Elftes Kapitel.
Als Herren an Bord.

[355] Das Rettungswerk war also hauptsächlich dem kühnen und entschlossenen Will Mitz zu verdanken. Das Glück schien nun den Guten wieder zu lächeln, das Unglück die Schlechten getroffen zu haben. Das letzte Verbrechen, wodurch sie sich in der nächsten Nacht der Passagiere und des jungen Seemanns entledigen wollten, sollten diese nicht mehr ausführen können.

Jetzt waren vielmehr sie es, deren Greueltaten gesühnt, sie, die den Gerichten in einem beliebigen Hafen Antiliens oder des festländischen Amerika ausgeliefert werden sollten, sobald der »Alert« Land erreicht hatte, wenn es ihnen nicht ein zweites Mal gelang, sich des Schiffes zu bemächtigen.

Im Volkslogis waren sie ihrer zehn eingeschlossen, zehn kräftige Männer, gegen die sich Will Mitz und seine Begleiter kaum hätten erfolgreich verteidigen können. Und wenn sie die Scheidewand zertrümmerten, die das Volkslogis[355] vom Frachtraum trennte, konnten sie vielleicht durch die nach diesem führenden Luken auf das Verdeck gelangen. Jedenfalls versuchten sie gewiß alles mögliche, sich wieder zu befreien.

Zunächst brachte Will Mitz dem Herrn im Himmel seinen Dank dar und flehte ihn an, sie auch ferner zu beschützen.

Die jungen Leute vereinigten sich mit ihm zu innigem Gebete. Ein gläubiger und frommer Christ, hatte es der wackere Seemann hier nicht mit Undankbaren oder Ungläubigen zu tun... nein, aller Herzen waren von aufrichtiger Dankbarkeit gegen Gott erfüllt.

Horatio Patterson hatte man, ohne daß dieser sich über das Vorgegangene klar wurde, mit sanfter Gewalt auf das Verdeck befördert. In dem Glauben, einen schlimmen Traum gehabt zu haben, schwankte er nach seiner Kabine und war hier nach fünf Minuten fest eingeschlafen.

Der Tag schritt weiter vor, und bald erhob sich die Sonne hinter einer dicken Wolkenbank, die von Nordosten bis Südwesten reichte. Will Mitz hätte den Horizont freilich lieber dunstfrei gesehen. Er befürchtete, daß der Wind nicht von dieser Seite kommen könnte, um so mehr, als an der andern schon Vorzeichen am Himmel bemerkbar wurden, über die ihn sein seemännischer Instinkt nicht täuschen konnte.

Die ganze Frage spitzte sich darauf zu, ob der Passatwind stetig wehte, denn das würde die Fahrt des »Alert« nach den Antillen im Westen besonders begünstigen.

Bevor aber an die Abfahrt zu denken war, mußte abgewartet werden, daß die Brise von der einen oder anderen Seite einigermaßen beständig wehte. Vorläufig, wo sie immer wieder aussetzte, war an eine Entfaltung der Segel nicht zu denken.

Das Meer nahm weder im Osten noch im Westen seine gewöhnliche grüne Färbung an. Die Dünung, das Auf- und Abwogen des Wassers an derselben Stelle, brachte das Fahrzeug recht fühlbar zum Rollen.

Und doch war es von Wichtigkeit, die Fahrt in möglichst kurzer Zeit zu vollenden. Da der Frachtraum und die Kambüse jedoch Proviant für mehrere Wochen enthielten, brauchten die Passagiere keinen Mangel an Süßwasser und Nahrungsmitteln zu befürchten.

Eine offene Frage blieb es nur, wie die Gefangenen mit Nahrung versorgt werden sollten, wenn Windstillen oder schlechtes Wetter den »Alert« aufhielten.[356]

Schon an diesem ersten Tage mußten Harry Markel und seine Leute ja an Hunger und Durst zu leiden haben. Wollte man ihnen zu essen und zu trinken durch den Treppeneingang zukommen lassen, so hätten sie ja wieder auf das Verdeck heraufstürmen können.

Doch das wollte Will Mitz erst näher erwägen, wenn die Fahrt sich verlängerte. Es war ja recht gut möglich, daß der »Alert« die achtzig Seemeilen, die ihn etwa von Westindien trennten, binnen vierundzwanzig oder sechsunddreißig Stunden zurücklegte.

Da löste ein Zwischenfall die Frage der Ernährung der Gefangenen. Diese erschien danach gesichert, selbst wenn die Fahrt mehrere Wochen dauerte.

Es war gegen sieben Uhr, als Will Mitz, der mit Vorbereitungen zur Abfahrt beschäftigt war, durch einen Ruf Louis Clodions davon abgelenkt wurde.

»Hierher!... Hierher!« rief der junge Mann.

Will Mitz lief hinzu. Louis Clodion stemmte sich mit aller Gewalt gegen den Deckel der großen Luke, den man von unten her aufzuheben versuchte. Harry Markel und die anderen hatten die Wand des Volkslogis durchbrochen und waren in den Frachtraum gelangt, aus dem sie nun durch die Luke zu entkommen suchten, und das wäre ihnen ohne Zweifel geglückt, wenn es Louis Clodion nicht verhindert hätte.

Sofort kamen ihm Will Mitz, Roger Hinsdale und Axel Wickborn zu Hilfe. Der Lukendeckel wurde fest über seinen Scherstock gedrückt, und nachdem die dazugehörigen Eisenstangen darüber festgelegt waren, mußte es unmöglich sein, ihn abzuheben. Dasselbe geschah mit der Luke am Vorderdeck, durch die ja ebenfalls ein Entweichen möglich gewesen wäre.

Will Mitz trat darauf wieder an den Treppeneingang und rief laut:

»Hört auf mich da unten, und merkt, was ich sage!«

Aus dem Volkslogis kam keine Antwort.

»Harry Markel, meine Worte gelten dir!«

Als Harry Markel das hörte, sah er ein, daß seine Identität nachgewiesen war. Auf die eine oder andere Weise hatten die Passagiere alles erfahren und mußten wohl auch über seine letzten Absichten unterrichtet sein.

Entsetzliche Flüche bildeten die einzige Antwort, die Will Mitz erhielt.

»Harry Markel, fuhr er darauf fort, laß dir's und auch deinen Leuten gesagt sein, daß wir bewaffnet sind. Dem ersten von euch, der versuchen möchte, das Volkslogis zu verlassen, zerschmettere ich den Schädel!«[357]

Von Stund' an wachten die jungen Leute, die sich von dem Waffengestell Revolver geholt hatten, an den bedrohten Stellen, stets bereit, Feuer zu geben, wenn einer der Eingeschlossenen im Treppeneingange sichtbar würde.

War es den Gefangenen also auch nicht möglich, zu entfliehen, so hatten sie doch, da sie sich einen Weg in den Frachtraum gebahnt hatten, Proviant in Form von konserviertem Fleisch und Schiffszwieback, sowie Bier, Brandy und Gin in Überfluß, und Harry Markel verlor gewiß alle Macht über sie, wenn sie sich hier nach Belieben berauschen konnten.

Die Elenden konnten sich über die Absicht des Will Mitz keiner Täuschung hingeben. Harry Markel wußte recht gut, daß sich der »Alert« nur siebzig bis achtzig Seemeilen von den Antillen befand. Bei dem vorherrschenden Winde war es leicht möglich, eine der Inseln in weniger als zwei Tagen anzulaufen. Auf dem hier viel befahrenen Meere begegnete der »Alert« auch voraussichtlich so manchem Schiffe, mit dem Will Mitz sich in Verbindung setzen konnte. Ob an Bord eines anderen Fahrzeuges oder in einem der Häfen Antiliens... jedenfalls hatte die Räuberhorde vom »Halifax«, die so verwegen aus dem Gefängnisse in Queenstown entsprungen war, nur noch die Strafe für ihre Verbrechen zu erwarten.

Auch Harry Markel mußte einsehen, daß ihm keine Aussicht auf Rettung mehr winkte und daß er seine Spießgesellen nicht wieder befreien und noch einmal zu Herren an Bord machen konnte.

Nach der festen Verschließung der Luken und des Treppeneinganges bestand kein weiterer Verbindungsweg zwischen dem Frachtraume und dem Verdeck. An ein Durchbrechen des Schiffsrumpfes über der Schwimmlinie, sowie an eine Zerstörung der dicken Inhölzer oder an eine Durchlöcherung der Deckplanken war ohne Werkzeuge gar nicht zu denken. Das wäre auch nicht auszuführen gewesen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Ebenso vergeblich hätten die Gefangenen sich bemüht, in das Hinterteil des Schiffes dadurch einzudringen, daß sie die dicke und feste Plankenwand der Kambüse zu durchbrechen versuchten. Zu der Kambüse gelangte man überhaupt nur durch eine Luke vor dem Kastell. Hatten die Passagiere jetzt auch nur die Vorräte in der Kambüse zur Verfügung, so reichten diese doch für acht bis zehn Tage ebensogut aus wie das Wasser in den Tonnen auf dem Verdeck. Binnen achtundvierzig Stunden aber sollte der »Alert« doch – so nahm man wenigstens an – eine der Inseln des Archipels erreicht haben.[358]

Das Wetter klarte indes nicht auf, und wenn das andere Schiff hatte nach Osten absegeln können, kam das jedenfalls daher, daß es weiter nördlich gelegen hatte, wo der Passat sich schon beim Anbruche des Tages erhoben hatte.

In Erwartung des Windes, von wo er auch kommen mochte, und während Hubert Perkins und Axel Wickborn auf dem Verdeck nahe der Treppenkappe Wache hielten, umringten die anderen Will Mitz, um auszuführen, was er ihnen aufzutragen hatte. Dabei äußerte Will Mitz:

»Das wichtigste ist und bleibt es für uns, so bald wie möglich die Antillen anzulaufen...

– Und da, sagte Tony Renault, diese Schurken der Polizei auszuliefern.

– Zuerst wollen wir doch an uns selbst denken, meinte der praktische Roger Hinsdale.

– Welchen Tag könnte der »Alert« wohl ankommen? fragte Magnus Anders.

– Morgen Nachmittag, wenn uns der Wind begünstigt, antwortete Will Mitz.

– Glauben Sie, daß der Wind von dieser Seite kommen werde? fragte Hubert Perkins, der dabei nach Osten hinwies.

– Das hoffe ich; er muß dann aber auch noch sechsunddreißig Stunden anhalten. Bei der jetzigen Neigung zu Gewittern weiß man freilich nie, woran man ist.

– Und welche Richtung werden wir einschlagen, erkundigte sich Louis Clodion.

– Die genau nach Westen.

– Sind wir da sicher, auf die Antillen zu treffen? fiel John Howard ein.

– Ganz gewiß, versicherte Will Mitz. Der Archipel hat zwischen Antigoa und Tabago eine Länge von vierhundert Seemeilen, und auf welche Insel wir auch treffen mögen... in Sicherheit werden wir auf jeder sein.

– Ohne Zweifel, erklärte Roger Hinsdale, gleichviel, ob das eine französische, englische, dänische oder holländische wäre, und selbst wenn wir durch ungünstige Winde aus unserem Kurs verschlagen würden und bei Guyana oder in einem Hafen der Vereinigten Staaten ans Land kämen.

– Was zum Kuckuck, rief Tony Renault, wir werden doch nicht an Nord- oder Südamerika zwischen Neuengland und dem Kap Horn vorübersegeln!


Der Lukendeckel wurde fest über seinen Scherstock gedrückt. (S. 357.)
Der Lukendeckel wurde fest über seinen Scherstock gedrückt. (S. 357.)

– Nein, das nicht, lieber Tony, schloß Will Mitz das Gespräch; der ›Alert‹ darf nur nicht durch Wind[359] stillen an diese Stelle gefesselt bleiben. Mag nur wieder Wind kommen und Gott es fügen, daß er uns günstig ist!«

Es genügte freilich nicht »daß der Wind günstig war, er durfte vorzüglich auch nicht zu heftig werden. Für Will Mitz wäre es eine gar zu schwierige Aufgabe gewesen, mit einer Mannschaft von jungen Leuten zu manövrieren, denen es an seemännischer Kenntnis fehlte oder die sich davon bei der ersten Überfahrt doch nur sehr wenig angeeignet hatten. Was sollte Will Mitz aber[360] beginnen, wenn ein schnelles Zugreifen nötig wurde, wenn entweder gehalst oder über Stag gesegelt werden sollte, wenn man lavieren oder Reffe einbinden mußte oder wenn gar ein Orkan die Bemastung zu zerstören drohte? Wie würde er gegen alle Möglichkeiten gewappnet sein, denen man in diesem von Zyklonen und Stürmen so oft heimgesuchten Meeresteile ausgesetzt ist?

Harry Markel rechnete vielleicht noch auf die üble Lage, in die Will Mitz kommen könnte; dieser war ja nur ein erfahrener und tatkräftiger Matrose, doch außer Stande, ein hinreichend genaues Besteck zu machen. Wurde die Lage[361] kritisch, trieben westliche Winde den »Alert« aufs hohe Meer hinaus, drohte ein Sturm diesen zu entmasten oder völlig zu zerstören, so würde sich – meinte er – Will Mitz wohl genötigt sehen. Markel und dessen Leute um Hilfe anzugehen, und dann...


 »Was halten Sie vom Wetter, Will?« (S. 363.)
»Was halten Sie vom Wetter, Will?« (S. 363.)

Doch nein... nimmermehr! Will Mitz hoffte, mit Hilfe der jungen Passagiere in jedem Falle auszukommen. Er wollte nur so viele Segel führen, daß sie leicht geborgen werden könnten, selbst wenn das die Fahrt des »Alert« etwas verlangsamte. Nein, eher zu Grunde gehen, als die Unterstützung jener Elenden anrufen, als wieder in ihre Hände fallen!

Soweit war man jedoch noch nicht, und was verlangte denn Will Mitz? Sechsunddreißig, höchstens achtundvierzig Stunden einen mäßigen Ostwind mit halbwegs ruhigem Meere. War das zuviel gehofft in einer Gegend, wo doch gewöhnlich ein Passatwind herrscht?

Es war jetzt gegen acht Uhr. Beim Überwachen der Treppenkappe und der beiden Luken hörte man die Mannschaft im Frachtraume hin- und hergehen und ihrer Wut in greulichen Flüchen und abscheulichen Verwünschungen Luft machen. Von den zur Ohnmacht verurteilten Burschen war indes nichts mehr zu fürchten.

Tony Renault schlug nun vor, endlich zu frühstücken. Nach der Anstrengung und Aufregung der vergangenen Nacht machte sich der Hunger mahnend fühlbar. Alles Nötige lieferten die Vorräte der Kambüse: Zwieback, konserviertes Fleisch und Eier, die der junge Mann in der Küche wo er alle Kochgeräte und dergleichen vorfand hart sott. Der Kambüse entnahm man auch etwas Whisky und Gin, die dem Süßwasser aus den Fässern in geringer Menge zugesetzt wurden. Durch dieses erste Frühstück gewannen alle Teilnehmer wieder neue Kräfte.

Auch Patterson hatte sich nicht davon ausgeschlossen; trotz seiner gewohnten Redseligkeit kamen ihm jetzt jedoch nur wenige Worte über die Lippen. Er begriff wohl vollständig den Ernst der gegenwärtigen Sachlage und die Gefahren des Meeres erschienen ihm jetzt in ihrer ganzen erdrückenden Schwere.

Gegen halb neun Uhr schien etwas Wind aufkommen zu wollen, und glücklicherweise ein solcher aus Osten. Auf dem Wasser zeigten sich lange Streifen kleiner Wellen, zwei Meilen von Backbord aber war zuweilen schon weißlicher Schaum zu sehen. Übrigens war alles ringsum öde und leer... kein Schiff zu sehen, soweit der Blick reichte.[362]

Will Mitz entschloß sich nun abzufahren. Die Bram- und Oberbramsegel, die bei starkem Winde gleich geborgen werden mußten, wollte er gar nicht führen.

Das große und das kleine Marssegel, das Fock-, das Brigg- und die Klüversegel würden ja hinreichen, schnell genug vorwärts zu kommen. Da alle diese Segel nur loszubinden, zu halfen und richtig einzustellen waren, mußte der »Alert« bald in westlicher Richtung davongleiten.

Will Mitz rief die jungen Leute zusammen. Er erklärte ihnen, was er von ihnen erwartete und wies jedem seinen Posten an.

Nachdem er Louis Clodion gesagt hatte, wie er das Steuer halten sollte, erstieg er die Marsen mit Tony Renault und Magnus Anders, die darin mehr geübt waren als ihre Kameraden.

»O... das macht sich!... Die Sache macht sich! rief Tony Renault mit der bei seinem Alter so natürlichen Vertrauensseligkeit, die ihn zu allem fähig zu machen schien.

– Ich hoffe es... mit Gottes Hilfe!« sagte Will Mitz.

Binnen einer Viertelstunde war der Dreimaster segelfertig und leicht geneigt glitt er dahin und ließ einen langen Streifen weißen Kielwassers hinter sich.

Bis ein Uhr wehte der Wind als leichte Brise, doch nicht ohne Unterbrechungen, die Will Mitz einige Unruhe verursachten. Im Westen türmten sich auch dicke, graublaue Wolken mit scharfem Rande auf, ein Beweis für den gewitterhaften Zustand der Atmosphäre.

»Was halten Sie vom Wetter, Will? fragte Roger Hinsdale.

– Es ist nicht ganz so, wie ich wünschte. Wir haben wahrscheinlich ein Gewitter oder mindestens starken Wind zu erwarten.

– Und wenn er von dieser Seite kommt?

– Ja, mein junger Freund, antwortete Will Mitz, wir haben einfach hinzunehmen, was uns beschert wird. Wir werden, bis der Passat wieder durchbricht, mehrfach kreuzen müssen, und wenn es nicht allzuhart weht, wird die Sache gut ablaufen. Das wichtigste für uns bleibt es nach wie vor, in Sicht eines Landes zu kommen, und wenn es erst in drei Tagen statt nach zweien erfolgt, so müssen wir uns drein ergeben. Fünf bis sechs Seemeilen von den Antillen treffen wir sicherlich auf Lotsen, die dann an Bord kommen, und ein paar Stunden später liegt der ›Alert‹ ruhig vor Anker.«[363]

Wie Will Mitz vorausgesehen hatte, hielt der Ostwind leider nicht lange an. Am Nachmittage wurde der »Alert« schon gründlich durch Gegenwellen geschaukelt, die der im fernen Westen aufgekommene starke Wind vor sich hertrieb.

Jetzt galt es also scharf am Winde zu segeln, um nicht aufs hohe Meer hinaus verschlagen zu werden. Das dazu erforderliche Manöver gelang recht leicht, ohne die Halsen zu wechseln. Tony Renault trat ans Steuer und hielt den Helmstock luvwärts. Will Mitz und die übrigen zogen die Trissen, die Schoten des Focksegels, der Mars-, der Klüversegel und des Briggsegels, an. Der »Alert« neigte sich etwas nach Steuerbord und trieb, zu dem ersten Schlage fertig, schnell nach Nordosten hin.

Im Frachtraume, worin sie eingesperrt waren, mußten es Harry Markel und seine Leute sicherlich bemerken, daß das Schiff sich jetzt mit Gegenwind von den Antillen entfernte. Diese dadurch bedingte Verzögerung konnte ihnen nur von Vorteil sein.

Gegen sechs Uhr abends meinte Will, der »Alert« sei nun nach Nordosten weit genug hinausgekommen, und zur besseren Ausnützung der Strömungen beschloß er, einen Schlag nach Südwesten machen zu lassen.

Das war das Segelmanöver, dem er mit der größten Besorgnis entgegensah. Um zu halfen ist ein Verfahren erforderlich, das die größte Sicherheit bei der Lageveränderung der Raaen erfordert. Der »Alert« hätte zwar auch backstags segeln können, wäre dabei aber Gefahr gelaufen, schwere Sturzseen überzunehmen. Zum Glück war der Wogengang nicht gar so stark. So holte man denn, bei luvwärts gehaltenem Steuer, das Briggsegel an und fierte so weit wie nötig die Schoten, so daß das Fock- und das kleine Marssegel den Wind nun von Steuerbord erhielten. Die Wendung gelang bald, und mit seinen von neuem gerichteten Segeln steuerte das Schiff nach Südwesten hinunter.

»Gut gemacht!... Bravo, meine jungen Herren! rief Will Mitz, als die Arbeit vollendet war. Sie haben hier manövriert wie echte, erfahrene Matrosen...

– Unter der Leitung eines guten Kapitäns!« antwortete Louis Clodion im Namen aller seiner Kameraden.

Wenn da Harry Markel, John Carpenter und die übrigen im Frachtraume oder im Volkslogis zu der Überzeugung kamen, daß es ohne ihre Hilfe gelungen[364] sei, das Schiff zu wenden, so konnte man sich wohl leicht denken, in welch tolle Wut sie das versetzen mußte.

Zum Mittagsessen, das kaum mehr Zeit in Anspruch nahm als das Frühstück, hatte Tony Renault noch einige Tassen Tee zurechtgemacht.

Gleich nach dem Essen verschwand Patterson wieder in seine Kabine, da er ja doch nirgends von Nutzen sein konnte.

Will Mitz verteilte nun die Nachtwachen zwischen Louis Clodion und dessen Kameraden.

Fünf von den jungen Leuten sollten auf dem Verdeck bleiben, während die vier übrigen der Ruhe pflegten. Von vier zu vier Stunden hatten sie einander abzulösen, und wenn es vor Tagesanbruch nötig wurde, das Schiff abermals zu wenden, so sollten alle dabei mit Hand anlegen.

Übrigens wurde ihnen empfohlen, die Treppenkappe und die Luken sorgsam zu überwachen, um vor jeder Überraschung gesichert zu sein.

Nachdem das vereinbart war, begaben sich Roger Hinsdale, Niels Harboe, Albertus Leuwen und Louis Clodion nach der Kajüte und streckten sich völlig bekleidet auf ihren Lagerstätten aus. Am Steuer stehend, folgte Magnus Anders den Anweisungen, die Will Mitz ihm gab. Tony Renault und Hubert Perkins nahmen auf dem Vorderteile Platz, und Axel Wickborn hielt sich mit John Howard am Fuße des Großmastes auf.

Will Mitz ging überall umher, hatte ein Auge auf alles, ließ die Schoten nachschießen oder holte sie an, je nachdem der Wind das erforderte, und ergriff auch die Ruderpinne, wenn diese einer festen und erfahrenen Hand bedurfte... kurz, er war Kapitän, Bootsmann, Marsgast, Steuermann und Matrose, alles in einer Person.

Die Wachthabenden folgten einander, wie das bestimmt worden war. Die die geschlafen hatten, traten auf dem Vorder- und Hinterdeck an die Stelle ihrer Kameraden.

Nur Will Mitz bestand darauf, bis zum Morgen auf den Füßen zu bleiben.

Nach einer ungestört verlaufenen Nacht – auch das vorher aufgestiegene Gewitter hatte sich zerstreut – wehte nur noch eine leichte Brise. Die Segelfläche brauchte also nicht verkleinert zu werden, eine Arbeit, die in der Finsternis doch recht schwierig gewesen wäre.

Im Volkslogis und Frachtraum ging es zwar wiederholt laut zu, doch unterließen Harry Markel und seine Leute jeden weiteren Versuch, das Schiff[365] wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Sie mochten wohl wissen, daß ein solcher, selbst in der Nacht, hätte scheitern müssen. Zuweilen drang nur ein Wutschrei durch die Luken nach oben, und man hörte gelegentlich das Gepolter der Betrunkenen, das sich aber auch nach und nach legte.

Am Morgen hatte der »Alert« nun drei Schläge nach Westen gemacht. Die Entfernung, die ihn von den Antillen trennte, mochte sich jedoch kaum um zehn bis zwölf Seemeilen verkleinert haben.

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 355-366.
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