Elftes Kapitel.
Auf dem hohen Meere.

[134] Am nächsten Morgen stieg die Sonne, »das pünktliche Faktotum des Weltalls«, wie Charles Dickens gesagt hat, über den von einer hübschen Brise reingefegten Horizont empor. Der »Alert« hatte kein Land mehr in Sicht.

Harry Markel hatte also beschlossen, die Ausführung seiner verbrecherischen Pläne vorläufig zu verschieben.

Im Grunde war es ihm ja leicht genug gewesen, sich für den Kapitän Paxton auszugeben, da dieser seinen Passagieren nicht persönlich bekannt gewesen und von der früheren Mannschaft kein einziger an Bord geblieben war. Hatte er sich erst Pattersons und dessen junger Begleiter entledigt, so war für ihn nichts mehr zu befürchten und der »Alert« konnte ruhig dem Großen Ozean zusteuern.[134]

Der Plan des tollkühnen Verbrechers hatte jedoch eine unerwartete Änderung erfahren. Jetzt wollte Harry Markel mit dem Dreimaster nach dessen Bestimmungsort segeln, das Antillenmeer befahren, die geplante Reise bis zum Schlusse durchführen, denn vor allem sollten die jungen Leute erst auf Barbados die Geldsumme eingesteckt haben, die die klingende Zugabe zu dem Reisestipendium bildete, und erst nach dem Verlassen der Antillen gedachte er sie über Bord zu werfen.

Immerhin war das aber noch mit großen Gefahren verknüpft, wenigstens nach der Ansicht einiger der Leute, unter andern auch Cortys, obwohl diesen die Erbeutung des Geldes nicht wenig reizte. Zunächst konnte ja der Kapitän Paxton oder der und jener der früheren Besatzung auf den Antillen bekannt sein, wenn auch bezüglich der Besatzung des »Alert« anzunehmen oder doch leicht vorzugeben war, daß diese vor der Abfahrt nach den Antillen gewechselt hätte.

»Ja ja... zugegeben, meinte Corty, vielleicht ein oder zwei Matrosen, doch der Kapitän Paxton, wie sollten wir dessen Abwesenheit erklären?

– Das wäre freilich fast unmöglich, antwortete Harry Markel. Glücklicherweise hab' ich mich aber bei Durchsicht der Papiere Paxtons überzeugt, daß er weder mit dem ›Alert‹ noch mit einem anderen Schiffe jemals nach Westindien gekommen ist, danach dürfte er also dort wohl nirgends bekannt sein. Ich leugne ja nicht, daß wir ein etwas gefährliches Spiel wagen, doch ist die Summe, die Mrs. Kathlen Seymour den Stipendiaten der Antilian School zugesagt hat, wohl der Mühe des Versuches wert.

– Ich stimme Harry bei, erklärte darauf John Carpenter, wir wagen den Streich! Zum Kuckuck, da war's doch schwieriger, von Queenstown wegzukommen, und jetzt schwimmen wir schon an die dreißig Meilen weit draußen. Und was die Prämie betrifft, die jeder der jungen Leute einstecken soll...

– Fällt sie im vollen Betrage jedem von uns zu, unterbrach ihn Harry Markel. Sie sind ihrer zehn und wir ja gerade auch.

– Ganz richtig, meinte der Obersteuermann, und rechnet man noch den Wert des Dreimasters hinzu, so ist das Ganze ein gutes Geschäft. Na, das will ich unseren Kameraden schon klar machen.

– Ob sie's nun einsehen oder nicht, erklärte Harry Markel, die Sache ist beschlossen. Jeder denke daran, auf der Ausreise seine Rolle gut zu spielen und sich weder durch Taten noch durch Worte einen Verdacht zuzuziehen. Ich werde ein scharfes Auge darauf haben.«[135]

Corty fügte sich schließlich den Anschauungen Harry Markels, und im Gedanken an die großen Vorteile der Sache verblaßten allmählich auch seine Befürchtungen. Dazu waren ja, wie John Carpenter gesagt hatte, die Gefangenen von Queenstown jetzt außer dem Machtbereiche der Polizei, und auf dem offenen Meere hatten sie keine Verfolgung mehr zu fürchten.

So kühn der Plan Harry Markels auch sein mochte, fand er doch allgemeine Billigung, und nun galt es nur, die Sachen ihren Gang gehen zu lassen.

Im Laufe des Vormittags wollte Harry Markel noch einmal die Schiffspapiere einsehen, und die des Kapitäns Paxton besonders mit Rücksicht auf alles, was für die Reise und das Anlaufen der Antillen vorher festgesetzt war.

Er selbst hätte es ja beiweitem vorgezogen, sogleich an Barbados zu landen, wo die Passagiere die Mrs. Kathlen Seymour finden und die versprochene Prämie in Empfang nehmen sollten. Statt dann erst von Insel zu Insel zu segeln, hätte Harry Markel sogleich einen Kurs nach dem offenen Meere eingeschlagen... in der ersten Nacht wären die Passagiere über Bord geworfen worden, und dann hätte sich der »Alert« nach Südosten gewendet, um das Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen.

Mrs. Kathlen Seymour hatte aber einen bestimmten Reiseweg vorgeschrieben und der mußte im einzelnen genau eingehalten werden. Horatio Patterson und seine Schützlinge kannten ihn ja ebenso, wie Harry Markel davon hatte Kenntnis nehmen müssen.

Dieser Reiseweg war ganz verständig entworfen, denn der »Alert« sollte Antilien zuerst im Norden berühren und auf der Fahrt nach Süden die lange Kette der Inseln Vor dem Winde anlaufen.

Der erste Halt wäre dabei in Sankt-Thomas, der zweite in Sankta-Cruz zu nehmen, wo Niels Harboe und Axel Wickborn wieder dänischen Boden betreten sollten.

Als dritter Ankerplatz war ferner der halb französische, halb holländische Hafen von Sankt-Martin vorgesehen, wo Albertus Leuwen das Licht der Welt erblickt hatte.


Patterson, unsicheren Schrittes hinschwankend, traf mehrmals mit Corty zusammen. (S. 140.)
Patterson, unsicheren Schrittes hinschwankend, traf mehrmals mit Corty zusammen. (S. 140.)

Die vierte Haltestelle sollte Sankt-Barthelemy sein, die einzige Besitzung Schwedens unter den Antillen und die Insel, wo Magnus Anders geboren war.

Als fünfte sollte Hubert Perkins die englische Insel Antigoa, und als sechste Louis Clodion die französische Insel Guadeloupe besuchen.[136]

Endlich würde der »Alert« John Howard an der englischen Insel Dominique. Tony Renault an der französischen Insel Martinique und zuletzt Roger Hinsdale an der englischen Insel Sankta-Lucia ans Land setzen.

Nach diesen neun Fahrtunterbrechungen sollte der Kapitän Paxton nach der englischen Insel Barbados steuern, wo Mrs. Kathlen Seymour wohnte. Dort beabsichtigte Horatio Patterson die neun Preisträger der Antilian School ihrer Wohltäterin vorzustellen. Dort sollten sie dieser für ihre Güte Dank sagen und von da aus die Rückfahrt nach Europa antreten.[137]

So lautete das Programm, dem der Kapitän Punkt für Punkt zu folgen hatte und dem sich Harry Markel wohl oder übel fügen mußte. Es lag ja sogar im Interesse der Schurken, davon keine Abweichung eintreten zu lassen. Vorausgesetzt, daß auf den Antillen niemand den Kapitän Paxton persönlich kannte – und dafür sprach die größte Wahrscheinlichkeit – hatte Harry Markel die beste Aussicht, seine Pläne sich erfüllen zu sehen, denn niemand könnte auf die Vermutung kommen, daß der »Alert« den Raubgesellen von der »Halifax« in die Hände gefallen wäre.

Bezüglich der Fahrt über den Atlantischen Ozean mit einem guten Schiffe und in der Zeit des Jahres, wo die Passate über die Tropenzone wehen, ließ sich ja annehmen, daß diese unter den günstigsten Verhältnissen verlaufen würde.

Gleich von den englischen Gewässern aus hatte Harry Markel einen südwestlichen Kurs eingehalten, statt eines südöstlichen, wenn seine Passagiere schon in der vergangenen Nacht hätten verschwinden sollen. Der »Alert« wäre in diesem Falle zuerst nach dem Indischen Meere und dann auf kürzestem Wege nach dem Großen Ozean gegangen. Jetzt handelte es sich darum, nach Antilien zu segeln und den Wendekreis des Krebses etwa beim vierzigsten Längengrad zu kreuzen. Unter allen Segeln, selbst mit den Oberbram-, Top- und Stagsegeln, glitt der »Alert« mit Steuerbordhalfen bei einer frischen Brise und mit der Geschwindigkeit von elf Seemeilen in der Stunde dahin.

Natürlich litt hierbei keiner von der Seekrankheit. Vor dem Segeldruck, der ihn leicht nach Backbord neigte, empfand man auf den langen, glatten Wellen kaum ein Rollen des Schiffes, und der »Alert« glitt von einer Welle zur andern mit solcher Leichtigkeit, daß auch kein Stampfen bemerkbar wurde.

Trotz dieser günstigen Verhältnisse fühlte sich Horatio Patterson am Nachmittage doch recht unbehaglich. Dank der Vorsorge der Frau Patterson und der berühmten Vorschriften Vergalls enthielt seine Reisetasche aber die verschiedenen Mittelchen, die, wenn man minder erfahrenen Leuten glauben dürfte, es ermöglichen, die Seekrankheit – von unserem gelehrten Herrn »Pelagalgie« genannt – mit bestem Erfolge zu bekämpfen.

Übrigens hatte der vorsichtige Verwalter der Antilian School in der letzten Woche wiederholt und immer etwas steigend Purgantien genommen, um sich im besten Gesundheitszustande zu befinden und den neckischen Launen Neptuns möglichst Widerstand leisten zu können. Man hält das für eine von der Erfahrung[138] bestätigte Vorsichtsmaßregel, und der zukünftige Passagier des »Alert« hatte ihr gewissenhaft Rechnung getragen.

Endlich hatte Horatio Patterson – einer weit angenehmeren Vorschrift folgend – vor dem Weggange aus Queenstown und der Einschiffung auf dem »Alert« ein vortreffliches Frühstück in Gesellschaft seiner jungen Begleiter verzehrt, die ihm dabei das Beste versprechende Toaste ausbrachten.

Außerdem wußte Patterson recht gut, daß in der Mitte die Stelle des Schiffes war, wo die Stöße am wenigsten bemerkbar wurden. Auf dem Vorderwie auf dem Hinterteile traten Schlingern und Stampfen weit stärker hervor. In den ersten Stunden der Seefahrt glaubte er es noch im Deckhause aushalten zu können. Dort sah man ihn mit gespreizten Beinen nach Seemannsart zur besseren Erhaltung des Gleichgewichtes gravitätisch hin- und herschreiten.

Der würdige Mann empfahl auch den jungen Leuten, seinem Beispiele zu folgen, diese schienen aber seine Vorsicht, als ihrem Temperamente und Alter nicht angepaßt, leichten Herzens zu mißachten.

Heute nahm Horatio Patterson sein Frühstück schon nicht mehr mit demselben Appetit ein wie am vergangenen Tage, obwohl der Koch seine Sache recht gut gemacht hatte. Nachher drängte es ihn auch gar nicht mehr, auf und ab zu gehen, er setzte sich vielmehr ruhig auf eine Bank und beobachtete Louis Clodion nebst den andern, die munter um ihn herliefen. Nach dem Mittagessen, das er kaum mit den Lippen berührte, geleitete ihn Wagah nach seiner Kabine und hieß ihn, sich auf dem Lager lang auszustrecken und auch, ohne zu schlafen, die Augen geschlossen zu halten.

Am folgenden Morgen verließ Patterson sein Bett so unwohl wie vorher und nahm in der Kajüte auf einem Klappstuhle Platz.

Da kam Harry Markel einmal vorüber.

»Nichts neues, Kapitän Paxton? fragte er diesen mit schwacher Stimme.

– Nein, gar nichts, Herr Patterson, antwortete Harry Markel.

– Noch dasselbe Wetter?

– Dasselbe und auch derselbe Wind.

– Sie vermuten auch keine baldige Veränderung?

– Nein, höchstens scheint der Wind auffrischen zu wollen.

– Also geht alles gut?

– Alles... ganz nach Wunsch.«[139]

Patterson meinte für sich freilich, es ginge nicht alles so gut wie am vorigen Tage. Vielleicht täte er besser, sich etwas Bewegung zu machen. Er erhob sich also, ging hinaus und begab sich, die rechte Hand auf die Regeling stützend, vom Deckhause nach dem Großmaste. Das hatte unter anderen Vorschriften Vergall auch empfohlen, vorzüglich sollte es jeder Passagier zu Anfang einer Seereise streng einhalten. In der Schiffsmitte angelangt, hoffte er das Stampfen des Schiffes vertragen zu können, das weit unangenehmer ist als das Schlingern, das hier übrigens kaum fühlbar war, da der »Alert« stetig nach Backbord überhing.

Während da Patterson unsicheren Schrittes so hinschwankte, traf er mehrmals mit Corty zusammen.

»Wollen Sie erlauben, Ihnen einen Rat zu geben? fragte dieser.

– Reden Sie... reden Sie, bester Freund!

– Nun, Sie dürfen niemals weit über das Schiff hinaussehen, dann werden Sie weniger belästigt.

– Ich habe aber doch, erwiderte Patterson, der sich an einer Klampe festhielt, in den ›Vorschriften zum Gebrauche für Passagiere, die noch nicht seefest sind‹, gelesen, daß es sich empfehle, die Augen aufs Meer zu richten.«

Tatsächlich findet sich diese Empfehlung in jenen Vorschriften, gleichzeitig aber auch die andere, obgleich sich beide zu widersprechen scheinen. Patterson war übrigens entschlossen, allen ohne Ausnahme nachzukommen. Er hatte sich deshalb auch mit einer roten Flanellbinde versorgt, die ihm dreimal um den Leib reichte und diesen eng einschnürte.

Trotz seiner Vorsichtsmaßregeln fühlte sich der Mentor allmählich aber immer unbehaglicher. Das Herz schien ihm in der Brust wie ein Pendel hin und her zu schwingen, und als Wagah die Frühstücksstunde anschlug und die ungen Leute in die allgemeine Kajüte eintreten ließ, da blieb er ruhig am Großmaste stehen.

Mit einer Teilnahme, bei der es ihm nicht Ernst war, redete Corty den Ärmsten an.

»Sehen Sie nun, lieber Herr, wenn bei Ihnen da inwendig nicht mehr alles in Ordnung ist, haben Sie sich das selbst zuzuschreiben, weil Sie auch im Sitzen den Bewegungen des Schiffes nicht gefolgt sind.

– Ja, guter Freund, das war nur gar so schwierig...

– Ach... nicht doch! Sehen Sie... so...«[140]

Corty machte es ihm vor, beugte sich nach rückwärts, wenn der »Alert« mit der Nase in eine Welle einschnitt, und nach vorwärts, wenn das Heck sich im schäumenden Kielwasser befand.

Patterson stand jetzt zwar, konnte sich aber nicht im Gleichgewicht halten und murmelte:

»Nein... das ist unmöglich!... Helfen Sie mir wieder zurück auf meinen Sitz. Wir haben eine gar zu grobe See!

– Grobe See, werter Herr?... Das ist ja das reine Öl!« versicherte Corty.

Natürlich ließen die Passagiere ihren Patterson mit seinem kläglichen Zustand nicht außer Acht. Immer traten einige heran, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Sie suchten ihn durch Geplauder zu zerstreuen, überschütteten ihn mit Ratschlägen, erinnerten daran, daß in den »Vorschriften« noch so manches andere empfohlen wäre, und Patterson schlug es auch nicht ab, alles zu probieren.

Hubert Perkins ging nach der Kajüte, ein Fläschchen mit Rum zu holen. Daraus füllte er ein Gläschen mit dem herzstärkenden Getränk, und Patterson nahm dieses in kleinen Schlucken zu sich.

Eine Weile nachher brachte ihm Axel Wickborn Melissenwasser, und er verschlang davon einen tüchtigen Löffel voll.

Die Beschwerden des Armen hielten jedoch an, sie verbreiteten sich sogar über die Magengrube hinunter, und ein Stück mit Kirschwasser getränkter Zucker vermochte sie auch nicht zu mildern.

Schon rückte der Augenblick heran, wo Patterson, dessen gelbe Gesichtsfarbe zur weißen geworden war, sich genötigt sehen mußte, seine Kabine aufzusuchen, wo das Übel freilich eher noch schlimmer zu werden drohte. Louis Clodion fragte ihn noch, ob er denn auch alles versucht habe, was in den berühmten »Vorschriften« empfohlen war.

»Ja... alles! stammelte er mit so wenig wie möglich geöffnetem Munde. Ich trage sogar auf dem bloßen Körper ein von meiner Frau angefertigtes Beutelchen mit Seesalz darin!«

Wenn freilich dieses Beutelchen keinen Erfolg hatte, wenn Flanellgürtel und Seesalz wirkungslos blieben, dann... dann war ja nichts mehr zu machen.

Die drei folgenden Tage, an denen eine ziemlich steife Brise wehte, war Patterson jämmerlich krank. Trotz dringendster Aufforderung wollte er seine[141] Kabine nicht verlassen; er hielt sich ad vomitum, wie er gewiß gesagt hätte, wenn er noch im stande gewesen wäre, ein lateinisches Citat über die Lippen zu bringen.

Da fiel ihm noch ein, daß seine Gattin ihm auch ein Säckchen mit Kirschkernen in die Reisetasche gesteckt hatte. Nach den oft genannten Vorschriften Vergalls sollte es nun genügen, einen dieser heilsamen Wunderkerne im Munde zu halten, um ebenso die Entstehung wie die Fortdauer der Seekrankheit zu verhindern. Da der Mentor davon einen kleinen Vorrat besaß, konnte er ja auch einen aus Versehen verschluckten Kern leicht durch einen andern ersetzen.

Patterson bat also Louis Clodion, das bewußte Säckchen zu öffnen und ihm einen Kirschkern zu entnehmen, den er dann sogleich in den Mund steckte. Leider flog dieser bei einem heftigen Schlucksen gleich wieder wie die Kugel eines Blaserohres daraus hervor.

Was nun anfangen?... Gab es noch weitere, nicht geprüfte Vorschriften? Waren schon alle Verhinderungs-, alle Heilmittel erschöpft?... Es war doch wohl auch empfohlen, ein wenig zu essen?... Gewiß, ebenso wie das Gegenteil, d. h. überhaupt nichts zu essen.

Die jungen Leute wußten keine Hilfe mehr für ihren wackeren Patterson, der in höchster Erschöpfung dalag. Dennoch blieben sie so viel wie möglich bei ihm, sie wollten ihn nicht sich allein überlassen, wußten sie doch, daß vielfach empfohlen war, den Kranken zu zerstreuen, ihn seiner Niedergeschlagenheit zu entreißen... leider hätte hier nur auch eine Vorlesung aus dessen Lieblingsschriftstellern nicht den gewünschten Erfolg gehabt.

Da er aber vor allem der frischen Luft bedurfte, woran es ihm in seiner Kabine gefehlt hatte, machte Wagah dem Leidenden ein Matratzenlager auf dem Verdeck vor dem Deckhause zurecht.

Darauf streckte sich Patterson stöhnend aus. jetzt auch überzeugt, daß Energie und guter Wille gegen die Seekrankheit ebensowenig ausrichteten, wie die zahlreichen Vorschriften, deren Befolgung ihm auch nichts genützt hatte.

»Wie steht es denn jetzt mit unserem armen Schulverwalter? fragte Roger Hinsdale.

– Na, es scheint, er hat gut daran getan, sein Testament zu machen,« antwortete John Howard.

Das war freilich eine Übertreibung, denn an der Seekrankheit ist noch kein Mensch gestorben.[142]

Am Nachmittage, als es dem Kranken ganz jämmerlich übel zu Mute war, stellte sich der hilfswillige Steward wieder bei diesem ein.

»Ein Mittel weiß ich noch, werter Herr, sagte er, ein Mittel, das zuweilen entschieden geholfen hat...

– Ach, wenn das doch auch diesmal zuträfe, jammerte Patterson; nennen Sie es, wenn noch Zeit dazu ist!

– Es kommt darauf hinaus, während der ganzen Reise eine Zitrone... Tag und Nacht... in der Hand zu halten.

– Gebt mir eine Zitrone,« flüsterte Patterson mit von Krämpfen unterbrochener Stimme.

Wagah hatte das nicht erfunden und scherzte jetzt auch nicht. Die Zitrone findet sich angeführt in der Reihe von Heilmitteln, die Spezialisten gegen die Seekrankheit empfohlen haben.

Leider erwies sich dieses Mittel nicht wirksamer als die andern. Im Gesichte noch gelber als die erfrischende Frucht aus der Familie der Arrantiaceen, hielt Patterson die Zitrone krampfhaft in der Hand, drückte sie zusammen, daß der Saft herausspritzte; eine Erleichterung empfand er deshalb aber nicht und das Herz pendelte ihm in der Brust ebenso hin und her wie früher.

Nach dieser Probe versuchte Patterson schließlich noch eine Brille mit roten Gläsern. Das nützte jedoch ebensowenig und damit schien die Schiffsapotheke nun erschöpft zu sein. Solange Patterson die Kraft dazu nicht ausging, würde er jedenfalls krank bleiben, und nur von der Natur selbst hatte er noch Heilung zu erhoffen.

Nach dem Steward brachte Corty indes noch ein allerletztes Mittel in Vorschlag.

»Haben Sie Courage, Herr Patterson?« fragte er.

Der Verwalter verriet durch ein Zeichen mit dem Kopfe, daß er das selbst nicht wüßte.

»Um was handelt es sich denn? erkundigte sich Louis Clodion, der der ganzen Seefahrer-Therapie nicht recht traute.

– Sehr einfach darum, ein Glas Meerwasser hinunterzustürzen, antwortete Corty. Das bringt nicht selten die außerordentlichsten Wirkungen hervor.

– Wollen Sie's denn versuchen, Herr Patterson? ließ sich Hubert Perkins vernehmen.[143]

– Alles, was man verlangt! seufzte der Unglückliche.

– Schön, schön, bemerkte Tony Renault, es gilt ja nicht, das ganze Meer auszutrinken...

– Nein, nur ein Glas voll!« erklärte Corty, der schon einen Eimer über Bord hinuntergleiten ließ und ihn gefüllt mit Wasser von tadelloser Klarheit wieder herauszog.

Patterson erhob sich mit entschieden lobenswerter Energie – er wollte sich ja nicht dem Vorwurf aussetzen, irgend etwas unversucht gelassen zu haben – zur Hälfte von seiner Matratze, ergriff das Glas mit zitternder Hand, führte es zum Munde und würgte einen tüchtigen Schluck daraus hinunter.

Das war aber der Gnadenstoß! Ihm folgten Übelkeiten mit Krämpfen ohne gleichen, Konvulsionen, Verdrehungen des Körpers und massenhaftes Erbrechen, und wenn das alles auch verschiedenerlei ist, so vereinigte es sich hier doch so innig, daß der Leidende zuletzt gar nicht mehr wußte, was um ihn vorging.

»In diesem Zustande dürfen wir ihn nicht lassen, sagte Louis Clodion, er wird in seiner Kabine besser aufgehoben sein...

– Ja ja, fiel John Carpenter ein, das ist einer, der sein Lager drücken wird, bis man ihn in Sankt-Thomas davon wegschleppt!«

Vielleicht dachte der Obersteuermann jetzt auch daran, daß er mit seinen Kameraden volle siebenhundert Pfund weniger zu teilen haben würde, wenn Patterson vor der Ankunft an den Antillen den letzten Seufzer aushauchte.

Sofort rief er Corty herbei, Wagah beim Hinuntertragen des Kranken zu helfen, und dann legten ihn die beiden, ohne daß er zum Bewußtsein gekommen wäre, auf sein Lager nieder.

Nachdem sich nun alle inneren Arzneimittel als unwirksam erwiesen hatten, sollten noch einige äußerliche Hilfsmittel versucht werden, die sich schon wiederholt bewährt hatten. Roger Hinsdale bestand darauf, daß man sich von allen den Empfehlungen der berühmten »Vorschriften« an die einzige halten solle, die noch nicht geprobt war und von der man vielleicht glückliche Folgen erwarten könnte.

Patterson, der sich jetzt nicht einmal dagegen aufgelehnt haben würde, wenn man ihn bei lebendigem Leibe hätte abhäuten wollen, wurde seiner Kleidung bis auf die Leibbinde entledigt, und dann rieb man ihm die Magengegend mit einem angefeuchteten Leinentuche ab.


Hubert Perkins füllte ein Gläschen mit dem herzstärkenden Getränk. (S. 141.)
Hubert Perkins füllte ein Gläschen mit dem herzstärkenden Getränk. (S. 141.)

Man darf aber nicht glauben, daß das in sachverständiger Weise und mit sanfter Hand geschah... o nein, der muskelstarke Wagah besorgte das – sozusagen aus Leibeskräften – mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß Patterson gerechten Anlaß hatte, ihm sein Trinkgeld am Ende der Reise zu verdreifachen.

Kurz, aus dem einen oder anderen Grunde, vielleicht daß da, wo nichts ist, die Natur ebenso wie der Kaiser sein Recht verliert, vielleicht weil der Patient so ausgepumpt war, daß in ihm der horror vacui zur Geltung kam, gab der Mentor endlich durch ein Zeichen zu erkennen, daß er an der Behandlung genug habe. Dann wendete er sich nach der Seite um, lehnte den Magen an den überstehenden Rand des Lagers und verfiel in die tiefste Bewußtlosigkeit.

Die anderen ließen ihn ruhen und hielten sich nur bereit, ihm jeden Augenblick wieder helfend beizuspringen. Vielleicht kam Patterson vor dem Ende der Überfahrt doch wieder auf, und vielleicht gewann er auch alle seine moralischen und physischen Eigenschaften wieder, wenn er den Fuß auf die erste Insel der Antillengruppe setzte.

Der ernste, gründliche und praktische Mann hatte aber gewiß das Recht, die Vergallschen »Vorschriften« für falsch und täuschend zu erklären, nachdem er vorher ihren achtundzwanzig Paragraphen ein so großes Vertrauen entgegengebracht hatte.

Doch wer weiß, verdiente ein solches Vertrauen nicht vielleicht gerade die achtundzwanzigste Empfehlung, die wortgetreu lautet:

»Gar nichts unternehmen wollen, sich vor der Seekrankheit zu schützen!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 134-145,147.
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