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[236] Als der Dreimaster über die Bai von Pointe-à-Pitre hinausgekommen war, erhob sich eine östliche Brise, die seiner Fahrt nach der hundert Seemeilen südlicher gelegenen Insel Dominica (Dominique) trefflich zu statten kam. Mit allen Segeln schwebte der »Alert« einer Möve gleich über die glitzernde Meeresfläche dahin. Hielt der Wind gut aus, so konnte das Schiff jene Strecke in vierundzwanzig Stunden zurücklegen. Der Barometer stieg aber schon langsam, was auf zu erwartende Windstille und also auf eine Verlängerung der Überfahrt hindeutete.
Der »Alert« war ja ein vorzügliches Schiff, obendrein, wie hier wiederholt sei, geführt von einem Kapitän, der seine Sache gründlich verstand und der über eine Mannschaft verfügte, die nicht erst noch Proben ihrer Tüchtigkeit abzulegen brauchte. Für die Erfüllung der Wünsche des Herrn Henry Barrand war also keine Aussicht vorhanden. Selbst beim schlechtesten Wetter wäre Harry Markel ausgelaufen, ohne zu fürchten, daß er an die Klippen der Bucht geworfen werden könnte. Die Passagiere mußten infolgedessen auf das gastfreundliche Anerbieten des Pflanzers von Rose-Croix von vornherein verzichten.[236]
Sollte die Fahrt bei den eben herrschenden atmosphärischen Verhältnissen auch etwas länger dauern, so begann sie wenigstens unter den glücklichsten Umständen.
Von Pointe-à-Pitre glitt das nach Süden steuernde Schiff an der Gruppe des Saintes vorüber, die von einem dreihundert Meter hohen Hügel überragt wird. Deutlich erkannte man die dessen Gipfel krönende Befestigung, über der die französische Flagge wehte.
Les Saintes sind dauernd in Verteidigungszustand; sie bilden gleichsam eine vorgeschobene Zitadelle, die auf dieser Seite die Zufahrtsstraßen nach Guadeloupe beschützt.
Tony Renault und Magnus Anders beteiligten sich nach wie vor eifrig an allen Schiffsmanövern. Sie bezogen sogar wie alte Matrosen die Wachen, selbst die Nachtwache, was auch der wegen der Tollkühnheit der jungen Leute beunruhigte Mentor dagegen einwenden mochte.
»Ich empfehle sie Ihrer besondern Obhut, Kapitän Paxton, sagte er wiederholt zu Harry Markel. Bedenken Sie nur, wenn ihnen ein Unfall zustieße. Wenn ich sie so auf die Masten klettern sehe, fürchte ich immer, sie könnten jeden Augenblick...
– Aus den Raaen geworfen...
– Ja ja, beim Stampfen oder Schlingern des Schiffes herunter geworfen und ins Meer geschleudert wer den. Bedenken Sie meine Verantwortlichkeit, Herr Kapitän!«
Und wenn Harry Markel dann versicherte, er werde die jungen Leute keine Unbesonnenheit begehen lassen, seine Verantwortlichkeit als Kapitän sei ja mindestens ebenso groß wie die des Herrn Patterson, dann dankte ihm dieser in den wärmsten Ausdrücken, die freilich das Eis des falschen Kapitäns Paxton auch nicht zum Auftauen brachten.
Daneben richtete der ängstliche Verwalter die ernstesten Ermahnungen an den jungen Schweden und den jungen Franzosen.
»O, keine Sorge, Herr Patterson! erwiderten diese. Wir halten uns schon ordentlich fest.
– Wenn euch die Hände aber einmal erlahmten, wenn ihr herunterstürztet...
– De brancha in brancham fällt er hinab atque facit Puff! wie Virgil sagt, deklamierte Tony Renault.[237]
– Herr des Himmels, rief Patterson, die Arme erhebend, einen solchen Hexameter – wenn es einer sein soll – hat der Schwan von Mantua denn doch nicht verbrochen!
– Das hätte er aber tun sollen, antwortete der zungenfertige Tony Renault, denn die Endversfüße atque facit Puff! sind doch vortrefflich!«
Die beiden Kameraden lachten dazu aus vollem Herzen.
Jedenfalls konnte der würdige Mentor sich beruhigen: waren Tony Renault und Magnus Anders auch kühn wie Schiffsjungen, so waren sie doch auch gewandt wie Affen. Übrigens behielt sie John Carpenter fleißig im Auge, schon aus Sorge, mit ihrem Verschwinden auch den ihnen winkenden Preis verloren gehen zu sehen. Außerdem kam es doch darauf an, daß der »Alert« nicht im Fall eines Unglücks an einer der Antillen ungebührlich lange aufgehalten würde; erlitt aber einer oder der andere der beiden jungen Leute einen Knochenbruch, so mußte ja die weitere Reise dadurch verzögert werden.
Anderseits kam die Mannschaft mit den Passagieren nur sehr wenig in Berührung. Diese mußten wohl bemerken, daß die Leute sich meist bei Seite hielten und keinen nähern Verkehr suchten, was alle Matrosen sonst doch so gern tun. Nur Wagah und Corty standen gelegentlich Rede und Antwort, die andern beobachteten streng die ihnen von Harry Markel empfohlene Zurückhaltung. Wunderten sich Roger Hinsdale und Louis Clodion zuweilen über diese Haltung, und bemerkten sie auch wiederholt, daß die Leute vom Schiffe bei ihrer Annäherung stets plötzlich verstummten, so genügte das doch noch nicht, einen besondern Verdacht zu erwecken.
Patterson selbst wäre es nie in den Sinn gekommen, darüber eine Bemerkung zu äußern. Er fand nur, daß die Reise unter den angenehmsten Umständen verlief – was ja auch Tatsache war – und er schätzte sich glücklich, über das Deck jetzt, ohne sich überall anzuklammern – pede maritimo – dahinstolzieren zu können.
Da das stille Wetter angehalten hatte, kam der von einer leichten Nordwestbrise getriebene »Alert« erst am Morgen des 24. August in Sicht der Insel Dominica.
Die Hauptstadt der Kolonie, Ville-des-Roseaux (Rohr-, d. h. Schilfrohrstadt), zählt ungefähr fünftausend Einwohner. Sie liegt an der Ostseite der Insel, deren Anhöhen sie gegen den hier oft recht stürmischen Passatwind schützen. Der Hafen ist gegen den Wogengang von außen her leider nicht genügend[238] gesichert, und die Fahrzeuge treiben darin, vorzüglich zur Zeit der Springflut, häufig vor Anker, so daß die Schiffsbesatzungen stets bereit sein müssen, beim ersten Anzeichen schlechten Wetters ihre Stellung zu wechseln.
Obwohl der »Alert« mehrere Tage bei Dominica liegen bleiben sollte, zog es Harry Markel doch, und zwar mit Recht, vor, nicht an der Ville-des-Roseaux vor Anker zu gehen. Nach der gleichen Himmelsrichtung liegend, gibt es nahe dem Nordende der Insel eine vortreffliche Reede, die Reede von Portsmouth, wo die Schiffe nichts von den Orkanen und Zyklonen zu fürchten haben, die diese Gegenden so häufig verwüsten.
In letztgenannter Stadt war John Howard, der vierte Preisträger im Wettbewerbe, vor achtzehn Jahren geboren, heute fand er hier ein aufblühendes Gemeinwesen, das sich in Zukunft noch zu einem wichtigen Handelszentrum ausgestalten wird.
Die Passagiere betraten den Boden von Dominica an einem Sonntage; wäre das am 3. November geschehen, so wäre es am Jahrestag seiner Entdeckung durch Christoph Columbus im Jahre 1493 gewesen.
Der berühmte Seefahrer hatte die Insel zu Ehren des an Bord seiner Karavellen gefeierten Sonntags (des Dies dominicus) mit diesem Namen bezeichnet.
Dominica bildet eine wichtige englische Kolonie, die eine Bodenfläche von siebenhundertvierundfünfzig Quadratkilometern hat. Gegenwärtig ist sie von dreißigtausend Menschen bevölkert, welche die zur Zeit der Besitznahme karaïbische Bevölkerung verdrängt haben. Anfänglich wollten sich die Spanier hier gar nicht festsetzen, trotz der Fruchtbarkeit der Täler, der schönen Wasserläufe und trotz der an Nutzholz reichen Waldungen.
Wie seine westindischen Schwestern ist Dominica nach und nach in den Besitz verschiedener europäischer Mächte gekommen. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts war es französisch. Die ersten Kolonisten führten hier den Anbau von Kaffee und Baumwolle ein, und 1622 betrug ihre Anzahl dreihundertneunundvierzig, wozu noch dreihundertachtundvierzig Sklaven aus Afrika kamen.
Anfänglich lebten die Franzosen in gutem Einvernehmen mit den Karaïben, deren Zahl sich etwa auf tausend Seelen belief. Diese Eingebornen stammten von einer kräftigen, arbeitsamen Rasse ab, nicht von der der Rothäute, sondern eher von den Indianern, die Guyana und die nördlichen Gebiete Südamerikas bevölkerten.[239]
Im gesamten antilianischen Archipel ist merkwürdigerweise die Sprache der Frauen eine etwas andre als die der Männer. Hier herrschen zweierlei Idiome, das eine, das der Frauen, ein aronakischer, das andre, das der Männer, ein galibischer Dialekt. Die grausamen und ungastlichen Eingebornen standen, obwohl ihnen religiöse Begriffe nicht fremd waren, mit Recht im Rufe der Menschenfresserei, und allem Anscheine nach ist der Name Karaïbe ein Synonym für diese empörende Sitte. Das würde aber immer noch nicht die Grausamkeiten entschuldigen, die die spanischen Eroberer seinerzeit gegen die Eingebornen verübten.[240]
Da die Karaïben aber unausgesetzt feindliche Einfälle in alle Inseln des Archipels unternahmen, wobei sie sich großer, mit der Axt aus Baumstämmen zugehauener Piroguen bedienten, und da sie die indianischen Urbewohner erbarmungslos abschlachteten, mußten diese blutdürstigen Wilden ausgerottet werden. Seit der Entdeckung der Antillen sind sie dann auch nach und nach verschwunden, und von der, den mehr nördlich siedelnden Eingebornen überlegenen Rasse gibt es nur noch wenige Vertreter auf Martinique und auf Sankt-Vincent. Auf Dominica, wo sie nicht so schonungslos verfolgt wurden, leben heute etwa noch dreißig karaïbische Familien.
Hatten sich die Europäer aber auch verschworen, die Karaïben zu vernichten, so verschmähten sie es doch nicht, sich ihrer in ihren gegenseitigen Streitigkeiten zu bedienen. Wiederholt benutzten die Engländer und die Franzosen sie als furchtbare Hilfstruppen, wozu ihre Kampflust sie besonders geeignet machte, obwohl die Europäer entschlossen waren, die Rasse später zu vertilgen.
Seit den ersten Zeiten der Besitznahme hatte Dominica aber genügende koloniale Wichtigkeit, die Eifersucht der Mächte zu erregen und auch Flibustier anzulocken.[241]
Nach den Franzosen, die hier die ersten Ansiedlungen gegründet hatten, kam die Insel erst in die Gewalt der Engländer und dann in die der Holländer. Es war also recht wohl möglich, daß Roger Hinsdale, John Howard, Hubert Perkins, Louis Clodion, Tony Renault und Albertus Leuwen alle hier Vorfahren gehabt hätten, die vor zwei oder drei Jahrhunderten vielleicht... einander getötet hatten.
Infolge des 1745 zwischen England und Frankreich ausgebrochenen Krieges ging Dominica in die Hände Englands über. Vergeblich protestierte die französische Regierung dagegen mit aller Energie und verlangte die Rückgabe dieser Kolonie, für die schon so viele Menschenleben und Kosten geopfert worden waren. Die Regierung erlangte das auch nicht bei dem Friedensschlusse in Paris im Jahre 1763... Dominica blieb zunächst unter der britischen Flagge.
Frankreich konnte das aber nicht hinnehmen, ohne eine Revanche wenigstens zu versuchen. Im Jahre 1778 zog der Marquis de Bouillé, der Statthalter von Martinique, mit einem Geschwader kleinerer Schiffe zur Wiedereroberung der Kolonie aus. Er bemächtigte sich bald der Ville-des-Roseaux und behielt diese auch bis 1783 in seiner Gewalt. Dann erschienen aber die Engländer mit großer Übermacht auf dem Plane, und Dominica kam aufs neue und endgültig unter die Oberhoheit Britanniens.
Natürlich dachten die jungen englischen, holländischen und französischen Preisträger vom »Alert« nicht im entferntesten daran, die alten Streitigkeiten zu erneuern und jeder für sein Vaterland den Sitz der Insel zu beanspruchen. Horatio Patterson, ein Mann mit hoher Achtung für erworbene Rechte, brauchte also nicht als Vermittler in einer Frage dieser Art aufzutreten, einer Frage, die ja sogar das europäische Gleichgewicht zu erschüttern gedroht hätte.
Schon seit sechs Jahren wohnte jetzt die Familie John Howards nach ihrem Wegzuge aus Portsmouth (auf Dominica) in Manchester, in der Grafschaft Lancaster.
Der junge Mann erinnerte sich seiner Heimatinsel aber noch ziemlich deutlich; war er doch schon zwölf Jahre alt gewesen, als seine Eltern aus der Kolonie auswanderten, ohne ein einziges Familienmitglied da zurückzulassen. John Howard fand hier also weder einen Bruder wieder, wie Niels Harboe auf Sankt-Thomas, noch einen Onkel, wie Louis Clodion auf Guadeloupe. Vielleicht begegnete er aber doch einem Freunde seiner Familie, der sich ein Vergnügen daraus machte, den Zöglingen der Antilian School einen freundlichen Empfang zu bereiten.[242]
Fand John Howard jedoch einen solchen nicht und auch keine Personen, die mit seinem Vater in Geschäftsverbindung gestanden hatten, so hatte er sich beim Eintreffen in Portsmouth doch vorgenommen, wenigstens einen Besuch abzustatten, der ihm sehr am Herzen lag, wenn es sich dabei auch nicht um eine so herzliche Aufnahme, wie die bei Christian Harboe auf Sankt-Thomas oder um eine so schrankenlose Gastfreundlichkeit handeln kannte, wie die, die die jungen Reisenden bei Harry Barrand auf Guadeloupe gefunden hatten. John Howard und seine Kameraden würden voraussichtlich aber doch von so manchen braven Leuten gut aufgenommen werden.
Mit ihrem Ehemann lebte hier in Portsmouth nämlich noch eine alte Negerin die früher im Dienste der Familie Howard gestanden hatte und deren bescheidene Existenz durch die Freigebigkeit ihrer einstigen Herrschaft gesichert war.
Wie erfreut, ja mehr als erfreut, wie tief gerührt würde diese sein, wenn sie jetzt den schmucken Jüngling wieder sah den sie vor langen Jahren als Kind auf den Armen getragen hatte! Ja, das war bei Kate Grindah vorauszusehen. Weder sie noch ihr Mann erwarteten einen solchen Besuch. Beide wußten ja nichts davon, daß der »Alert« bei Dominica ankern werde, und noch viel weniger, daß sich »der kleine John« an Bord dieses Schiffes befände und sich beeilen werde, das bejahrte Ehepaar aufzusuchen.
Gleich nachdem der »Alert« festgelegt war, begaben sich die jungen Passagiere ans Land. Während des achtundvierzigstündigen Aufenthaltes auf Dominica sollten sie jeden Abend an Bord zurückkehren und sich also auf Ausflüge in der nächsten Umgebung der Stadt beschränken. Am Abend erwartete sie dann ein Boot, um sie wieder nach dem Schiffe zu bringen.
Harry Markel hatte es so gewünscht, da es ihm ja darauf ankam, jeden Verkehr mit den Bewohnern von Portsmouth möglichst zu vermeiden. Die gewöhnlichen Formalitäten beim Ein- und Auslaufen der Schiffe hatte er natürlich zu erfüllen. In jedem englischen Hafen war für ihn aber mehr als in anderen Häfen die Begegnung von Personen zu fürchten, die den Kapitän Paxton oder doch den und jenen von der Mannschaft gekannt hatten. Er ließ den »Alert« deshalb in einiger Entfernung vom Kai vor Anker legen und untersagte den Mannschaften, ans Land zu gehen. Einer umfänglicheren Erneuerung des Proviants bedurfte es hier nicht, nur Mehl und frisches Fleisch war einzukaufen, und er sorgte dafür, daß das mit kluger Vorsicht geschah.[243]
John Howard, der sich an Portsmouth besonders gut erinnerte, konnte seinen Kameraden als Führer dienen. Diese kannten übrigens seine Absicht, zuerst nach dem Häuschen Grindahs zu gehen und die alte Wärterin zu begrüßen. Von der Ausschiffungsstelle aus durchwanderten also alle die Stadt und begaben sich nach der Vorstadt, wo die letzten Häuser schon halb auf dem Lande verstreut lagen.
Der Weg war nicht lang. Nach kaum einer Viertelstunde standen die Leute vor einer bescheidenen, recht sauberen Hütte, die von einem Garten mit Obstbäumen umgeben war, neben dem noch ein Wirtschaftshof mit vielem Geflügel lag.
Der Alte arbeitete eben im Garten, seine Frau befand sich im Hause, trat aber gerade in dem Augenblicke heraus, wo John Howard die Tür der Umzäumung öffnete.
Da entfuhr Kate ein lauter Freudenschrei, als sie »das Kind« erkannte, das sie seit sechs Jahren nicht gesehen hatte. Und wären es ihrer zwanzig gewesen, sie hätte ihn auf den ersten Blick herausgefunden, den ältesten Sprößling der Familie. Das ist nicht eine Sache der Augen, sondern vor allem eine des Herzens.
»Du... du... John! rief sie wiederholt und preßte den jungen Mann in die Arme.
– Ja... ich... meine gute Kate... ich bin's!«
Da mischte sich der Alte ein.
»Er... John?... du irrst dich... das ist er nicht, Kate!
– Doch... das ist John!
– Ja, ja... ich bin's!«
Ein weiteres Wort konnte er nicht hervorbringen. Inzwischen hatten seine Kameraden die beiden wackeren Alten umringt und schlossen diese nun einer nach dem andern in die Arme.
»Ja... rief Tony Renault, ja freilich... wir sind es! Erkennt ihr uns denn nicht?«...
Zunächst mußte nun alles erklärt und gesagt werden, warum der »Alert« nach Dominica gekommen wäre... natürlich nur um der alten Negerin und ihres Gatten willen. Beweis dafür, daß gleich der erste Besuch dem braven Ehepaare gegolten habe. Auch Horatio Patterson konnte seine Rührung nicht verbergen und drückte den beiden bejahrten Leuten herzlichst die Hände.
Dann fing Kate mit der lauten Bewunderung »ihres Kindes« aufs neue an. Wie er gewachsen war!... Wie er sich vorteilhaft verändert hatte!... Welch ein hübscher Bursche!... O, sie hatte ihn ja sofort erkannt... und der Alte konnte darüber noch im Zweifel sein!... Immer wieder zog sie ihn in ihre Arme und weinte vor[244] Freude.
Hierauf ging es ans Erzählen von der Familie Howard. Dem Vater, der Mutter, den Brüdern, den Schwestern... allen ging's wohl. Sie sprachen häufig von der Kate und ihrem Manne... man hatte ja keines von beiden vergessen. John Howard übergab ihnen auch ein schönes Geschenk, das er eigens für sie mitgebracht hatte. So lange der »Alert« hier liegen blieb, wollte er keinen Abend und keinen Morgen vergehen lassen, ohne die herzensguten Leute aufzusuchen. Schließlich wurde ein Gläschen Tafia (Rum von Jamaika) verzehrt und dann zog sich die Reisegesellschaft zurück.
Bei den Ausflügen, die John Howard und seine Kameraden in der Umgebung der Stadt unternahmen, kamen sie unter anderem nach dem Fuße des Mont Diablotin, den sie alsbald erstiegen. Vom Gipfel aus bot sich eine Aussicht über die ganze Insel. Fast außer Atem, als er die mäßige Höhe erstiegen[245] hatte, glaubte der Mentor aus Virgils Lehrgedicht Georgica ein Citat anbringen zu müssen.
»Velut stabuli custos (deklamierte er) in montibus olim considit scopulo...«
Nun ja, meinte der Schalk Tony Renault, wenn man davon absähe, daß sich Herr Patterson auf keinem wirklichen Berge befände, und daß er kein Schäfersmann, kein custos stabuli sei, dann passe ja das Citat vortrefflich.
Von der Höhe des Diablotin aus schweifte der Blick über gut angebautes Land, das viel Obst für die Ausfuhr erzeugte, zu der noch der Schwefel kommt, wovon die Insel große Mengen liefert. Daneben bildet die Kultur des Kaffeebaumes, die gegenwärtig in erfreulicher Zunahme ist, den Hauptreichtum Domimeas.
Am nächsten Tage besuchten die jungen Reisenden die fünftausend Einwohner zählende Ville-des-Roseaux, die einen reizenden Anblick bietet, doch wenig Handelsverkehr zeigt, da die englische Regierung sie, wie man dort zu sagen pflegt, »mit einer Halblähmung geschlagen hat«.
Die Abfahrt des »Alert« war, wie wir wissen, auf den Morgen des 26. August festgesetzt. Während die jungen Touristen dann am 25. gegen fünf Uhr nachmittags noch einen letzten Spaziergang am Ufer im Norden der Stadt machten, begab sich John Howard noch einmal über diese hinaus, um sich von der alten Kate zu verabschieden.
Als er da in eine der auf den Kai mündenden Straßen einbog, trat an ihn ein etwa fünfzigjähriger Mann heran, dem Ansehen nach ein Seemann, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, der auf den in der Mitte des Hafens liegenden »Alert« hinwies.
»Ein schönes Schiff, junger Herr, begann er, und für einen Matrosen ein besonderes Vergnügen, es zu betrachten.
– Gewiß, antwortete John Howard, ein ebenso gutes wie schönes Schiff, das eben eine Fahrt von Europa nach den Antillen gemacht hat.
– Ja ja, ich weiß... ich weiß es, erwiderte der Seemann, ebenso wie mir bekannt ist, daß Sie der Sohn des Herrn Howard sind, bei dem die alte Kate und ihr Mann im Dienste standen.
– Sie kennen die wackeren Leute?...
– Wir sind Nachbarn, Herr John.
– Und ich wollte jenen eben Lebewohl sagen, da wir morgen abreisen.[246]
– Schon morgen?
– Ja. Wir haben noch Martinique, Sancta-Lucia und Barbados zu besuchen.
– Ja ja, das weiß ich. Doch sagen Sie mir, Herr John, wer befehligt den ›Alert‹?
– Der Kapitän Paxton.
– Der Kapitän Paxton? wiederholte der Matrose. O, den kenne ich... kenne ich sehr gut.
– Sie kennen ihn persönlich?
– Und ob Ned Butlar ihn kennt! Das wollt' ich meinen! Wir sind auf dem ›Northumberland‹ in den südlichen Meeren zusammen gefahren. Das mag so seine fünfzehn Jahre her sein, wo er erst Obersteuermann war. Er ist etwa ein Mann von einigen vierzig Jahren, nicht wahr?
– Ja, ungefähr so alt mag er sein.
– Etwas untersetzt von Gestalt...
– O nein, er ist ziemlich groß und stark.
– Hat rötliche Haare?
– Nein, ganz schwarze.
– Das ist merkwürdig! meinte der Matrose. Ich erinnere mich seiner doch so genau, als wenn er hier vor mir stände...
– Da Sie den Kapitän Paxton kennen, sagte John Howard, so sachen Sie ihn doch einmal auf. Er wird sich freuen, mit einem alten Reisegenossen einen Händedruck wechseln zu können.
– Ja ja, das soll geschehen,
– Doch noch heute, am besten sofort. Der ›Alert‹ geht morgen schon ganz früh in See.
– Ich danke Ihnen, Herr John; und ich werde den ›Alert‹ nicht auslaufen lassen, ohne dem Kapitän Paxton meinen Besuch gemacht zu haben.«
Damit trennten sich beide und John Howard ging nach der höher gelegenen Vorstadt weiter.
Jetzt drohte nun Harry Markel und seiner Mannschaft eine ernste Gefahr. Dieser Ned Butlar kannte den Kapitän Paxton, da beide zwei Jahre lang miteinander gefahren waren, und was mußte der Mann sagen, was darüber denken, wenn er erst vor Harry Markel stand, der ja mit dem frühern Obersteuermann des »Northumberland« nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.
Als der Matrose an der Steuerbordstiege des »Alert« angekommen war, rief ihn der auf dem Deck umherspazierende Corty an.
»He, Kamerad, fragte er, was wünscht ihr denn hier?[247]
– Ich möchte den Kapitän Paxton sprechen.
– Kennt ihr ihn denn? erkundigte sich Corty mit gewohnter Vorsicht.
– Ob ich ihn kenne! Wir sind ja zusammen auf den südlichen Meeren gefahren.
– Ah... wirklich?... Und was wollt ihr denn bei dem Kapitän Paxton?[248]
– O, nur ein paar Minuten mit ihm plaudern, ehe er weiterfährt. Es ist doch immer ein Vergnügen, einander nach langem Getrenntsein einmal wiederzusehen, nicht wahr, Kamerad?
– Ganz gewiß.
– So werd' ich also hinaufkommen.
– Der Kapitän Paxton ist aber augenblicklich nicht an Bord.
– Dann werd' ich ihn erwarten...
– Das wäre vergeblich; er wird erst sehr spät am Abend wiederkommen.
– Da wäre also keine Aussicht, ihn noch heute zu sprechen?
– Nein... leider gar keine.
– Doch morgen... bevor der ›Alert‹ ausläuft...
– Vielleicht... wenn ihr zeitig genug kommt.
– Natürlich; mir liegt ja ebensoviel daran, den Kapitän Paxton zu sprechen, wie gewiß umgekehrt auch ihm, wenn er erfährt, wer ich bin.
– Ja ja, daran zweifle ich gar nicht, antwortete Corty ironisch.
– So meldet ihm Ned Butlar, Kamerad; Ned Butlar vom ›Northumberland‹ sei dagewesen, ihn zu begrüßen.
– Das soll geschehen.
– Also... auf morgen?...
– Ja, auf morgen!«
Ned Butlar stieß sein Boot von der Schiffswand ab und ließ sich wieder nach dem Kai hinüberrudern
Sobald er eine Strecke entfernt war, begab sich Corty nach der Kabine Harry Markels und setzte diesen von dem Zwischenfall in Kenntnis.
»Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß dieser Seemann den Kapitän Paxton persönlich kennt, murmelte Markel.
– Und daß er morgen früh wiederkommt, fügte Corty hinzu.
– Das steht ihm frei... wir werden aber nicht mehr hier sein.
– Der ›Alert‹ soll doch erst um neun Uhr abfahren, Harry...
– Der ›Alert‹ fährt ab, wann es ihm beliebt, erwiderte Harry Markel. Aber kein Wort von dieser Geschichte gegenüber den Passagieren!
– Natürlich nicht, Harry! Ich muß jedoch gestehen, ich gäbe gern meinen Anteil an der zu erwartenden Beute hin, wenn wir aus dieser Gegend weg wären, wo es für uns niemals geheuer ist.[251]
– Noch vierzehn Tage Geduld und Vorsicht, Corty, mehr braucht es ja nicht!«
Als Horatio Patterson mit seinen Begleitern an Bord zurückkehrte, war es schon zehn Uhr abends. John Howard hatte von der alten Kate und deren Mann Abschied genommen, und es versteht sich, daß es dabei zu den zärtlichsten Umarmungen kam und die herzlichsten Wünsche für das Wohlergehen der Familie Howard ausgesprochen wurden.
Nach dem sehr anstrengenden Tage fühlten alle ein recht dringendes Bedürfnis, sich auf ihrem Lager auszustrecken, und sie waren schon dabei, ihre Kabinen aufzusuchen, als John Howard noch fragte, ob nicht ein Matrose namens Ned Butlar aufs Schiff gekommen sei, der seine alte Bekanntschaft mit dem Kapitän Paxton zu erneuern gewünscht hätte.
»Jawohl, bestätigte Corty, der Kapitän war aber gerade auf der Insel im Hafenamte.
– Dann wird jener Butlar gewiß morgen, vor der Abfahrt des ›Alert‹ wiederkommen.
– Das hab' ich mit ihm verabredet,« antwortete Corty.
Eine Viertelstunde später ertönte in der Hauptkabine schon das lauteste Schnarchen, das eine Gesellschaft übermüdeter Schläfer je hatte hören lassen und das hier noch von dem Bariton Horatio Pattersons übertönt wurde.
Die Passagiere vernahmen also nichts von dem Geräusch, das früh drei Uhr begann, als der »Alert« sich anschickte, den Hafen von Portsmouth zu verlassen.
Erst sechs Stunden später erschienen, als das Schiff schon fünf bis sechs Meilen von Dominica entfernt war, Magnus Anders und Tony Renault als die ersten auf dem Verdeck.
»Wie... schon abgefahren? riefen sie.
– Abgefahren, ohne daß wir dabei geholfen haben? setzte Tony Renault hinzu.
– Ja, ich befürchtete einen Umschlag des Wetters, erklärte Harry Markel, und da wollte ich den Landwind noch benutzen...
– Nun ja, sagte John Howard, doch der wackere Butlar, dem offenbar so viel daran gelegen war, Sie zu sehen, Herr Kapitän!
– Ach ja... Butlar... ich erinnere mich seiner, wir sind eine Zeitlang miteinander gefahren, antwortete Harry Markel, doch ich konnte nicht länger warten.[252]
– Der arme Mann, sagte John Howard, das wird ihm recht schmerzlich sein! Ich weiß übrigens nicht, ob er Sie wiedererkannt hätte. Er beschrieb Sie als dick und kurz, mit rötlichem Barte...
– Den Alten wird sein Gedächtnis im Stiche gelassen haben, begnügte sich Harry Markel zu bemerken.
– Ein wahres Glück, daß wir davongegangen sind, raunte Corty dem Bootsmanne ins Ohr.
– Das will ich meinen. antwortete John Carpenter, hier war uns ein kitzliches Strickende näher als je bisher!«
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