Fünfzehntes Capitel.
Hyperbel oder Parabel.

[134] Man staunt vielleicht, wie Barbicane und seine Gefährten so wenig in Sorgen waren um das Schicksal, welches ihnen in diesem metallenen Gefängniß inmitten des unendlichen Aetherraums bevorstand. Anstatt sich die[134] Frage zu stellen, wohin sie fuhren, verbrachten sie ihre Zeit mit Experimenten, als befänden sie sich ruhig in ihrem Arbeitszimmer.

Man könnte erwidern, daß Männer von so starker Natur über solche Sorgen hinaus waren, daß eine solche Kleinigkeit sie nicht beunruhigte, und daß sie anderes zu thun hatten, als sich um ihr zukünftiges Schicksal Kummer zu machen.

Der wahre Grund aber war, daß sie ihres Projectils nicht Meister waren, daß sie weder seinen Lauf hemmen, noch seine Richtung ändern konnten. Ein Seemann ändert nach Belieben die Richtung seines Schiffes; ein Luftschiffer kann die senkrechte Bewegung seines Ballons ändern. Sie dagegen konnten gar nicht auf ihr Fahrzeug einwirken, und mußten es daher gewähren lassen.

Wo befanden sie sich in diesem Augenblick, um acht Uhr früh an dem Tage, der auf der Erde der sechste December heißt? Ganz gewiß in der Nähe des Mondes, und selbst so nahe, daß er ihnen wie ein ungeheurer schwarzer Schirm am Firmament vorkam. Ihre Entfernung von demselben konnte man nicht schätzen. Das Projectil war, von unerklärlichen Kräften bestimmt, keine fünfzig Kilometer weit am Nordpol des Trabanten vorbeigestreift. Aber hatte seit den zwei Stunden, da es in den Schattenkegel gekommen, diese Entfernung zu- oder abgenommen? Es fehlte an jedem Merkzeichen, um die Richtung und Geschwindigkeit des Projectils zu schätzen. Vielleicht entfernte es sich rasch von der Mondscheibe, so daß es bald aus dem tiefen Schatten heraus kam. Vielleicht dagegen näherte es sich derselben merklich, so daß es über kurz oder lang an einer hohen Bergspitze der unsichtbaren Hemisphäre anstieß; wodurch die Reise, allerdings zum Verderben der Reisenden, ihr Ende erreichte.

Es entstand darüber eine Erörterung, und Michel Ardan, dem es nie an Erklärungen mangelte, ließ die Meinung vernehmen, die Kugel werde, von der Anziehungskraft des Mondes bestimmt, endlich auf denselben fallen, wie ein Meteorstein auf die Erde.

»Erstlich, mein Freund, erwiderte Barbicane, fallen die Meteorsteine nicht alle zur Erde, sondern nur ein kleiner Theil derselben. Sollten wir uns also in der Lage eines solchen befinden, so würde das nicht zur Folge haben, daß wir nothwendig auf die Oberfläche des Mondes fallen müßten.

– Jedoch, erwiderte Michel, wenn wir nahe genug kommen ...


Ein Disput. (S. 138.)
Ein Disput. (S. 138.)

– Irrthum, entgegnete Barbicane. Hast Du nicht gesehen, wie zu Zeiten Tausende von Sternschnuppen am Himmel streifen?

– Ja.[135]

– Nun diese Sterne, oder vielmehr Körperchen, schimmern nur, im Falle sie durch die Luftschichten gleitend sich erhitzen. Nun befinden sie sich, wenn sie durch die Atmosphäre streifen, keine sechzehn Lieues vom Erdball entfernt, und fallen doch selten auf denselben. Eben so ist's möglich, daß unser Projectil dem Mond sehr nahe kommt und doch nicht darauf fällt.


Vor der verderbensprühenden Gluth. (S. 143.)
Vor der verderbensprühenden Gluth. (S. 143.)

[136] – Aber dann, fragte Michel, wäre ich sehr begierig zu wissen, wie es unserem herumschweifenden Fahrzeuge im Weltraume ergehen wird.

– Ich sehe nur zwei Fälle, erwiderte Barbicane nach kurzem Bedenken.

– Welche?

– Das Projectil hat die Wahl zwischen zwei mathematischen Curven, und wird, je nach der Schnelligkeit, welche ihm einwohnt und die ich eben nicht schätzen kann, eine von beiden einschlagen.[137]

– Ja, sagte Nicholl, es wird entweder eine Parabel, oder eine Hyperbel beschreiben.

– So ist's, erwiderte Barbicane. Mit einer gewissen Geschwindigkeit wird's eine Parabel beschreiben, für eine Hyperbel braucht es eine weit größere.

– Solche stattliche Ausdrücke gefallen mir, rief Michel Ardan. Man weiß damit doch gleich, woran man ist. Und wollen Sie mir gefälligst sagen, was eine Parabel ist?

– Mein Freund, erwiderte der Kapitän, die Parabel ist eine krumme Linie zweiter Ordnung, welche sich ergiebt, wenn man einen Kegel parallel mit einer seiner Seiten durchschneidet.

– So! So! sagte Michel in einem Ton, als sei er befriedigt.

– Es ist das, fuhr Nicholl fort, ungefähr die Bahn, welche eine von einem Mörser geworfene Bombe beschreibt.

– Ganz recht. Und die Hyperbel? fragte Michel.

– Die Hyperbel, Michel, ist eine krumme Linie zweiter Ordnung, welche gebildet wird, wenn man eine konische Fläche parallel mit der Achse des Kegels durchschneidet, wodurch zwei von einander getrennt laufende Linien entstehen, die in beiden Richtungen ins Unendliche hinauslaufen.

– Ist's möglich! rief Michel Ardan im ernstesten Ton, als hätte er ein wichtiges Ereigniß erfahren. Dann merke Dir wohl, Kapitän, es gefällt mir an Deiner Definition der Hyperbel – Hyperblage1 hätte ich beinahe gesagt –, daß sie noch weniger verständlich ist, wie der Ausdruck, welchen Du zu erklären meinst!«

Nicholl und Barbicane beachteten die Scherze Michel Ardan's wenig. Sie waren in einem wissenschaftlichen Disput begriffen, und die Frage, welche Art von krummer Linie das Projectil verfolge, erhitzte sie, indem der Eine es mit der Hyperbel hielt, der Andere mit der Parabel. Ihre Gründe waren mit X gespickt. Ihre Beweise wurden in einer Sprache beigebracht, die für Michel widerlich war. Der Streit war lebhaft, indem keiner der Gegner dem anderen die von ihm bevorzugte Linie opfern wollte.

Da der Streit fortdauerte, verlor Michel die Geduld.

»Aber, meine Herren von Cosinus, hören Sie endlich auf, sich Parabeln und Hyperbeln an den Kopf zu werfen? Wir werden eine Ihrer Curven einschlagen. Gut. Aber, wohin werden sie zurückführen?[138]

– Nirgends hin, erwiderte Nicholl.

– Wie? Nirgends!

– Offenbar, sagte Barbicane. Es sind nicht geschlossene Curven, die sich bis in's Unendliche verlängern!

– Ah! Ihr Gelehrten, ich hab' meine Freude an Euch! Doch was liegt mir daran, ob Parabel oder Hyperbel, wenn eine wie die andere mich in den unendlichen Raum führt!«

Barbicane und Nicholl konnten das Lachen nicht halten.

Es war doch eine recht müßige Frage zu einem ungelegenen Zeitpunkt. Das Traurige der Wahrheit bestand darin, daß das Projectil, parabolisch und hyperbolisch, niemals, weder auf der Erde, noch auf dem Mond anlangen sollte.

Was stand nun aber den kühnen Reisenden in aller Kürze bevor? Starben sie nicht aus Hunger oder Durst, so mußten sie in einigen Tagen aus Mangel an Luft umkommen, falls nicht zuvor aus Kälte!

Indessen, soviel darauf ankam Gas zu sparen, nöthigte doch der äußerst niedrige Grad der Temperatur um sie her einen Theil desselben zu verbrauchen. Im schlimmsten Fall konnten sie Licht entbehren, nicht aber Wärme. Zum Glück entwickelte auch der Apparat Reiset und Regnaut Wärmestoff, welcher die Temperatur im Projectil etwas erhöhte, und man konnte ohne großen Aufwand sie auf einem erträglichen Höhegrad erhalten.

Jedoch waren die Beobachtungen durch die Fenster sehr schwierig geworden. Die Feuchtigkeit gefror an dem Glas augenblicklich, und man mußte die Verdüsterung desselben durch beständiges Reiben beseitigen. Doch konnte man einige höchst wichtige Thatsachen constatiren.

In der That, wenn die unsichtbare Seite mit einer Atmosphäre versehen war, mußte man nicht Sternschnuppen sie durchstreifen sehen? Wenn das Projectil selbst durch ihre Schichten drang, sollte man da nicht einiges Geräusch vernehmen vom Widerhall des Echo, vom Heulen eines Sturmes, z.B. das Getöse einer Lavine, den Lärm eines thätigen Vulkans? Und wenn ein feuerspeiender Berg Blitze auswarf, sollte man dann nicht den lebhaften Glanz derselben wahrnehmen? Dergleichen Thatsachen, sorgfältig richtig gestellt, hätten die dunkle Frage der Beschaffenheit des Mondes ausnehmend beleuchtet. Daher stellten auch Barbicane und Nicholl gleich Astronomen an dem Fenster mit äußerster Geduld ihre Beobachtungen an.[139]

Aber bis dahin blieb die Mondscheibe stumm und düster. Sie antwortete nicht auf die vielfachen Anfragen, welche diese eifrigen Geister an sie stellten.

Dies veranlaßte die anscheinend so gerechtfertigte Bemerkung Michel's:

»Machen wir je die Reise nochmals, so wird es gerathen sein, die Zeit des Neumonds dafür zu wählen.

– In der That, erwiderte Nicholl, würde dieser Umstand günstiger sein. Ich gebe zu, daß der Mond, von den Sonnenstrahlen überfluthet, während der Ueberfahrt nicht sichtbar sein würde, dagegen aber würde man die Erde in vollem Licht sehen. Ferner, wenn wir um den Mond herum führen, wie gegenwärtig, so hätten wir wenigstens den Vortheil, die unsichtbare Seite in prächtiger Erleuchtung zu sehen!

– Richtig, Nicholl, versetzte Michel Ardan. Was meinst Du, Barbicane?

– Meine Meinung ist folgende, erwiderte der ernste Präsident: Sollten wir je die Fahrt noch einmal machen, so werden wir zu der nämlichen Zeit und unter den nämlichen Bedingungen abreisen. Nehmen Sie an, wir hätten unser Ziel erreicht, wäre es nicht besser gewesen, Continente in voller Beleuchtung zu treffen, anstatt eine in finsterer Nacht versenkte Gegend? Würde dann nicht unsere erste Einrichtung unter günstigeren Verhältnissen getroffen worden sein? Ja, offenbar. Diese unsichtbare Seite würden wir während unserer Forschungsreisen auf dem Mond besucht haben. Es war also diese Zeit des Vollmonds glücklich gewählt. Aber wir mußten an's Ziel kommen, und dafür durften wir nicht von der Bahn abkommen.

– Darauf ist nichts zu erwidern, sagte Michel Ardan. Doch ist nun eine schöne Gelegenheit verfehlt, die andere Seite des Mondes zu beobachten! Wer weiß, ob nicht die Bewohner der anderen Planeten weiter fortgeschritten sind, als die Gelehrten der Erde bezüglich ihrer Trabanten.«

Auf diese Bemerkung Michel Ardan's hätte man leicht folgende Antwort geben können: Ja, andere Trabanten sind wegen größerer Nähe leichter zu studiren. Die Bewohner des Saturn, Jupiter und Uranus, wenn es deren giebt, haben es leichter gehabt, Verbindung mit ihren Monden anzuknüpfen. Die vier Trabanten Jupiter's gravitiren in einer Entfernung von hundertachttausendzweihundertundsechzig Lieues, hundertzweiundsiebenzigtausendzweihundert Lieues, zweihundertvierundsiebenzigtausendsiebenhundert Lieues und vierhundertachtzigtausendhundertunddreißig Lieues. Aber diese Entfernungen sind vom Centrum des Planeten aus gerechnet, und bringt man den Betrag[140] der Radiuslänge von siebenzehn bis achtzehntausend Lieues in Abzug, so sieht man, daß der erste Trabant nicht so weit von der Oberfläche des Jupiter entfernt ist, als der Mond von der Erdoberfläche. Von Saturn's acht Trabanten sind vier ebenfalls näher; Diana vierundachtzigtausendsechshundert Lieues, Thetys zweiundsechzigtausendneunhundertsechsundsechzig Lieues; Enceladus achtundvierzigtausendhunderteinundneunzig, und endlich Mimas nur vierunddreißigtausendfünfhundert Lieues entfernt. Von Uranus' acht Trabanten ist der erste, Ariel, nur einundfünfzigtausendfünfhundertundzwanzig Lieues von seinem Planeten.

Demnach hätte auf der Oberfläche dieser drei Gestirne ein Versuch wie der des Präsidenten Barbicane geringere Schwierigkeiten gehabt. Wenn also ihre Bewohner die Unternehmung versucht haben, so haben sie vielleicht die Beschaffenheit der Hälfte der Scheibe, welche ihr Trabant ihren Blicken ewig entzieht, kennen gelernt2. Aber wenn sie niemals ihren Planeten verlassen haben, so sind sie vor den Astronomen der Erde nicht voran.

Indessen beschrieb die Kugel im Dunkel die unberechenbare Bahn, welche durch kein Merkzeichen aufzunehmen möglich war. Hatte sich seine Richtung verändert, sei's durch die Anziehungskraft des Mondes oder die Einwirkung eines unbekannten Gestirns? Barbicane konnte es nicht sagen. Aber in der Lage des Projectils war eine Aenderung vorgegangen, worüber Barbicane gegen vier Uhr Morgens Gewißheit bekam.

Das Bodenstück desselben hatte sich nämlich der Oberfläche des Mondes zugekehrt, und hielt sich senkrecht gemäß seiner Achse. Diese Aenderung war eine Wirkung der Anziehung, d.h. der Schwere. Der schwere Theil neigte sich der unsichtbaren Mondscheibe zu, gerade als wenn es im Fallen begriffen sei.

Fiel es denn wirklich? Sollten die Reisenden endlich dies so ersehnte Ziel erreichen? Nein. Die Beobachtung eines übrigens ziemlich unerklärlichen[141] Merkzeichens offenbarte Barbicane, daß sein Projectil sich dem Mond nicht näherte, und daß es in Gemäßheit einer fast concentrischen Curve seine Stelle veränderte.

Dieses Merkzeichen war ein Lichtglanz, welchen Nicholl plötzlich an der Grenze des von der schwarzen Scheibe gebildeten Horizonts gewahrte. Dieser Punkt konnte nicht mit einem Stern verwechselt werden. Es war ein röthlich weißglühender Gegenstand, der allmälig größer ward, ein deutlicher Beweis, daß das Projectil demselben näher kam, und nicht senkrecht auf die Oberfläche des Gestirns fiel.

»Ein Vulkan! ein thätiger Vulkan! rief Nicholl, eine Ergießung der Feuer im Inneren des Mondes! So ist also diese Welt noch nicht ganz erloschen.

– Ja! ein feuerauswerfender Gegenstand, erwiderte Barbicane, der die Erscheinung mit seinem Fernrohr sorgfältig beobachtete. Was sollt' es auch in der That sein, wenn nicht ein Vulkan?

– Aber dann, sagte Michel Ardan, ist Luft nöthig, um dies Verbrennen zu unterhalten. Folglich ist dieser Theil des Mondes von Atmosphäre umgeben.

– Vielleicht, erwiderte Barbicane, aber nothwendig ist es nicht der Fall. Der Vulkan kann sich durch Auflösung gewisser Stoffe selbst seinen Sauerstoff schaffen, und demnach Flammen in den leeren Raum ergießen. Es kommt mir sogar vor, als habe dieses Verbrennen die Stärke und den Glanz von Gegenständen, die im bloßen Sauerstoff verbrennen. Wir wollen also nicht übereilt das Vorhandensein einer Atmosphäre auf dem Mond behaupten.«

Der feuerspeiende Berg mußte ungefähr unterm fünfundvierzigsten Grad südlicher Breite der unsichtbaren Seite des Mondes liegen. Aber zu großem Leidwesen Barbicane's zog die Curve, welche das Projectil beschrieb, ihn ab von dem durch den Feuerausbruch hervorgehobenen Punkt. Er konnte daher nicht genauer seine Natur bestimmen. Eine halbe Stunde, nachdem man ihn gewahrt hatte, verschwand dieser leuchtende Punkt hinter dem dunkeln Horizont. Doch war die Feststellung dieses Punktes eine bedeutende Thatsache innerhalb der selenographischen Studien. Es lag darin der Beweis, daß noch nicht alle Wärme aus dem Inneren dieses Weltkörpers verschwunden war, und da, wo Wärme existirt, wer kann behaupten, daß das Pflanzenreich, das Thierreich selbst den zerstörenden Einflüssen bisher nicht Widerstand geleistet habe? Die Existenz dieses im Ausbruch begriffenen Vulkans, unbestreitbar von Gelehrten[142] der Erde erkannt, hätte ohne Zweifel viele Theorien zu Gunsten dieser wichtigen Frage der Bewohnbarkeit des Mondes veranlaßt.

Barbicane ließ sich von seinen Gedanken fortreißen. Er vergaß sich in einem stummen Träumen, worin sich die geheimnißvollen Geschicke der Mondwelt bewegten. Er trachtete die bisher beobachteten Thatsachen mit einander zu verbinden, als ein neues Ereigniß ihn schroff an die Wirklichkeit erinnerte.

Dieses Ereigniß, mehr als ein kosmisches Phänomen, enthielt eine drohende Gefahr, welche von verderblichen Folgen sein konnte.

Plötzlich zeigte sich, mitten im Aether, im tiefen Dunkel eine enorme Masse. Sie glich einem Mond, aber in voller Gluth und von einem Glanz, der um so mehr unerträglich war, als er gegen das stockfinstere Dunkel des Raumes grell abstach. Diese kreisförmige Masse erhellte mit ihrem Lichtglanz das Projectil dergestalt, daß das Angesicht Barbicane's, Nicholl's, Michel Ardan's, von den weißen Strahlen übergossen, das bleiche, bleifarbige, gespensterhafte Aussehen bekam, wie es von Naturkundigen durch Alkohol mit aufgelöstem Salz künstlich hervorgebracht wird.

»Tausend Teufel! schrie Michel Ardan, aber wie häßlich sehen wir aus! Was ist's mit dem unglückseligen Mond?

– Ein Bolide, erwiderte Barbicane.

– Ein Bolide, brennend im leeren Raum?

– Ja.«

Diese Feuerkugel war wirklich ein Bolide. Barbicane irrte sich nicht. Aber wenn diese kosmischen Meteore von der Erde aus betrachtet im Allgemeinen ein etwas matteres Licht zeigen, als der Mond, so glänzen sie hell in dem Dunkel des Aethers. Diese umherschweifenden Körper enthalten in sich selbst die Grundstoffe, um in Gluth zu gerathen, so daß eine Umgebung von Luft zu ihrem Verbrennen nicht nöthig ist. Wenn von diesen Boliden manche zwei bis drei Meilen weit in die Erdatmosphäre hinein gerathen, so beschreiben dagegen andere ihre Bahn in einer weiten Entfernung, wohin die Atmosphäre nicht mehr dringt. Ein solcher Bolid erschien am 27. October 1844 in einer Höhe von hundertachtundzwanzig Lieues, ein anderer verschwand am 15. August 1841 in einer Entfernung von hundertzweiundachtzig Lieues. Manche von diesen Meteoren sind drei bis vier Kilometer breit, und fahren[143] so rasch, daß sie in einer Secunde bis zu fünfundsiebenzig Kilometer3 zurück legen, und zwar in einer der Erdbewegung entgegengesetzten Richtung.


Die Feuerkugel zerplatzte. (S. 146.)
Die Feuerkugel zerplatzte. (S. 146.)

Dieser schweifende Körper, welcher in einer Entfernung von mindestens hundert Lieues plötzlich erschien, mußte nach Barbicane's Schätzung einen Durchmesser von zweitausend Meter haben. Er bewegte sich mit einer Schnelligkeit[144] von ungefähr zwei Kilometer in der Secunde, das ist dreißig Lieues in der Minute. Er durchschnitt die Bahn des Projectils und mußte in einigen Minuten mit ihm zusammentreffen. Wie er näher kam, nahm seine Größe erstaunlich zu.


Wiederkehr zum Sonnenlicht. (S. 149.)
Wiederkehr zum Sonnenlicht. (S. 149.)

Man versetze sich, wenn es möglich, in die Lage der Reisenden. Schildern läßt sie sich nicht. Trotz ihres Muthes, ihrer Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit waren sie stumm, regungslos, die Glieder krampfhaft zusammengezogen, einer fürchterlichen Bestürzung hingegeben. Ihr Projectil, auf dessen Lauf[145] sie nicht einwirken konnten, fuhr geraden Wegs auf diese feurige Masse los, deren Gluth stärker war, als die aus dem offenen Schlund eines Glühofens sprühende. Es schien jäh in einen feurigen Abgrund zu gerathen.

Barbicane faßte seine beiden Genossen bei der Hand, und alle Drei blickten mit halbgeöffneten Augen nach dem weißglühenden Asteroiden. War ihnen die Denkkraft nicht vernichtet, war inmitten des Schreckens ihr Gehirn noch thätig, so mußten sie sich für verloren halten!

Zwei Minuten nach der plötzlichen Erscheinung des Boliden, zwei Jahrhunderte der Angst! Das Projectil schien im Begriff mit ihm zusammen zu stoßen, als die Feuerkugel gleich einer Bombe zerplatzte, aber ohne alles Geräusch, weil in diesem leeren Raum ein Ton, der nur eine Erschütterung der Luftschichten ist, sich nicht bilden konnte.

Nicholl schrie laut auf, und stürzte mit seinen Gefährten an das Fenster. Welcher Anblick! Welche Feder wäre fähig, welche Palette mit Farben genug versehen, um die Pracht dieses Schauspiels darzustellen! Es glich einem feuerspeienden Krater, einem funkensprühenden ungeheuren Brand! Tausende lichtglänzende Trümmer erleuchteten und bestrahlten den Raum mit ihrem Feuer; sie fuhren in allen Größen und Farben durcheinander; Ausstrahlungen in gelblich gelb, roth, grün, grau, gleich einem Kranz bunten Kunstfeuerwerks. Von der enormen fürchterlichen Kugel blieb nichts übrig, als diese nach allen Richtungen hin zerstiebenden Stücke, welche wiederum Asteroiden wurden, die einen blitzend wie ein Schwert, die anderen von weißlichem Gewölk umgeben, andere mit glänzenden Streifen kosmischen Staubes hinter sich.

Diese glühenden Blöcke fuhren durcheinander, widereinander, zersplitterten in kleinere Stücke, von denen einige wider das Projectil fuhren, dessen linkes Fenster sogar durch ein heftiges Anprallen einen Sprung bekam. Es schien mitten durch einen Hagel von Granatsplittern zu fahren, von welchen der geringste es im Augenblick zerschmettern konnte.

Das Licht, womit der Aether satt durchdrungen wurde, entwickelte sich in unvergleichbarer Stärke, denn diese Asteroiden verbreiteten es in allen Richtungen. Einen Augenblick war es dermaßen lebhaft, daß Michel seine Genossen zum Fenster hinzog und rief:

»Die unsichtbare Luna, nun endlich sichtbar!«

Und alle Drei konnten durch eine Lichtausströmung, die einige Secunden[146] dauerte, die geheimnißvolle Scheibe erblicken, welche das menschliche Auge zum ersten Male zu sehen bekam.

Was vermochten sie in dieser Entfernung, die nicht zu schätzen war, zu unterscheiden? Einige lange Streifen über die Scheibe, wirkliche Wolken, die in einer sehr beschränkten Atmosphäre sich bildeten, aus welcher nicht allein alle Berge, sondern auch Erhöhungen von mittlerer Bedeutung hervorragten, die Circus, die klaffenden Krater in launiger Ordnung, so wie auf der sichtbaren Oberfläche. Sodann unermeßliche Flächen, nicht mehr ausgetrocknete Ebenen, sondern wirkliche Meere, weit verbreitete Oceane, die auf ihrem klaren Spiegel den ganzen Zauber der Feuer im Weltraum widerstrahlten. Endlich, auf der Oberfläche der Continente ungeheure dunkle Massen, sowie ungeheure Waldungen in rascher Beleuchtung eines Blitzes erscheinen würden.

War's eine Täuschung, ein Irrthum der Augen, ein optisches Blendwerk? Konnten sie dieser so oberflächlich gewonnenen Anschauung wissenschaftliche Geltung beilegen? Konnten sie es wagen, über die Frage seiner Bewohnbarkeit nach einem so flüchtigen Blick auf die unsichtbare Scheibe sich auszusprechen?

Indessen wurden die Blitzerscheinungen im Weltraum allmälig schwächer; sein zufälliger Glanz nahm ab; die Asteroiden verschwanden in verschiedenen Richtungen und erloschen in der Entfernung. Der Aether ward wieder dunkel, wie gewöhnlich, und die kaum erblickte Mondscheibe tauchte wieder in undurchdringliche Nacht.

Fußnoten

1 Windbeutelei.


2 Herschel hat in der That festgestellt, daß bei den Trabanten die Bewegung um ihre Achse stets der um ihren Planeten gleich ist. Folglich zeigen sie ihm stets die nämliche Seite. Nur die Welt des Uranus läßt einen sehr auffallenden Unterschied erkennen: Die Bewegungen seiner Monde gehen in einer Richtung vor, die fast senkrecht auf der Ebene ihrer Bahn steht, und die Richtung ihrer Bewegungen ist rückwärts, d.h. seine Trabanten bewegen sich in umgekehrter Richtung, wie die anderen Gestirne der Sonnenwelt.


3 Die mittlere Geschwindigkeit der Erdbewegung längs der Ekliptik beträgt nur dreißig Kilometer in der Secunde.


Quelle:
Jules Verne: Reise um den Mond. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band II, Wien, Pest, Leipzig 1874, S. 147.
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