können... Er war dort unten geblieben... mit den Anderen... Wo?... Bei einem Australierstamme?... Wie hieß dieser Stamm?... Nur Harry Felton konnte diese Fragen beantworten und es schien. daß sein Gedächtniß geschwunden sei, seine Lippen verlernt hätten zu sprechen.

In der Nacht nahm die Schwäche Harry Felton's zu. Seine Augen öffneten sich nicht mehr, seine Hände wurden kalt, wie wenn das wenige Leben, das noch in ihm wohnte, sich zum Herzen zöge. Sollte er denn sterben, ohne ein Wort gesprochen zu haben?... Dolly fiel es ein, daß auch sie die Erinnerung und den Geist mehrere Jahre lang verloren hatte!... Auch von ihr konnte man damals nichts erfahren, wie man jetzt von diesem Unglücklichen nichts erfahren konnte... nichts, das er doch nur allein wußte!

Am folgenden Tage wendete der Arzt, den der Zustand des Bewußtlosen sehr beunruhigte, die stärksten Mittel an, die aber keine Wirkung hervorbrachten. Es konnte mit ihm nicht. mehr lange dauern....

Dann zerfielen die ganzen Hoffnungen der Mrs. Branican in ein Nichts!... An Stelle des Lichtes, das die Rückkehr Harry Felton's in diese Katastrophe zu bringen versprach, trat wieder die Dunkelheit!... Wann würde es gelingen, dieselbe zu erhellen?... Dann wäre Alles, Alles verloren!

Dolly ließ die berühmtesten Aerzte der Stadt an das Krankenbett Harry Felton's rufen, aber sie erklärten sich nach sorgfältigster Prüfung seines Zustandes für machtlos.

»Sie können für diesen Unglücklichen gar nichts thun? fragte Mrs. Branican.

– Nein, geehrte Frau, versetzte einer der Aerzte.

– Nicht einmal eine Minute ihn zum Bewußtsein zu bringen... eine Minute der Erinnerung?«

Für diese eine Minute hätte Mrs. Branican ihr ganzes Vermögen hingegeben. Aber was dem Menschen nicht mehr möglich ist, das kann Gott. An ihn muß sich der Mensch wenden, wenn alle menschliche Hilfe vergebens ist.[171]

Sobald die Aerzte das Zimmer verlassen hatten, knieten Dolly und Zach Fren nieder und beteten an dem Bette des Sterbenden.

Plötzlich rief Zach Fren, der sich dem Kranken genähert hatte, um sich zu versichern, ob sich noch ein leiser Athem den Lippen Harry Felton's entringe:

»Mistreß!... Mistreß!«

Dolly, welche glaubte, er habe nur noch einen Leichnam gefunden, erhob sich:

»Todt? sagte sie leise.

– Nein... Mistreß... Nein!... Da!... Seine Augen sind offen!... Er sieht!...«

Und wirklich erglänzten unter den erhobenen Lidern die Augen Felton's in ungewöhnlichem Lichte; sein Gesicht war leicht geröthet, seine Hände bewegten sich. Er schien aus jenem Starrkrampfe zu erwachen, worin er so lange gelegen hatte. Dann fiel sein Blick auf Mrs. Branican und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

»Er hat mich erkannt! rief Dolly aus.

– Ja!... erwiderte Zach Fren... Die Frau seines Capitäns steht neben ihm. Er weiß es... Er wird sprechen!...

– Und wenn er es nicht kann, so füge es Gott, daß er sich wenigstens verständlich machen kann!«

Sie nahm Harry Felton bei der Hand – sie fühlte einen leisen Druck der ihrigen...

»John?... John?«... fragte sie.

Eine Bewegung der Augen Harry Felton's zeigte, daß er sie gehört und verstanden hatte.

»Lebt er? fragte sie.

– Ja!«

So leise dieses Ja auch gesprochen wurde, sie hatte es doch gehört![172]

Quelle:
Jules Verne: Mistreß Branican. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LIX–LX, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 166-173.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon