Erstes Kapitel.
Antigoa.

[205] Eine Besitzveränderung wie die bezüglich Sankt-Barthelemys zu Gunsten Frankreichs, mit der Schweden seine einzige Kolonie im Antillenmeere aufgab,[205] ist bezüglich Antigoas zum Nachteil des Vereinigten Königreichs gewiß niemals zu befürchten. Hatte Magnus Anders seine Heimat nicht mehr unter skandinavischer Oberhoheit wiedergefunden, so fand Hubert Perkins die seinige jedenfalls unverändert als Kolonialbesitz Großbritanniens wieder.

England entäußert sich nicht gerne dessen, was es einmal sein nannte: Es hat lange Zähne und zeigt, ebenso aus Instinkt wie aus sehr greifbarem Interesse, weit eher Neigung. sich anzueignen, was andere Mächte sich an Inseln oder Festlandsgebieten erworben haben. England besaß auch und besitzt noch heute den größten Teil der westindischen Inselwelt, und wer weiß, ob in Zukunft nicht noch über mehr dieser Inseln als heute der Unionsjack flattern wird.

Antigoa gehörte übrigens nicht immer dem habgierigen Albion. In früherer Zeit und bis zum Anfange des 17. Jahrhunderts von Karaïben bewohnt, fiel es später in die Hände der Franzosen.

Dieselbe Ursache aber, die jene Eingebornen schließlich zum Weggange von der Insel bestimmt hatte, veranlaßte nur wenige Monate später auch die Franzosen, nach der Insel Sankt-Christoph, woher sie gekommen waren, zurückzukehren. Auf Antigoa fehlt es nämlich gänzlich an Flüssen; kaum trifft man auf einige Rios, die immer nur für kurze Zeit von Regenniederschlägen gespeist werden. Zur Deckung des Bedarfs der Kolonie wäre es also notwendig gewesen, große Becken zur Ansammlung des Wassers zu erbauen.

Das begriffen auch die Engländer und führten es, kurz entschlossen, aus, als sie sich 1632 auf Antigoa eingerichtet hatten. Die Sammelbecken wurden dabei in zweckmäßigster Weise angelegt, um das Land umher reichlich bewässern zu können. Da sich der Erdboden im übrigen vortrefflich zum Anbau von Tabak eignete, widmeten sich die Pflanzer mit Vorliebe dieser Kultur, die jener Zeit wesentlich zum Aufblühen der Kolonie beitrug.

Im Jahre 1668 kam es dann zum Kriege zwischen Frankreich und England. Eine in Martinique ausgerüstete Expedition segelte nach Antigoa. Die mitgeführten Truppen zerstörten die Anpflanzungen und entführten die Negerarbeiter... Darauf lag die Insel ein ganzes Jahr so verödet, als ob sie noch niemals auch nur einen Bewohner gehabt hätte.

Ein reicher Grundbesitzer von Barbados, der Colonel Codington, konnte sich aber nicht dabei beruhigen, daß die auf Antigoa ausgeführten Arbeiten gänzlich verloren sein sollten. Er siedelte mit einer großen Arbeiterschar dahin über, zog auch bald noch andere Kolonisten heran, und dadurch, daß er mit[206] dem Anbau des Tabaks noch den des Zuckerrohrs verband, hob er die Insel bald wieder zu ihrem früheren Wohlstand.

Der Colonel Codington wurde später zum Generalgouverneur aller der England untertänigen Inseln Unter dem Winde ernannt. Ein energischer Verwalter, wußte er den Anbau des Bodens außerordentlich zu heben und daneben den Handel so tüchtig zu fördern, daß dieser auch später seine Lebhaftigkeit nicht wieder einbüßte.

Als Hubert Perkins an Bord des »Alert« hier eintraf, sollte er also Antigoa ebenso blühend wiederfinden, wie er es, um seine weitere Ausbildung in Europa zu erhalten, fünf Jahre vorher verlassen hatte.

Die Entfernung zwischen Sankt-Barthelemy und Antigoa beträgt nicht mehr als siebzig bis achtzig Seemeilen. Auf offener See geriet der »Alert« aber zuerst in eine völlige Windstille, und dieser folgte dann eine ganz schwache Brise, so daß er nur sehr langsam vorwärts kam. Dabei passierte er Sankt-Christoph, jene von den Engländern, Franzosen und Spaniern umstrittene Insel, die 1713 durch den Frieden von Utrecht in den dauernden Besitz Englands überging. Den Namen Christoph führt sie übrigens nach Columbus, der diese Insel nach Desirade, Dominique, Guadeloupe und Antigoa entdeckte. Sie bildet also gewissermaßen die Signatur des großen genuesischen Seefahrers auf dem prächtigen Blatte Westindiens.

Sankt-Christoph, seiner Gestaltung nach etwa einer Gitarre ähnelnd und von den Ureinwohnern die »fruchtbare Insel« genannt, galt den Franzosen und den Engländern als »die Mutter der Antillen«. Die jungen Passagiere bewunderten auch aufrichtig deren natürliche Reize, als sie, kaum eine Viertelmeile von ihrem Ufer entfernt, daran vorübersegelten. Sankt-Kitts, ihre Hauptstadt, liegt am Fuße des Affenbergs und eingebettet zwischen Gärten und Palmenhamen, an einer Bucht der westlichen Küste. Ein Vulkan, dessen Name »Misery« (Elend) nach der Emanzipation der Neger gegen »Liberty« (Freiheit) vertauscht wurde, steigt bis fünfzehnhundert Meter empor und aus seinen Abhängen dampfen unausgesetzt Fumarolen von schweseligen Gasen. Im Grunde zweier erloschener Krater sammelt sich das Regenwasser, das der Insel ihre Fruchtbarkeit sichert. Sankt-Christoph hat, bei einer Bodenfläche von hundertsechsundsiebzig Quadratkilometern, eine Bevölkerung etwa von dreißigtausend Seelen, und man betreibt hier hauptsächlich den Anbau von Zuckerrohr, das einen ganz vorzüglichen Zucker liefert.[207]

Gewiß wäre es recht erwünscht gewesen, auf Sankt-Christoph vielleicht vierundzwanzig Stunden zu verweilen und hier die Weideplätze und die Zuckerrohrkulturen zu besuchen. Doch abgesehen davon, daß das Harry Markel gar nicht paßte, durfte man auch nicht von dem Reiseplane abweichen, und außerdem stammte ja auch keiner der Pensionäre der Antilian School von dieser Insel her.

Am Morgen des 12. August wurde der »Alert« von den Semaphoren Antigoas gemeldet, das Christoph Columbus nach einer der Kirchen von Valladolid auf diesen Namen getauft hatte. Aus größerer Entfernung war die Insel nicht zu sehen gewesen, denn sie ist ziemlich niedrig und reicht nirgends über zweihundertsiebzig Meter hinaus. Dagegen ist der Umfang Antigoas, verglichen mit dem der andern Antillen, ziemlich beträchtlich: er beläuft sich nämlich auf zweihundertneunundsiebzig Quadrat- (See-)Meilen.

Als die britische Flagge am Hafeneingang sichtbar wurde, begrüßte sie Hubert Perkins mit einem herzhaften Hurra, in das auch seine Kameraden mit einstimmten.

Der »Alert« lief von Norden her, wo der Hafen und die Stadt liegen, nach Antigoa ein.

Harry Markel war mit dem hiesigen Fahrwasser hinreichend bekannt, so daß er sich keines Lotsen zu bedienen brauchte. Trotz aller Schwierigkeiten der Zugänge zur Bucht steuerte er ohne Zögern hinein, ließ dabei das Fort James zur Linken, die Loblotyspitze zur Rechten und ging an einer Stelle vor Anker, wo alle nicht über vier bis fünf Meter eintauchenden Schiffe einen vorzüglichen Lageplatz finden.

Im Hintergrunde dieser Bucht erhebt sich die Hauptstadt Sankt-John, die gegen sechzehntausend Einwohner zählt. Die mit ihren sich rechtwinklig schneidenden Straßen an ein Schachbrett erinnernde Stadt bietet einen hübschen Anblick im Schmucke des üppigen Grüns, das sich zwischen ihr in voller Tropenpracht entfaltet.

Kaum war der »Alert« in der Einfahrt zur Bucht erschienen, als schon ein von vier Rudern getriebenes Boot vom Kai des Hafens abstieß und auf den Dreimaster zusteuerte.

Natürlich erregte das bei Harry Markel und seinen Gefährten eine erneute und im Grunde nicht ungerechtfertigte Beunruhigung. Lag doch die Möglichkeit vor, daß die englische Polizei Kenntnis bekommen hätte von dem Drama, dessen Schauplatz der »Alert« in der Farmarbucht gewesen war; es konnten ja noch andere Leichen, vielleicht sogar die des Kapitäns Paxton, gefunden worden sein. Wer war dann der Mann, der dessen Stellung jetzt an Bord des »Alert« einnahm?

Bald sollte jedoch alle Unruhe schwinden: Das Boot brachte nämlich die Familie des jungen Passagiers. Sein Vater, seine Mutter und seine beiden kleinen Schwestern hatten nicht Geduld genug gehabt, ihn an der Landungsbrücke zu erwarten. Seit mehreren Stunden harrten sie schon der Ankunft des Schiffes, stiegen dann an Bord, ehe der »Alert« noch festgelegt war, und Hubert Perkins fiel seinen Eltern jubelnd in die Arme.

Die Insel Antigoa ist in administrativer Hinsicht der Hauptplatz einer sogenannten »Residenz«, zu der die Nachbarinseln Barbuda und Redonda gehören. Gleichzeitig trägt sie die Hauptstadt jener Gruppe der englischen Antillen, die man unter dem Namen Leeward-Islands, d. h. die Inseln Unter dem Winde – die von den Jungferninseln bis Dominique – zusammenfaßt.


Antigoa. - Sankt-John, King's Street.
Antigoa. - Sankt-John, King's Street.

Auf Antigoa haben ihren Sitz der Gouverneur und die Präsidenten der Exekutivbehörden und der gesetzgebenden Versammlung, deren Mitglieder zur Hälfte von der Krone ernannt und zur Hälfte von den Steuerpflichtigen erwählt werden. Hierzu verdient wohl bemerkt zu werden, daß es auf der Insel mehr Beamte als freie Wahlberechtigte gibt, ein Verhältnis, das also nicht bloß eine Eigentümlichkeit der französischen Kolonien ist.

Herr Perkins, ein Mitglied der Exekutivbehörde, stammte von den alten Kolonisten ab, die einst mit dem Colonel Codington hierher gekommen waren, und seine Familie hatte die Insel niemals verlassen. Nachdem er seinen Sohn nach Europa begleitet hatte, war er nach seinem Besitztum auf Antigoa zurückgekehrt.

Als Hubert Perkins seinen Vater, seine Mutter und seine kleinen Schwestern umarmt hatte, folgten die üblichen Vorstellungen. Zuerst von allen empfing Horatio Patterson einen warmen Händedruck von Herrn Perkins, und dann kamen auch die jungen Reisegenossen an die Reihe. Das größte Lob erntete der Mentor aber von Frau Perkins wegen des blühenden Gesundheitszustandes aller Passagiere des »Alert«... ein Lob, von dem Patterson einen großen Teil dem Kapitän Paxton zusprechen zu müssen glaubte.

Harry Markel nahm dieses übrigens mit der gewohnten Kälte entgegen, und nach einem flüchtigen Gruße begab er sich nach dem Vorderteil, um die Festlegung des Schiffes zu überwachen.[211]

Perkins fragte zunächst Patterson, wie lange der Aufenthalt in Antigoa dauern werde.

»Vier Tage, Herr Perkins, lautete die Antwort. Unsere Tage sind gezählt, wie man's vom menschlichen Leben zu sagen pflegt, und wir sind an ein Programm gebunden, von dem wir nicht abweichen dürfen.

– Das ist freilich eine recht kurze Zeit, bemerkte Frau Perkins.

– Ja... leider, meine Liebe, antwortete ihr Gatte, doch die Reisedauer ist von vornherein festgestellt, und in dieser sollen noch mehrere Antillen besucht werden.

Ars longa, vita brevis, citierte Patterson, der hier ein lateinisches Sprichwort für angebracht hielt.

– Wie dem auch sei, sagte Herr Perkins, Herr Patterson und die Kameraden meines Sohnes werden, solange sie hier weilen, unsere Gäste sein.

– Herr Perkins, ließ sich da Roger Hinsdale vernehmen, wir sind unser zehn an Bord...

– Ja, ja, antwortete Perkins, meine Wohnung wäre freilich nicht geräumig genug, euch, liebe junge Freunde, alle zu beherbergen. Wir werden schon noch einige Hotelzimmer in Anspruch nehmen müssen, zu Tische aber sollen alle bei uns sein.

– In diesem Falle, geehrter Herr Perkins, meinte Louis Clodion, wäre es doch vielleicht richtiger, wir blieben – natürlich außer Hubert – alle auf dem ›Alert‹ Tagsüber gehörten wir dagegen Ihnen vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne.«

Dieser entschieden richtige Vorschlag fand auch die Zustimmung des Herrn Perkins, während Harry Markel es lieber gesehen hätte, wenn seine Passagiere sich auf dem Lande einquartiert hätten. Das Schiff blieb in diesem Falle gewiß mehr von Besuchern verschont, deren Anwesenheit er nun einmal fürchtete.

Der Kapitän wurde noch obendrein ebenfalls zur Familientafel im Perkinsschen Hause eingeladen, er schlug das jedoch wie immer ab, und Hubert verständigte seinen Vater dahin, daß er auf seinem Wunsche nicht weiter bestehen sollte.

Nach der Abfahrt des Bootes mit Hubert beschäftigten sich dessen Kameraden mit der Ordnung ihrer Angelegenheiten und damit, einige Briefe zu schreiben, die noch denselben Abend mit dem Postdampfer nach Europa abgehen[212] sollten. Besondere Erwähnung verdient darunter die enthusiastische Schilderung Horatio Pattersons, die der Frau Patterson voraussichtlich nach zwanzig Tagen in die Hände kam. Ein ganz ähnlicher Bericht war an den Direktor der Antilian School, 314. Oxfordstreet. London (Großbritannien), gerichtet, ein Bericht, aus dem Herr Julian Ardagh ebenso zuverlässige wie lehrreiche Mitteilungen über die Preisträger der Mistreß Kathlen Seymour entnehmen konnte.

Inzwischen beendigte Harry Markel seine Manöver, wie immer mit der Vorsorge, das Schiff möglichst in der Mitte des Hafens zu verankern. Die Mannschaften, die die Passagiere ans Land zu setzen hatten, durften dieses auf keinen Fall selbst betreten. Auch der Kapitän gedachte sich niemals dahin zu begeben, außer am Ankunfts- und am Abfahrtstage, wo er das zur Erfüllung gewisser Formalitäten im Seeamte nicht umgehen konnte.

Gegen elf Uhr wurde das große Boot klar gemacht. Zwei Matrosen an den Riemen und Corty am Steuer beförderten die Gäste des Herrn und der Frau Perkins nach dem Kai.

Eine Viertelstunde später waren die jungen Leute in einer schönen Wohnung der obern Stadt eingetroffen und nahmen an einer reichbesetzten Tafel Platz, wo sehr bald ein lebhaftes Gespräch über die Vorfälle während der Fahrt in Gang kam.

Der fünfundvierzigjährige Herr Perkins, dessen Haar und Bart schon mit etwas Grau vermischt waren, hatte eine würdige Haltung, ein einnehmendes Auftreten und recht freundlich blickende Augen... lauter Eigenschaften, die sich später bei seinem Sohne voraussichtlich wiederfanden. In der Kolonie stand er im höchsten Ansehen, schon um der Dienste willen, die er dieser als Mitglied der Exekutivbehörde leistete. Gleichzeitig ein Mann von gutem Geschmack und wohlunterrichtet in allem, was die Geschichte Westindiens betraf, konnte er Horatio Patterson mancherlei recht wertvolle und zuverlässige Auskünfte liefern. Selbstverständlich verfehlte der Mentor nicht, sich das zunutze zu machen und dadurch sein Reisetagebuch zu bereichern, das er mit derselben peinlichen Ordnung wie daheim seine Kassenbücher führte.

Frau Perkins, von Geburt eine Kreolin, war nahezu vierzig Jahre alt. Die liebenswürdige, aufmerksame und mildtätige Dame widmete sich vollständig der Erziehung ihrer beiden kleinen Töchter Berta und Mary, die jetzt zehn und zwölf Jahre zählten. Leicht kann man sich wohl auch die Freude der vortrefflichen[213] Mutter vorstellen, ihren Sohn wiederzusehen und ihn nach vierjähriger Abwesenheit einmal wieder ans Herz zu drücken.

Beim Frühstück wurde auch erwähnt, daß sich nun der Zeitpunkt näherte, wo Hubert endgültig nach Antigoa zurückkehren würde, das seine Angehörigen niemals zu verlassen gedachten. Schon nach einem Jahre sollte sein Aufenthalt in der Antilian School zu Ende sein.

»Wir werden ihn schmerzlich vermissen, erklärte John Howard, der noch zwei Jahre in der Anstalt der Oxfordstreet zuzubringen hatte, denn Hubert war immer ein so guter Kamerad...

– An den wir uns stets mit Freuden erinnern werden, fiel Clodion ein.

– Nun, wer weiß denn, ob Sie nicht später Gelegenheit haben werden, einander wieder zu begegnen? bemerkte Herr Perkins. Vielleicht kehren doch von Ihnen, meine jungen Freunde, noch einige nach den Antillen zurück. Wenn dann Hubert in das Handelshaus von Antigoa eingetreten ist, soll er sich eine Frau wählen...

– Und zwar so bald wie möglich, setzte Frau Perkins hinzu.

– He... Hubert verheiratet! rief Tony Renault. O, das möcht' ich gern sehen!

– Und warum solltest du bei mir nicht Trauungszeuge sein? antwortete Hubert lachend.

– Scherzen wir nicht darüber, ihr jungen Leute, ließ sich Patterson salbungsvoll vernehmen. Als Grundlage der menschlichen Gesellschaft ist die Ehe die wichtigste und achtungswerteste Einrichtung auf Erden!«

Wurde dieser Gesprächsgegenstand hiermit auch verlassen, so veranlaßte er doch Frau Perkins, sich nach Frau Patterson zu erkundigen, von der sie etwas näheres zu hören wünschte. Der Mentor ließ sich darum nicht lange bitten. Er gestand, daß er sich danach sehnte, einen Brief von seiner Gattin zu erhalten, und daß er hoffte, einen solchen in Barbados noch vor Antritt der Rückreise vorzufinden. Dann zog er aus der Tasche eine Photographie, die er stets bei sich trug, und zeigte sie nicht ohne einigen Stolz der Dame des Hauses.

»O, das ist das Bild einer guten, liebenswürdigen Frau, meinte Frau Perkins.

– Der würdigen Gattin des Herrn Horatio Patterson, setzte Herr Perkins hinzu.[214]

– Ja, sie ist meine Lebensgefährtin, antwortete Patterson mit leichter Rührung, und das einzige, was ich vom Himmel erflehe, ist, sie bei meiner Heimkehr ebenso wiederzufinden, so wie sie war hinc et nunc!«

Was Patterson unter den letzten Warten verstand, hätte freilich niemand sagen können. Er hatte sie mit gedämpfter Stimme gesprochen, und so blieben sie ziemlich unbeachtet.

Nach dem Frühstück kam noch die Rede auf einen Besuch von Sankt-John und auf einen Spaziergang in dessen Umgebung. Zunächst gewährte man sich jedoch ein Stündchen zum Ausruhen in dem schönen Garten unter den großen Bäumen der Villa. Herr Perkins gab Patterson manche interessante Auskunft über die Aufhebung der Sklaverei in Antigoa. Im Jahre 1824 war es gewesen, wo England die Emanzipationsakte verkündete, und zwar, abweichend von dem Verfahren in anderen Kolonien, ohne Übergangsbestimmungen, ohne daß sich die Neger also langsam an die neue Lebensführung hätten gewöhnen können. Die Akte enthielt eigentlich gewisse einschränkende Bestimmungen, die einen Rückschlag verhindern sollten. Hier fanden diese auf die Neger aber keine Anwendung und diesen wurden unvermittelt alle Vorteile und alle Nachteile einer unbeschränkten Freiheit zu teil.

Erleichtert wurde der schroffe Wechsel hier allerdings durch das gewohnte Verhältnis zwischen den Herren und den Sklaven, die förmliche Familien bildeten. Und obwohl die Abolitionsakte plötzlich vierunddreißigtausend Neger befreite, während die Kolonie nur zweitausend Weiße zählte, kam es doch zu keinem Exzeß und war keine rohe Gewalttat zu beklagen. Beide Parteien kamen bald zu einem vollständigen Einvernehmen, und die Befreiten verlangten nichts anderes, als auf den Pflanzungen als Diener oder als Lohnarbeiter zu bleiben.

Die Kolonisten hatten übrigens von jeher für das Wohlergehen ihrer alten Sklaven gewissenhaft gesorgt. Sie sicherten deren Lebensunterhalt durch regelmäßige und lohnende Arbeit und bauten für sie bessere Wohnstätten als die früheren Hütten. Die auch besser gekleideten Schwarzen, die sich früher fast ausschließlich von Knollenfrüchten und eingesalzenen Fischen genährt hatten, gewöhnten sich allmählich an frisches Fleisch, und überhaupt erfuhr ihre Ernährung eine wesentliche Besserung.

Waren das glückliche Folgen für die Farbigen, so waren sie auch nicht minder von Vorteil für die Kolonie, die dabei in erwünschtester Weise aufblühte.[215] Die öffentlichen Einnahmen wuchsen dabei ununterbrochen und die Verwaltungskosten verminderten sich nach allen Seiten.

Bei ihren Ausflügen durch die Insel sahen Patterson und seine jungen Begleiter mit Erstaunen die sorgsam angebauten Felder, die trotz des kalkhaltigen Untergrundes eine reiche Fruchtbarkeit zeigten. Überall traf man auf gut unterhaltene Farmen, und überall hatte man sich die neuesten Fortschritte der Landwirtschaft zu eigen gemacht.


Zuckerrohrernte.
Zuckerrohrernte.

Wie schon erwähnt, war die natürliche Bewässerung Antigoas unzureichend gewesen, und man hatte große Bassins zur Ansammlung des Regenwassers herstellen müssen. Hierbei bemerkte Herr Perkins, daß der Name Yacama, d. h. die Sprudelnde oder etwa Bachreiche, den die Eingebornen der Insel gegeben hatten, natürlich nur ironisch zu nehmen sei. Die sehr zweckmäßig durchgeführte Verteilung des Wassers genügte jetzt allen Ansprüchen. Abgesehen von der Erhöhung des Gesundheitszustandes Antigoas sichert die Bewässerungsanlage die Insel auch gegen Wassernotjahre, wie solche zweimal, 1779 und 1784, hier recht schweres Unglück angerichtet hatten. Die Kolonisten waren damals in der Lage von Passagieren, die alle Qualen des Durstes erlitten, und damals gingen Tausende von Tieren und auch nicht wenige Menschen aus Mangel an Wasser elend zu Grunde.


An dem Schiffe legte ein Boot an. (S. 218.)
An dem Schiffe legte ein Boot an. (S. 218.)

Das berichtete Herr Perkins, während er seinen Gästen, nicht ohne gerechtfertigte Befriedigung, die zweiundeinhalb Millionen Kubikmeter fassenden Zisternen zeigte, die Sankt-John eine durchschnittlich[216] größere Wassermenge zuführen, als sie die größeren europäischen Städte erhalten.

Die unter Führung des Herrn Perkins unternommenen Ausflüge beschränkten sich nicht auf die nächste Umgebung der Hauptstadt, sie wurden aber immer so eingerichtet, daß die Passagiere sich jeden Abend auf den »Alert« begeben konnten.[217]

Dabei besuchten die Touristen unter anderem den andern Hafen Antigoas, Englisch-Harbour, der an der Südküste der Insel liegt. Dieser besser als der von Sankt-John geschützte Hafen war schon früher mit Militäretablissements, mit Kasernen und Arsenalen zur Verteidigung Antigoas ausgerüstet worden. Eigentlich besteht er aus einer Gruppe von Kratern, die sich allmählich soweit gesenkt haben, daß das Wasser des Meeres in sie eingedrungen ist.

Mit den Ausflügen, wie bei den Mahlzeiten und Ruhestunden in der Villa Perkins, gingen die für den hiesigen Aufenthalt bestimmten vier Tage schnell dahin. Am folgenden Morgen sollte die Reise weiter gehen, und obgleich die Hitze in der jetzigen Jahreszeit recht stark war, hatten die jungen Leute doch nicht zu arg davon zu leiden. Während Hubert Perkins bei seiner Familie blieb, erholten sich dann seine Kameraden von den gehabten Anstrengungen in ihren Kabinen. Tony Renault behauptete da gelegentlich, wenn Hubert nicht so wie sie zurückkehrte, müsse »etwas vorliegen«, z. B. seine spätere Vermählung mit einer jungen Kreolin auf Barbados, so daß wenigstens seine Verlobung noch vor der Rückkehr nach Europa gefeiert werden würde.

Alle lachten über diese Phantasien, doch sorgte der wackere Patterson dafür, daß sie nicht zu ernst genommen würden.

Am Tage vor der Abfahrt, am 15. August, sollte Harry Markel noch einmal eine unerwartete Beunruhigung erfahren.

Am Nachmittage legte an dem Schiffe ein Boot an, das von einer englischen Brigg, der von Liverpool eingetroffenen »Flag«, abgestoßen war. Einer der Matrosen der Brigg bestieg das Deck und verlangte den Kapitän zu sprechen.

Es wäre doch kaum angegangen, ihm zu antworten, daß der Kapitän augenblicklich nicht an Bord sei, da Harry Markel, seitdem der »Alert« vor Anker lag, ja niemals ans Land gegangen war.

Harry Markel sah sich den Mann erst durch das Fenster seiner Kabine näher an. Er hörte auch dessen Worte, hütete sich aber, von jenem gesehen zu werden. Übrigens kannte er den Matrosen nicht und wahrscheinlich war er selbst diesem ebenso unbekannt. Immerhin war es möglich, daß der Mann früher mit dem Kapitän Paxton, dem Befehlshaber des »Alert«, gefahren war und diesem nun einen Besuch abstatten wollte.

Darin lag die Gefahr – hier wie bei jedem Hafenaufenthalte – eine Gefahr, die nur ein Ende an dem Tage nahm, wo der »Alert« nach der Abfahrt von Barbados keine weitern Antillen mehr anzulaufen hatte.[218]

Corty empfing den Matrosen, sobald dieser das Deck betreten hatte.

– »Ihr wollt den Kapitän Paxton sprechen? fragte er.

– Ja, Kamerad, antwortete der Matrose, wenn es der ist, der den »Alert« von Liverpool befehligt.

– Kennt ihr ihn denn?

– Nein, doch ich habe einen Freund, der zu seiner Mannschaft gehören muß.

– Ah so... und der heißt?...

– Forster... John Forster.«

Ebenso beruhigt wie Corty selbst, trat Harry Markel nach diesen Worten heraus.

– »Ich bin der Kapitän Paxton, begann er.

– Herr Kapitän... sagte der Matrose, indem er höflich die Hand an die Wollmütze legte.

– Nun, was wünscht ihr?

– Einem Kameraden die Hand zu drücken.

– Und dessen Name?...

– John Forster.«

Harry Markel wollte anfänglich antworten, daß John Forster in der Bai von Cork ertrunken wäre; er erinnerte sich aber noch, daß er den Unglücklichen, dessen Leiche an die Küste getrieben worden war, schon Bob genannt hatte. Daß vor der Abfahrt gar zwei Matrosen in derselben Weise umgekommen wären, hätte bei den Passagieren des »Alert« doch recht schlimmen Verdacht erwecken müssen.

Harry Markel begnügte sich deshalb zu sagen:

»John Forster befindet sich nicht an Bord.

– Nicht hier? rief der Matrose verwundert. Ich glaubte bestimmt, ihn auf dem ›Alert‹ zu finden.

– Er ist aber nicht hier, sag' ich euch, oder vielmehr nicht mehr hier.

– Ist ihm etwa ein Unfall zugestoßen?

– Er war erkrankt, als wir auslaufen wollten, und hat sich deshalb ausschiffen müssen.«

Corty bewunderte nicht wenig die Geistesgegenwart seines Chefs. Hätte der Matrose von der »Flag« aber den Kapitän Paxton persönlich gekannt, so wäre der Zwischenfall für Harry Markel und seine Spießgesellen gewiß[219] schlimmer abgelaufen. Jetzt sagte der fremde Matrose dagegen weiter nichts als: »Ich danke bestens, Herr Kapitän!« und damit begab er sich, offenbar betrübt, seinen Kameraden nicht getroffen zu haben, in das unten wartende Boot zurück.

Als der Mann weit genug weg war, rief Corty:

»Sapperment, wir treiben aber doch ein allzu gewagtes Spiel!

– Ja... vielleicht... es ist aber jedenfalls der Mühe wert!

– Gleichviel!... Doch, alle Teufel, Harry, mich verlangt es dringend, bald draußen auf dem Ozean zu sein, da ist man wenigstens keinen neugierigen Fragern ausgesetzt.

– Das wird alles kommen, Corty. Morgen sticht der ›Alert‹ wieder in See.

– Nach?...

– Nach Guadeloupe, und alles in allem ist eine französische Kolonie für uns weniger gefährlich als eine englische!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 205-209,211-220.
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