Zweites Capitel.
Eine eigenthümliche Operation.

[221] Am folgenden Tag, dem 3. März, des Morgens trat Squambo in das Zimmer, in dem Zermah die Nacht verbracht hatte. Er übergab ihr etwas Nahrung – Brod, ein Stück kaltes Wildpret, Früchte, eine Kanne mit ziemlich starkem Bier, einen Krug mit Wasser und einiges Tischgeräth. Gleichzeitig stellte ein anderer Schwarzer in eine Ecke ein altes Möbelstück, das als Toilette und als Commode dienen konnte und etwas Leinenzeug, Tücher, Servietten und andere Gegenstände enthielt, von denen die Mestizin für das Kind und sich selbst Gebrauch machen sollte.

Dy schlief noch immer. Durch eine Handbewegung hatte Zermah Squambo gebeten, sie nicht zu wecken.

Als der Schwarze hinausgegangen war, wandte sich Zermah halblauten Tones an den Indianer:

»Was hat man mit uns vor? fragte sie.

– Das weiß ich nicht, antwortete Squambo.

– Welche Befehle habt Ihr von Texar erhalten?

– Ob diese nun von Texar oder sonst Jemand herrühren, thut nichts zur Sache, ich will sie Euch mittheilen, und Ihr werdet gut thun, dieselben streng zu beachten. So lange Ihr hier seid, wird dieses Zimmer das Eurige sein, und Ihr werdet während der Nacht in dem inneren Raume des Hauses eingeschlossen bleiben.[221]

– Und am Tage?...

– Könnt Ihr innerhalb der Umfriedigung gehen wohin Ihr wollt.

– So lange wir hier bleiben? erwiderte Zermah. Darf ich fragen, wo wir uns befinden?

– Da, wohin ich Euch zu führen beauftragt war.

– Und hier werden wir bleiben?

– Was ich zu sagen hatte, hab' ich gesagt, antwortete der Indianer, jedes weitere Wort ist unnütz – ich antworte nichts mehr.«

Squambo, der sich bestimmt nur an diesen kurzen Austausch von Worten zu halten hatte, verließ damit das Zimmer, in dem die Mestizin mit dem Kinde allein blieb.

Zermah betrachtete das kleine Mädchen.

Ihre Augen füllten sich dabei mit Thränen, welche sie aber sofort zu verwischen suchte. Bei ihrem Erwachen sollte Dy nicht sehen, daß sie geweint hätte. Das Kind mußte sich ja nothwendig an die neue Lage gewöhnen – eine Lage, die vielleicht eine höchst gefährdete war, denn von Seiten des Spaniers konnte man sich auf Alles gefaßt machen.

Zermah überdachte nun noch einmal Alles, was sich seit dem Vortage ereignet hatte. Sie hatte recht wohl gesehen, wie Frau Burbank und Miß Alice nach dem Ufer herantraten, während das Boot sich davon entfernte. Ihr verzweifelter Hilferuf, ihr herzzerreißendes Geschrei war gewiß bis zu diesen gedrungen. Doch hatten sie auch das Castle-House wieder erreichen, durch den Tunnel gelangen und in das belagerte Wohnhaus eindringen können, um James Burbank und seinen Genossen zu melden, welch' neues Unglück sie eben betroffen hatte? Konnten sie nicht vielmehr von den Leuten des Spaniers abgefangen, weit von Camdleß-Bay weggeschleppt oder gar ermordet worden sein? Wenn das der Fall war, konnte James Burbank nicht wissen, daß das kleine Mädchen mit Zermah entführt worden war. Er mußte in dem Glauben sein, daß seine Gattin, Miß Alice, das Kind und die Mestizin sich hatten an der Marino-Bucht einschiffen und den Cedernstein erreichen können, wo sie ja in Sicherheit waren. So würde er also gar nicht auf den Gedanken kommen, sogleich Nachforschungen nach ihnen anzustellen...

Doch wenn sie annahm, daß Frau Burbank und Miß Alice nach dem Castle-House hatten zurückkehren können und James Burbank Alles erfahren hatte, war dann nicht noch zu fürchten, daß die Wohnung von Angreifern[222] gestürmt, geplündert, angezündet und zerstört worden wäre? Gefangen oder todt – in beiden Fällen konnte Zermah von ihrer Seite auf keine Hilfe rechnen.

Selbst wenn die Nordstaatler Herren des Saint-John geworden waren, war und blieb sie verloren – weder Gilbert Burbank noch Mars würden, der Eine von seiner Schwester, der Andere von seiner Frau erfahren, daß sie auf diesem Eilande in der Schwarzen Bucht gefangen gehalten wurden!

Nun, wenn das der Fall war, wenn Zermah nur auf sich allein zählen konnte, so würde die Entschlossenheit dazu ihr doch niemals mangeln; sie würde Alles thun, um dieses Kind zu retten, das vielleicht Niemand Anderen mehr als sie auf der Welt hatte. Ihr ganzes Leben sollte sich in dem Gedanken concentriren: zu entfliehen. Keine Stunde sollte vergehen, ohne daß sie sich damit beschäftigte, die Mittel dazu vorzubereiten.

Und doch blieb die Frage bestehen, ob es nicht möglich sei, dieses kleine Fort, trotz der Ueberwachung desselben durch Squambo und seine Untergebenen, zu verlassen, den beiden wilden Spürhunden zu entgehen, welche um die Einfriedigung desselben streiften, und dieses hinter tausenden verworrenen Windungen der Lagune verlorene Eiland zu fliehen.

Gewiß war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, freilich konnte es nur unter der Bedingung glücken, daß einer der Sclaven des Spaniers, der die schmalen Wasserstraßen der Schwarzen Bucht genau kannte, dazu seinen Beistand bot.

Warum sollte nicht die Lockspeise einer reichlichen Belohnung einen dieser Leute veranlassen, Zermah bei ihrem beabsichtigten Entrinnen behilflich zu sein?... Nach dieser Seite hin hatte also die Mestizin zunächst alle ihre Bemühungen zu richten.

Inzwischen war die kleine Dy erwacht. Das erste Wort, was über ihre Lippen kam, war ein Ruf nach ihrer Mutter, dann ließ sie die Blicke verwundert durch den seltsamen Raum schweifen.

Jetzt mochte ihr wohl die Erinnerung an die Vorgänge des gestrigen Tages kommen. Sie bemerkte die Mestizin und lief zu ihr hin.

»Gute Zermah!... Gute Zermah!... stieß das kleine Mädchen halblaut hervor, ich fürchte mich... ich fürchte mich so sehr!...

– Du brauchst aber keine Furcht zu haben, mein Liebling.

– Wo ist die Mama?

– Sie wird kommen... bald!... Wir mußten auf unsere Rettung bedacht sein ... Du weißt es ja! Jetzt sind wir unter Schutz! Hier haben wir nichts zu[223] fürchten. Sobald Dein Vater genügend Unterstützung gefunden hat, wird er uns hier aufsuchen...«

Dy schaute Zermah an, als wollte sie sagen:

»Ist das auch wahr?

– Ja, ja, fuhr Zermah in ihrem Eifer, das Kind möglichst zu beruhigen, fort, ja, Herr Burbank hat selbst gesagt, daß wir ihn hier erwarten sollen.


»Was hat man mit uns vor?« (S. 221.)
»Was hat man mit uns vor?« (S. 221.)

– Aber die Männer, die uns in ihrem Schiffe mit fortgenommen haben?... erwiderte das kleine Mädchen.[224]

– Das sind Leute des Herrn Harvey, mein Schatz! Du weißt doch, Herr Harvey, der Freund Deines Papas, der in Jacksonville wohnt. Wir wohnen jetzt in dessen Landhaus zu Hampton-Red.


... schritten sie im vollen Sonnenscheine dahin. (S. 226.)
... schritten sie im vollen Sonnenscheine dahin. (S. 226.)

– Und Mama und Alice, die bei uns waren, warum sind die nicht mit hier?...

– Dein Vater hat sie zurückrufen lassen, als sie eben in's Boot steigen wollten... Besinne Dich nur.... Sobald jene schlechten Menschen von Camdleß-Bay wieder vertrieben sind, werden wir hier abgeholt werden... O nein doch...[225] weine nicht!... Aengstige Dich nicht, mein Herzenskind, wenn wir auch einige Tage hier aushalten müßten... Wir sind ja gut versteckt, nicht wahr?... Nun komm, ich will Dich ordentlich ankleiden.«

Dy sah ihre Zermah noch immer sehr zweifelnd an, und trotz der Trostesworte der Mestizin schluchzte sie doch bitterlich. Heute hatte sie nicht, wie sonst stets beim Aufwachen, zu lächeln vermocht.

Das Kind mußte nun vor Allem beschäftigt und zerstreut werden.

Zermah gab sich dieser Aufgabe mit wahrhaft rührender Zärtlichkeit hin. Sie besorgte deren Toilette mit derselben Aufmerksamkeit, als befände sich das Kind in seinem hübschen Zimmerchen des Castle-House, und gleichzeitig sachte sie dasselbe durch ihre Erzählungen zu unterhalten.

Dann aß Dy ein wenig und Zermah theilte dieses erste Frühstück mit ihr.

»Jetzt, meine Liebe, wollen wir, wenn Du Lust hast, einen kleinen Spaziergang unternehmen... innerhalb der Umfriedigung.

– Ist es denn schön, das Landhaus des Herrn Harvey? fragte das Kind.

– Schön?... Nein, das gerade nicht... antwortete Zermah. Es ist wohl mehr ein altes befestigtes Nest... Doch, es fehlt ihm gar nicht an Bäumen und auch nicht an einem Bache, wo wir lustwandeln können. Uebrigens bleiben wir nur wenige Tage hier, und wenn Du Dir hier die Zeit so gut als möglich vertreibst und reckt artig bist, dann wird Mama sich sehr freuen!

– Ja, gute Zermah... ja!...« antwortete das kleine Ding.

Die Thür des Zimmers war nicht durch einen Schlüssel verschlossen. Zermah ergriff die Hand des Kindes und Beide traten hinaus. Sie befanden sich damit in dem gedeckten und finsteren Mittelraum, einen Augenblick später aber schritten sie im vollen Sonnenlichte dahin, geschützt durch das Laubwerk der großen Bäume, welche die Strahlen der Sonne nur strichweise durchließen.

Der umfriedigte Raum war nicht groß – höchstens einen Acker, und das Blockhaus nahm den größten Theil desselben ein.

Die denselben abschließende Palissade verhinderte Zermah, die Lage des Eilandes inmitten der Lagune zu erkennen. Alles, was sie durch das alte Ausfallthor wahrnehmen konnte, beschränkte sich darauf, daß ein breiter Arm mit trübem Wasser es von den benachbarten Inseln trennte. Eine Frau und ein Kind konnten hier also nur sehr schwer entfliehen.

Selbst wenn Zermah sich hätte eines Bootes bemächtigen können, wie hätte sie sich durch diese zahllosen Krümmungen hindurch winden wollen? Sie wußte[226] dazu auch nicht, daß nur Texar und Squambo allein den richtigen Weg durch diesen Irrgang kannten.

Die im Dienste des Spaniers stehenden Schwarzen verließen die kleine Befestigung fast gar nicht und waren wohl nie wieder aus derselben herausgekommen, ja, sie wußten nicht einmal, wo ihr Herr sie eingeschlossen hielt. Um das Ufer des Saint-John zu finden, ebenso wie um nach den Sümpfen zu gelangen, welche die Bucht im Westen begrenzen, hätten sie sich auf den reinen Zufall verlassen müssen; auf diesen zu bauen, wäre aber gleichbedeutend mit dem gewissen Untergang gewesen.

Im Laufe der nächsten Tage überzeugte sich Zermah auch, daß sie der Sachlage nach von den Sclaven Texar's jedenfalls keinerlei Unterstützung zu erwarten habe.

Das waren nämlich zum größten Theile halbwilde Neger von abstoßendem Aussehen. Wenn sie der Spanier nicht an der Kette hielt, so konnten sie sich deshalb doch kaum frei bewegen. Da die Erzeugnisse des Landes aber ihnen hinreichende Nahrung gewährten und sie bei ihrer Vorliebe für starke Getränke von Squambo nach dieser Seite auch ziemlich reichlich versorgt wurden, während ihnen eigentlich nur die Bewachung des Blockhauses und im Nothfalle dessen Vertheidigung oblag, hatten sie kein eigentliches Interesse, ihre jetzige Existenz gegen eine andere zu vertauschen.

Die Sklavenfrage, welche nur wenige Meilen von der Schwarzen Bucht so überaus lebhaft erörtert wurde, war nicht dazu angethan, diese Leute zu erregen, die, wenn sie ihre Freiheit wieder erlangten, nicht einmal gewußt hätten, was sie damit anfangen sollten. Texar sicherte ihnen dagegen jetzt ihren Lebensunterhalt und Squambo mißhandelte sie auch nicht, obgleich er der Mann dazu gewesen wäre, jeden den Kopf zu zerschmettern, der ihn zu erheben gewagt hätte. Ein solcher Gedanke lag ihnen indeß ganz fern. Sie glichen fast Thieren und standen noch unter den Spürhunden, welche rings um die kleine Befestigung streiften; wenigstens ist es buchstäblich keine Uebertreibung, zu sagen, daß sie an Intelligenz diese Vierfüßler nicht erreichten. Letztere kannten wirklich die Bucht nach allen Richtungen und durchschwammen leicht die vielfachen Wasseradern derselben. Sie durchspürten, geleitet von einem wahrhaft wunderbaren Instinct, der sie niemals sich verirren ließ, ein Eiland nach dem anderen, und ihr Gebell tönte manchmal bis zum linken Ufer des Flusses hin. Immer aber kehrten sie mit Einbruch der Nacht nach dem Blockhause zurück. Kein Fahrzeug hätte in die Schwarze Bucht[227] eindringen können, ohne durch diese furchtbaren Wächter angemeldet zu werden, und außer Texar und Squambo hätte Niemand die Befestigung verlassen können, der nicht Gefahr laufen wollte, von diesen verwilderten Abkömmlingen der caraibischen Racehunde zerrissen zu werden.

Als Zermah erkannt hatte, einer wie scharfen Ueberwachung die ganze Umfriedigung unterlag, als sie sah, daß von denen, die sie selbst bewachten, eine Hilfe nicht zu erwarten war, hätte wohl jede Andere, welche minder muthig, minder thatkräftig war, sich der Verzweiflung überlassen – sie that das nicht. Entweder kam ihr Hilfe von außen, und in diesem Falle war eine solche nur von Burbank zu erwarten, der ja frei war, zu handeln, wie er wollte, oder von Mars, wenn der Mestize erfuhr, in welch' trostloser Lage seine Frau sich hier befand.

Ging das nicht in Erfüllung, so mußte sie sich freilich bezüglich ihrer eigenen Rettung und der des Kindes nur auf sich selbst verlassen; und auch dann hoffte sie noch zum Ziele zu kommen.

Tief in dieser unwirthlichen Lagune gefangen gehalten, sah sich Zermah nur von wild aussehenden Gestalten umgeben; dennoch glaubte sie zu bemerken, daß einer der Schwarzen, ein noch junger Mann, sie mit einem gewissen Mitleid zu betrachten schien, was ihr zuerst einen Schimmer von Hoffnung einflößte.

Dennoch schien es sehr zweifelhaft, ob sie sich ihm vertrauen, ihm die Lage von Camdleß-Bay beschreiben und ihn bestimmen könne, sich nach Castle-House zu begeben. Squambo bemerkte übrigens offenbar sehr zeitig diese Zeichen von Theilnahme seitens des Sclaven, denn letzterer wurde sofort von ihr entfernt gehalten, so daß Zermah ihn während ihrer Spaziergänge innerhalb der Umfriedigung nicht mehr traf.

So vergingen mehrere Tage, ohne eine Aenderung der Lage herbeizuführen.

Vom Morgen bis zum Abend genossen Zermah und Dy unbeschränkte Freiheit, sich nach Belieben zu bewegen; in der Nacht hätten sie, obwohl Squambo ihr Zimmer nicht eigentlich verschloß, aus dem Innenraume doch nicht entweichen können. Der Indianer sprach niemals mit ihnen, und auch Zermah hatte, darauf verzichten gelernt, eine Frage an ihn zu richten. Er verließ das Eiland keinen Augenblick.

Man fühlte hier sozusagen jede Minute überwacht zu sein, und Zermah's Sorgen wandten sich deshalb ausschließlich dem Kinde zu, das unaufhörlich nach einem Wiedersehen mit seiner Mutter verlangte.[228]

»Sie wird schon kommen!... antwortete Zermah. Ich habe von ihr Nachricht erhalten... Dein Vater kommt dann auch mit, mein Schatz, und Miß Alice ebenfalls...«

Doch wenn sie eine solche Antwort gegeben hatte, wußte das arme Geschöpf nicht mehr, was sie weiter erfinden sollte.

Dann bemühte sie sich nun, das kleine Mädchen, das einen für ihr Alter erstaunlichen Verstand erkennen ließ, passend zu zerstreuen.

Der 4., 5. und 6. März waren in dieser Weise vergangen. Obgleich Zermah fortwährend lauschte, ob ein entfernter Kanonendonner vielleicht das Eintreffen der föderirten Flottille auf den Gewässern des Saint-John verkündete, drang doch niemals das geringste Geräusch bis zu ihr. Die ganze Schwarze Bucht blieb in tiefes Schweigen gehüllt, woraus sich schließen ließ, daß die Soldaten der Union sich Florida noch nicht unterworfen haben konnten. Das beunruhigte die Mestizin im höchsten Grade; denn wenn James Burbank und den Seinigen die Umstände vielleicht nicht gestatteten, selbst handelnd aufzutreten, so konnte sie doch wenigstens auf das Eingreifen Gilberts und ihres Mannes Mars rechnen. Wenn deren Kanonenboote den Fluß einmal beherrschten, so würden jene die Ufer desselben durchsucht haben und sicherlich auch bis zu diesem Eilande vorgedrungen sein, selbst wenn sie Niemand aus Camdleß-Bay von den letzten Ereignissen unterrichtet hatte. Aber nichts deutete auf einen Kampf auf den Gewässern des Flusses hin.

Auffallend mußte es auch erscheinen, daß sich der Spanier noch nicht ein einziges Mal in der Befestigung weder am Tage noch in der Nacht gezeigt hatte. Zermah wenigstens hatte nichts bemerkt, was darauf hingedeutet hätte. Uebrigens schlummerte sie so gut wie niemals und während aller dieser langen Stunden qualvoller Schlaflosigkeit lauschte sie gespannt auf jeden Laut – bis jetzt aber immer vergebens.

Und doch, was hätte sie thun können, wenn Texar auch nach der Schwarzen Bucht gekommen wäre und sie vor sich gerufen hätte? Auf ihre Bitten, ihre Drohungen würde er doch nicht gehört haben, und so war die Anwesenheit des Spaniers vielleicht noch mehr zu fürchten als sein Fernbleiben.

Zum tausendsten Male überdachte Zermah alles das am Abend des 6. März.

Es mochte gegen elf Uhr sein. Die kleine Dy lag in kindlich friedlichem Schlummer.[229]

Im Zimmer, das ihnen als Aufenthalt diente, herrschte die tiefste Finsterniß. Kein Laut von außen drang herein, außer zuweilen das Pfeifen des Windes durch die halbverfallene Planke des Blockhauses.

In diesem Augenblicke glaubte die Mestizin im Mittelraume Schritte zu vernehmen. Zuerst setzte sie voraus, es werde der Indianer sein, der sein Zimmer aufsuchte, das dem ihrigen gegenüber lag, nachdem er seinen Rundgang um die Palissade gemacht hatte.

Da hörte Zermah aber auch einzelne Worte, welche zwischen zwei Personen gewechselt wurden. Sie näherte sich der Thüre, legte das Ohr an und erkannte die Stimme Squambo's und gleich darauf auch die Texar's.

Ein kalter Schauer überlief sie bei dem Gedanken, was der Spanier wohl um diese Stunde in der kleinen Befestigung vorhabe und ob es sich nicht um einen neuen Gewaltstreich gegen sie und das Kind handle. Vielleicht sollten sie aus ihrem Zimmer geholt und an einen noch weniger bekannten und noch unzugänglicheren Ort als hier, im Hintergrunde der Schwarzen Bucht, geschleppt werden.

Alle diese Vermuthungen schwirrten Zermah in einem Augenblick durch den Kopf.

Sofort aber gewann ihre Entschlossenheit wieder die Oberhand und, das Ohr fest an die Thür gedrückt, lauschte sie dem Gespräch.

»Nichts Neues? fragte Texar.

– Nichts, Herr, erwiderte Squambo.

– Und Zermah?

– Ich habe auf ihre Fragen keine Antwort gegeben.

– Sind seit dem Vorfalle auf Camdleß-Bay schon Versuche gemacht worden, bis zu ihr vorzudringen?

– Ja, aber stets ohne Erfolg.«

Aus dieser Antwort entnahm Zermah, daß doch Jemand nach ihnen gesucht haben müsse. Aber wer?

»Wie hast Du das erfahren? fragte Texar weiter.

– Ich habe mich wiederholt bis zum Ufer des Saint-John selbst begeben, erklärte der Indianer, und habe dort vor wenig Tagen ein Boot bemerkt, das vor der Oeffnung der Schwarzen Bucht kreuzte. Es ist sogar soweit gekommen, daß zwei Männer auf einem der Holme am Ufer an's Land gingen.

– Wer waren diese Beiden?[230]

– James Burbank und Walter Stannard.«

Zermah konnte kaum ihre innere Erregung zurückdrängen. James Burbank und Walter Stannard waren es gewesen! Die Vertheidiger des Castle-House hatten also bei jenem Angriffe auf die Ansiedlung nicht alle den Tod gefunden. Und wenn sie Nachforschungen anstellten, so mußten sie auch von der Entführung der Mestizin und des Kindes wissen. Wußten sie endlich davon, so mußten es Frau Burbank und Alice ihnen haben mittheilen können; diese Beiden lebten also ebenfalls; Beide hatten nach dem Castle-House zurückkehren können, nachdem sie den letzten von Zermah ausgestoßenen Schrei vernommen, mit dem sie gegen Texar um Hilfe rief. – James Burbank war also von dem unterrichtet, was vorgefallen war; er kannte den Namen des frechen Räubers; vielleicht muthmaßte er sogar, nach welchem geheimen Verstecke jener seine Opfer gebracht hatte, und dann konnte es gar nicht fehlen, daß er endlich einmal bis zu ihnen gelangte.

Diese Kette von Thatsachen knüpfte sich augenblicklich in Zermah's Geiste und erfüllte sie mit der frohesten Hoffnung – eine Hoffnung, die ihr freilich in derselben Minute geraubt werden sollte, als sie den Spanier antworten hörte:

»O sie mögen nur suchen, finden werden sie doch nichts! Im übrigen wird James Burbank binnen wenigen Tagen nicht weiter zu fürchten sein!«

Was diese Worte bedeuten sollten, konnte die Mestizin nicht verstehen; jedenfalls enthielten sie, ausgesprochen von dem Manne, dem jetzt der sogenannte Bürgerausschuß von Jacksonville gehorchte, eine ernste Bedrohung.

»Und nun, Squambo, brauch' ich Dich für eine Stunde, fuhr der Spanier fort.

– Ich stehe zu Eurem Befehl, Herr.

– Folge mir!«

Gleich darauf hatten sich Beide nach dem Zimmer zurückgezogen, das der Indianer gewöhnlich einnahm.

Was wollten sie da beginnen? Handelte es sich vielleicht um ein Geheimniß, aus dem Zermah Nutzen ziehen konnte?

In ihrer Lage durfte sie nichts vernachlässigen, was ihr irgendwie von Vortheil sein konnte.

Wir wissen schon, daß ihre Zimmerthür nicht verschlossen war, nicht einmal während der Nacht. Diese Vorsicht wäre überflüssig gewesen, weil der Mittelraum von innen sicher verwahrt war und Squambo den Schlüssel stets bei sich[231] trug. Es war also unter solchen Verhältnissen unthunlich, das Blockhaus zu verlassen und eine Flucht zu versuchen.

Zermah konnte also die Thür ihres Zimmers öffnen und mit verhaltenem Athem hinaustreten.

Rings dichte Finsterniß; nur aus dem Zimmer des Indianers drang ein leise zitternder Lichtschein heraus.

Zermah näherte sich der Thür und lugte durch die nicht ganz dicht aneinanderschließenden Bretter derselben.

Was sie da erblickte, war seltsam genug und erschien ihr das noch mehr, da sie den Grand dazu nicht zu begreifen vermochte.

Obgleich der Raum nur durch einen qualmenden Kerzenstumpf erhellt war, genügte das wenige Licht doch dem, mit einer ziemlich seinen Arbeit beschäftigten Indianer.

Texar saß nämlich vor ihm; das Lederjaquet hatte er ausgezogen und sein linker Arm lag entblößt auf einem kleinen Tische, so daß diesen der Lichtschein möglichst voll traf. Auf der inneren Seite seines Vorderarmes lag ein von seinen Löchern durchbohrtes Papier von merkwürdiger Form. Squambo stach dann mit seiner Nadel in die Haut an den durch die Löcher bezeichneten Stellen – kurz, der Indianer nahm eine Tättowirung vor – eine Operation, zu der ihm als Seminolen die nöthige Uebung gewiß nicht fehlte. Und in der That führte er dieselbe mit ebensolcher Geschicklichkeit als leichter Hand so aus, daß nur die Oberhaut von der Nadel getroffen wurde, ohne daß der Spanier dabei den mindesten Schmerz empfand.

Nach Vollendung dieses ersten Theiles seines Werkes nahm Squambo das Papier – die Schablone – weg; dann ergriff er einige Blätter einer von Texar selbst mitgebrachten Pflanze und rieb den Vorderarm seines Herrn damit tüchtig ein.

Der in die Nadelstiche eindringende Saft dieser Pflanze erregte dem Spanier doch ein schmerzhaftes Zucken, obwohl dieser nicht der Mann dazu war, sich wegen solcher Kleinigkeiten zu beklagen.

Hierauf rieb Squambo den tättowirten Arm noch mit einer Art Harz ein. Sofort trat auf dem Vorderarm Texar's eine deutliche röthliche Zeichnung hervor.

Die Linien derselben entsprachen vollständig den Nadelstichen in dem verwendeten Papiermuster – der Abklatsch war vorzüglich gelungen zu nennen. Er[232] bestand im Wesentlichen aus einer Reihe sich durchkreuzender Linien, welche eine symbolische Figur aus der Glaubenslehre der Seminolen darstellten.

Diese Zeichnung konnte von dem Arme, auf dem Squambo sie eben angebracht hatte, niemals wieder verschwinden.

Zermah hatte alles gesehen, aber, wie gesagt, den Grund dieser Vornahme nicht begriffen.


Dupont war in die Bai von Saint-Augustine eingelaufen. (S. 237.)
Dupont war in die Bai von Saint-Augustine eingelaufen. (S. 237.)

Welches Interesse konnte auch Texar haben, sich mit einer Tättowirung versehen zu lassen? Warum dieses »besondere Kennzeichen« – um ein Wort aus der auf Pässen üblichen Redeweise zu entlehnen? Wollte er gar für einen Indianer gelten? Dazu hätte weder seine Hautfarbe noch seine ganze äußere Erscheinung gepaßt. Oder sollte man diese Marke vielleicht in irgend eine Verbindung setzen mit der, welche einigen floridischen Reisenden beigebracht worden war, als diese im Westen der Grafschaft in die Hände einer Seminolen-Bande fielen? Wollte Texar sich etwa nur die Möglichkeit eines abermaligen Alibibeweises sichern, durch den er sich bisher immer aus mancher peinlichen Lage zu ziehen verstanden hatte?

Vielleicht war das Ganze eines der mit seinem Leben verknüpften Geheimnisse, welche erst die spätere Zukunft entschleiern sollte.

Zermah trat dabei aber auch noch eine andere Frage vor Augen.

War der Spanier wirklich nur nach dem Blockhaus gekommen, um sich der Geschicklichkeit Squambo's im Tättowiren zu bedienen? Würde er nach Vollendung dieser Operation die Schwarze Bucht wieder verlassen, um nach dem Norden Floridas und zweifelsohne nach Jacksonville zurückzukehren, wo seine Parteigänger jetzt noch die Herren waren? Oder ging seine Absicht dahin, bis zum nächsten Tage im Blockhause zu verbleiben, dann die Mestizin zu sich zu bescheiden und vielleicht bezüglich seiner beiden Gefangenen einen neuen Entschluß zu fassen?

In dieser Hinsicht sollte Zermah sehr schnell beruhigt werden. In dem Augenblicke, als der Spanier sich erhob, um den inneren größeren Raum zu betrachten, war sie eiligst nach ihrem Zimmer geflüchtet.

Da vernahm sie, an der Thür lehnend, die wenigen Worte, welche noch zwischen dem Indianer und seinem Herrn gewechselt wurden.

»Passe mir noch schärfer auf als je, sagte Texar.

– Gewiß, versicherte Squambo. Wenn uns James Burbank aber in der Schwarzen Bucht selbst zu sehr auf den Fersen wäre...[235]

– Ich wiederhole Dir, daß James Burbank nach wenigen Tagen überhaupt nicht mehr zu fürchten sein wird. Sollte jener Fall unerwarteter Weise eintreten, so wißt Ihr ja, wohin die Mestizin mit dem Kinde zu schaffen ist... Dahin, wo nur ich Dich wiederfinde.

– Jawohl, Herr, antwortete Squambo, denn es ist auch die Möglichkeit vorzusehen, daß Gilbert, der Sohn James Burbank's, und Mars, der Mann Zermah's...

– Binnen achtundvierzig Stunden sind sie in meiner Gewalt, unterbrach ihn Texar; und wenn ich sie einmal habe...«

Zermah konnte das Ende dieser für ihren Mann wie für Gilbert so bedrohlichen Phrase nicht mehr verstehen.

Texar und Squambo verließen die kleine Festung, deren Thor sich hinter ihnen schloß.

Wenig Minuten später verließ das von dem Indianer geführte Skiff das Eiland, wandte sich durch die düsteren Strömungen der Lagune und traf dann mit einem Boote zusammen, das den Spanier an der Oeffnung der Bucht im Saint-John erwartete. Nachdem er dem Indianer nochmals die größte Aufmerksamkeit empfohlen, schied der Spanier von diesem und fuhr, von der Ebbe unterstützt, rasch in der Richtung nach Jacksonville hinunter.

Hier traf er mit dem Tagesgrauen und noch rechtzeitig ein, um seine geheimen Pläne zur Ausführung zu bringen. In der That verschwand wenige Tage später Mars unten den Fluthen des Saint-John und Gilbert Burbank war unter seiner Mitwirkung zum Tode verurtheilt worden.

Quelle:
Jules Verne: Nord gegen Süd. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LII–LIII, Wien, Pest, Leipzig 1889, S. 221-236.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Nord gegen Süd
Nord gegen Süd
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