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[271] Die Überfahrt zwischen Martinique und Sankta-Lucia verlief ebenso ungestört wie ziemlich schnell. Der Wind wehte als frische Brise von Nordosten, und mit allen Segeln legte der »Alert«, ohne die Halsen je wechseln zu müssen, im Laufe des Tages die neunzig Seemeilen zurück, die Saint-Pierre von Castries, dem Hauptorte der englischen Insel, trennen.
Immerhin traf Harry Markel in Sicht von Sankta-Lucia erst mit Eintritt des Abends ein und hielt es deshalb für angezeigt, zunächst aufzubrassen, um erst mit Tagesanbruch in den zum Hafen führenden Kanal einzulaufen.
In den ersten Morgenstunden waren die höchsten Gipfel von Martinique noch sichtbar gewesen. Der Mont Pelé, dem Tony Renault bei der Ankunft zuerst zugejauchzt hatte, erhielt von diesem auch den letzten Scheidegruß.
Der Hafen von Castries bietet mit seinen mächtigen Uferhöhen einen herrlichen Anblick. Er bildet einen weiten Kreis, in den das Meer hineinbricht. Selbst Schiffe mit großem Tonnengehalte finden darin sicheren Ankerplatz. Die Häuser der amphitheatralisch angelegten Stadt ragen übereinander bis zu den Kammhöhen der Umgebung hervor. Die Stadt liegt, wie die meisten in Antilien, mit der Hauptfront nach Westen und ist dadurch gegen die Seewinde und die oft so starken atmosphärischen Störungen recht gut geschützt.
Es wird niemand wundernehmen, daß Roger Hinsdale »seiner« Insel den Vorrang vor allen anderen der Gruppe zusprach. Weder Martinique noch Guadeloupe konnte in seinen Augen einen Vergleich mit dieser aushalten. Der junge, von britischem Hochmut erfüllte Engländer mit seiner stets überlegenen Miene pochte bei jeder Gelegenheit auf seine Nationalität, entlockte seinen Kameraden damit jedoch nur ein halb spöttisches Lächeln. An Bord fand er freilich in John Howard und Hubert Perkins einigen Rückhalt, obwohl diese beiden weniger »verengländert« waren als er. Wo jedoch angelsächsisches Blut in den Adern fließt, weiß man ja längst, daß dieses seine eigenen Wirkungen äußert, es ist darüber also kein weiteres Wort zu verlieren.[271]
Nach dem Beispiele Louis Clodions und Tony Renaults, und wohl auch infolge einer natürlichen Anregung, gedachte er auf Sankta-Lucia »die Honneurs zu machen«, hier, wo seine Eltern unter der vornehmen Gesellschaft der Insel eine so hervorragende Stellung eingenommen hatten.
Die Familie Hinsdale hatte hier übrigens noch ausgedehnte Besitztümer: Plantagen, Zuckermühlen und blühende Landgüter, die von einem Agenten, einem Herrn Edward Falkes, für ihre Rechnung verwaltet wurden. Falkes, der von der bevorstehenden Ankunft des jungen Erben der Hinsdales Nachricht erhalten hatte, sollte sich diesem auch für die ganze Zeit des Aufenthaltes zur Verfügung stellen.
Wir erwähnten schon, daß Harry Markel in der Dunkelheit nicht in den Hafen einlaufen wollte, und als eben das Wasser still stand und bevor die Ebbe sich bemerkbar machte, ging er in einer kleinen Bucht vor Anker, um nicht wieder weiter aufs Meer hinausgetragen zu werden.
Bei Tagesanbruch sah Harry Markel, daß er immer noch einige Stunden an derselben Stelle liegen bleiben müßte. Seit Mitternacht war die Luft nämlich ganz still geworden, und erst wenn die Sonne einige Grade über dem Horizonte stand, sprang voraussichtlich der Wind, dann aber aus Westen, wieder auf.
Sobald es einigermaßen heller war, erschienen aber alle, als erster Roger Hinsdale, als letzter Herr Patterson, auf dem Verdeck, um etwas frischere Luft als die in den Kabinen zu atmen. Es drängte sie auch, die Küstenlandschaft zu betrachten, die sie gestern im Abenddunkel nur unklar gesehen hatten.
War ihnen die Geschichte Sankta-Lucias noch nicht ordentlich bekannt, so lag das daran, daß sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit wie ihr Mentor auf Roger Hinsdale gehört hatten.
Übrigens unterschied sich die Geschichte von Sankta-Lucia nicht wesentlich von der der anderen Inseln Westindiens.
Schon früher von Karaïben bevölkert, die auf Sankta-Lucia sogar einigen Landbau trieben, wurde es von Christoph Columbus an einem Datum entdeckt, das ebensowenig genau bekannt ist wie das, an dem die ersten Kolonisten dort ankamen. Jedenfalls weiß man aber, daß die Spanier daselbst vor dem Jahre 1639 noch keine Niederlassung begründet hatten. Die Engländer waren nur achtzehn Monate – gegen Mitte des 17. Jahrhunderts – im Besitze der schönen Insel gewesen.[272]
Als die Karaïben von ihnen aber, wie erwähnt, nach Dominique übergeführt worden waren, empörten sich die Nachbarinseln. 1640 überfielen die wütenden Eingebornen die junge Kolonie. Die meisten Ansiedler wurden schonungslos ermordet, und dem Gemetzel entgingen nur die wenigen, denen es noch gelungen war, auf Schiffen zu entfliehen.
Zehn Jahre später ließen sich, unter Führung eines gewissen Rousselan, eines sehr entschlossenen Mannes, vierzig Franzosen auf Sankta-Lucia nieder. Rousselan heiratete sogar eine Indianerin; er verstand es, durch seine Intelligenz und Geschicklichkeit die Ein gebornen an sich zu fesseln und sicherte bis zu seinem nach vierzig Jahren erfolgten Ableben die Ruhe und Sicherheit des Landes.
Die ihm folgenden Kolonisten zeigten sich weniger geschickt. Durch unnütze Quälereien und manche Ungerechtigkeiten reizten sie die Karaïben zur Wiedervergeltung, und diese rächten sich durch Mordtaten und Plünderungen. Jetzt hielten die Engländer die Stunde für eine Einmischung für gekommen. Flibustier und Abenteurer aller Art überschwemmten Sankta-Lucia, das erst durch den Vertrag von Utrecht, durch den die Insel als neutral erklärt wurde, wieder Ruhe finden sollte.
»Ist denn seit dieser Zeit, fragte Niels Harboe, Sankta-Lucia immer im Besitz der Engländer gewesen?
– Ja und nein, antwortete Roger Hinsdale.
– Ich sage nein, erklärte Louis Clodion, der alles gelesen hatte, was die Antilleninsel betraf, die der »Alert« jetzt anlaufen sollte. Nein, denn nach dem Vertrage von Utrecht wurde sie dem Marschall d'Estrées überlassen, der 1718 Truppen dahin sandte, um die französische Kolonie zu schützen.
– Ganz recht, erwiderte Roger Hinsdale, doch auf den Einspruch Englands wurde diese Konzession zu Gunsten des Herzogs de Montagne zurückgezogen.
– Jawohl, entgegnete Louis Clodion, doch auf den weitern Einspruch Frankreichs wurde auch diese Konzession bald widerrufen...
– Aber ohne Wirkung, da die englischen Kolonisten doch am Platze blieben.
– Und wenn sie da blieben, ist es doch nicht minder wahr, daß die unbeschränkte Oberherrschaft über die Kolonie durch den Pariser Vertrag von 1763 nun Frankreich zugesprochen wurde.«[275]
So war es in der Tat, und Roger Hinsdale mußte das, trotz des Eifers bei Verfechtung seiner Sache, auch unumwunden zugeben. In der nun folgenden Zeit sah Sankta-Lucia seine Entwicklung mit der Zahl der durch die benachbarten Kolonisten von Grenada, Sankt-Vincent und Martinique begründeten Ansiedlungen im gleichen Verhältnis zunehmen. Im Jahre 1709 hatte die Insel mit Einschluß der Sklaven dreizehnhundert Einwohner gehabt, 1772 zählte sie deren aber fünfzehntausend.
Leider blieb Sankta-Lucia aber immer noch ein Gegenstand des Streites zwischen den Mächten, die es zu besitzen trachteten, und Roger Hinsdale konnte hinzufügen:
»Im Jahre 1779 wurde die Insel dann von dem General Abercrombie eingenommen und fiel damit in den Besitz Englands zurück.
– Das weiß ich, antwortete Louis Clodion, der nun auch etwas wärmer wurde, der Vertrag von 1783 überließ sie aber Frankreich von neuem.
– Um 1794 wieder englisch zu werden, erklärte Roger Hinsdale, der auf jedes Datum schnell eine Antwort zur Hand hatte.
– Nicht dich werfen lassen, Louis, fiel jetzt Tony Renault ein, sag' uns, daß Sankta-Lucia die französische Flagge nochmals über sich wehen gesehen hat...
– Gewiß, Tony, da es 1802 wiederum französische Kolonie wurde.
– Doch nicht für lange Zeit, erklärte Roger Hinsdale. Beim Bruche des Friedens von Amiens im Jahre 1803 wurde es an England zurückgegeben, und diesmal endgültig, das dürft ihr glauben...
– Oho... endgültig! rief Tony Renault mit etwas höhnischer Gebärde.
– Jawohl... endgültig, Tony, antwortete Roger Hinsdale, bemüht, alle mögliche Ironie in seine Worte zu legen, oder hättest du vielleicht die Kühnheit, sie für dich allein zu beanspruchen?
– Warum denn nicht?« erwiderte Tony Renault, wobei er sich mit angenommenem Siegerstolz emporrichtete.
Niels Harboe, Axel Wickborn und Albertus Leuwen hatten natürlich gar kein besonderes Interesse an diesem Wortgeplänkel zwischen Engländern und Franzosen. Weder Dänemark noch Holland hatte je einen Teil der vielumstrittenen Insel beansprucht. Vielleicht hätte Magnus Anders diese aber vereinigt gefunden, wenn er sie für Schweden in Anspruch nahm, das nicht einmal das kleinste Eiland im ganzen Archipel besaß.[276]
Da die Auseinandersetzung jedoch ernster zu werden drohte, mischte sich Patterson mit einem ganz angebrachten Quos ego! ein und fuhr dann milderen Tones fort:
»Nur gemach, meine jungen Freunde! Wollt ihr denn miteinander Krieg führen?... Einen Krieg diese Geißel des Menschengeschlechts... einen Krieg... Bella matribus detestata, was übersetzt bedeutet...
– In gutem Französisch, rief Tony Renault, ›abscheuliche Schwiegermütter‹!1
Die ganze junge Gesellschaft brach in lautes Lachen aus, während der Mentor das Gesicht mit den Händen bedeckte.
Der kleine Zwist schloß mit einem Händedrucke, von seiten Roger Hinsdales zwar etwas widerwillig von Louis Clodion dagegen freimütig erwidert. Dann wurde zwischen den beiden Nationen noch ausgemacht, daß Tony Renault jeden Versuch unterlassen werde, Sankta-Lucia der britischen Oberhoheit zu entreißen. Louis Clodion durfte aber noch bei seiner Behauptung bleiben, und die Passagiere des »Alert« sollten bald de visu und de auditu bestätigt finden – daß Sankta-Lucia, wenn jetzt auch die britische Flagge darüber weht, doch in unzerstörbarer Weise in Sitten, Traditionen und in seiner ganzen Lebensführung französisch geblieben ist. Nach der Ausschiffung an Sankta-Lucia konnten Louis Clodion und Tony Renault mit vollem Rechte glauben, sie befänden sich noch auf la Désirade, auf Guadeloupe oder auf Martinique.
Etwas vor neun Uhr erhob sich der Wind, und kam, wie Harry Markel vermutet hatte, von der offenen See her. Obwohl es sich in diesem Falle um die Westseite handelte, trifft diese Bezeichnung doch zu, da Sankta-Lucia weder nach Morgen noch nach Abend hin ge deckt liegt. Zwischen dem Antillenmeere und dem Atlantischen Ozean völlig vereinzelt aufragend, ist es von beiden Seiten der Gewalt des Windes und des Seeganges gleichmäßig ausgesetzt.
Auf dem »Alert« wurden nun sofort alle Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen. Als der Anker auf seinem Kranbalken lag, machte der »Alert« mit dem großen Mars-, dem Fock- und dem Leesegel wieder Fahrt, verließ seinen Ankerplatz und schwenkte bald um eine der Landspitzen, die den Hafen von Castries abschließen.[279]
Dieser Hafen führt auch den Namen Carénage (Platz zum Kielholen) und ist einer der besten in der antillanischen Inselgruppe. Das erklärt auch den zähen Wettbewerb Frankreichs und Englands, sich dessen Besitz zu sichern. Jener Zeit war man damit beschäftigt, die Kaimauern zu vollenden und Rampen und Brücken auszubauen, um allen Bedürfnissen des Schiffsverkehres zu genügen. Unzweifelhaft steht Carénage auch noch eine große Zukunft bevor. Hier versorgen sich die Dampfer mit der nötigen, aus England stammenden Steinkohle aus geräumigen Niederlagen, die von Schiffen des Vereinigten Königreichs stets gefüllt erhalten werden.
Erreicht die Ausdehnung Sankta-Lucias auch nicht die der größten von den Inseln Vor dem Winde, so umfaßt es doch nicht weniger als sechshundertvierzehn Quadratkilometer und hat eine Bevölkerung von fünfundvierzigtausend Köpfen, wovon fünftausend auf seine Hauptstadt Castries kommen.
Roger Hinsdale hätte es natürlich sehr gern gesehen, wenn hier ein längerer Aufenthalt als auf den schon besuchten Antillen möglich gewesen wäre, da er seinen Kameraden gern alle Einzelheiten der Insel gezeigt hätte. Der Reiseplan gestand ihm jedoch nur drei Tage zu, und darein mußte er sich wohl oder übel fügen.
Hier befand sich ja auch kein Mitglied der Familie Hinsdale mehr, welche schon längere Zeit in London wohnte. Immerhin waren ihre Besitzungen hier von recht ansehnlicher Größe, und Roger erschien jetzt etwa wie ein junger Landlord, der einmal seine Güter besucht.
Als der »Alert« gegen zehn Uhr im Carénage Anker geworfen hatte, ließen sich Roger Hinsdale und seine Kameraden, begleitet von Herrn Patterson, ans Land setzen.
Die Stadt mit ihren geräumigen freien Plätzen, ihren breiten Straßen und dem in dem glühenden Klima der Antillen so erwünschten Reichtum an schattenspendenden Bäumen, machte auf alle einen recht günstigen Eindruck, jedenfalls aber auch den schon früher erwähnten, daß sie mehr in einem französischen als in einem englischen Gemeinwesen zu sein glaubten.
»Ganz entschieden: hier sind wir in Frankreich!« rief Tony Renault erfreut, eine Bemerkung, die Roger Hinsdale freilich mit einer gewissen Mißachtung hinnahm.
Die Passagiere waren an der Landungsstelle von dem Agenten empfangen worden, der sie bei ihren Ausflügen führen sollte. Edward Falkes unterließ es gewiß nicht, ihnen die prächtigen Besitzungen der Familie im besten Lichte zu zeigen, vorzüglich die weitberühmten Zuckerrohrfelder von Sankta-Lucia, deren Erzeugnis sich recht gut mit dem von Saint-Christophe messen kann, wo der beste Zucker von ganz Antillen gewonnen wird.
In der Kolonie sind die Weißen nur schwach, kaum durch tausend Köpfe vertreten. Die Farbigen und die Neger bilden die große Mehrheit, und ihre Zahl ist nach der Auflassung des Panamakanals, wodurch sie arbeitslos wurden, ganz besonders angeschwollen.
Die frühere Wohnstätte der Hinsdaleschen Familie, die auch Herr Falkes jetzt inne hatte, war groß und bequem eingerichtet. Am Ende der Stadt gelegen, konnte sie die Passagiere des »Alert« recht gut aufnehmen. Roger, der darauf bestand, hier den Wirt zu spielen, lud diese denn auch ein, sich für die Dauer des Aufenthalts daselbst einzuquartieren. Jeder würde dort sein eigenes, Herr Patterson natürlich das beste Zimmer erhalten. Selbstverständlich sollten die Mahlzeiten gemeinschaftlich im großen Speisesaale eingenommen werden und die Equipagen des Hauses den Touristen zur Verfügung stehen.
Roger Hinsdales Anerbieten wurde freudigst angenommen, denn trotz seines originellen Hochmutes war der junge Engländer freundlich und dienstwillig, wenn er auch seinen Kameraden gegenüber immer mit einer gewissen Prahlerei austrat.
Eine Empfindung von Eifersucht erfüllte ihn eigentlich nur gegen Louis Clodion. Auch in der Antilian School suchten sich die beiden die ersten Plätze streitig zu machen. Bekanntlich nahmen sie ja auch bei dem Wettbewerb um die Reisestipendien die Spitze ein in einem »toten Rennen«, wie man auf den Rennplätzen sagt, ex äquo – sagte Tony Renault – was er mit den Worten »dasselbe Pferd« übersetzte, indem er ein gewagtes Wortspiel mit equus und æquus zum Entsetzen des empfindsamen Mentors bildete.
Gleich am ersten Tage begannen schon die Ausflüge quer durch die Pflanzungen. Die prächtigen Wälder der Insel – einer der gesündesten der Antillen – bedecken nicht weniger als vier Fünftel ihrer Oberfläche. Zunächst wurde der zweihundertvierunddreißig Meter hohe Berg Fortuné bestiegen, auf dessen Gipfel man Kasernen erbaut hat, dann die Hügel Asabot und Chazeau – offenbar französische Namen – worauf das Sanatorium sich erhebt. Weiter im Landesinnern besuchten die Touristen die Aiguilles de Sainte-Alousie, die Krater erloschener Vulkane, die aber doch noch wieder tätig werden könnten denn das Wasser mehrerer nahe gelegener Teiche bleibt immer siedend heiß.[283]
Am Abend nach der Rückkehr in die Wohnung wandte sich Roger Hinsdale an Herrn Patterson.
»Auf Sankta-Lucia, sagte er, muß man sich ebenso wie auf Martinique vor den Trigonocephalen hüten. Unsere Insel beherbergt auch Schlangen, und darunter recht gefährliche....
– O, ich fürchte mich vor keiner mehr, erklärte Patterson, sich stolz aufrichtend, und ich werde die meinige während unseres hiesigen Aufenthaltes noch ausstopfen lassen.
– Ganz recht... tun Sie das!« antwortete Louis Clodion, der nur mit Mühe den nötigen Ernst bewahren konnte.
Am nächsten Tage ließ er Falkes auch das schreckliche Reptil zu einem Naturalienhändler schaffen, dem Tony Renault lachend auseinandersetzte, um was es sich bei der Sache handle. Die Schlange wäre ja bereits, wahrscheinlich schon seit Jahren, ausgestopft gewesen, man habe das Herrn Patterson nur nicht verraten wollen. Am Tage vor der Abfahrt sollte der Händler die Schlange nur im gleichen Zustande wieder an Bord des »Alert« abliefern.
Ehe sich Patterson an demselben Abend niederlegte, schrieb er noch einen Brief an seine Gattin. Daß ihm dabei sehr zahlreiche Citate von Horaz, Virgil oder Ovid aus der Feder flossen, wird wohl niemand wundernehmen; die vortreffliche Frau war ja an dergleichen schon gewöhnt.
Der Brief, der am nächsten Tage mit dem Postdampfer nach Europa abgehen sollte, enthielt eine peinlich genaue Schilderung aller Einzelheiten dieser wunderbaren Reise. Patterson berichtete darin, eingehender als in seinem frühern Schreiben, über die geringfügigsten Vorfälle, die er mit seinen eigenen Gedanken darüber schmückte. Er erzählte breit, wie glücklich die Überfahrt vom Vereinigten Königreich nach Westindien verlaufen und wie gut es ihm gelungen sei, die Seekrankheit mit Hilfe der Kirschkerne zu überwinden, die sie ihm vorsorglich in so großer Menge mitgegeben habe. Er sprach davon, wie ehrenvoll und freundlich die Reisegesellschaft in Sankt-Thomas, Sainte-Croix, Sankt-Martin, in Antigoa, Guadeloupe, Dominica, Martinique und Sankta-Lucia aufgenommen worden sei, und daß sie ohne Zweifel von der freigebigen, großherzigen Mistreß Kathlen Seymour auf Barbados dasselbe zu erwarten hätten. Er vermute auch mit Zuversicht, daß die Heimreise unter denselben günstigen Umständen verlaufen werde. Kollisionen... ein Schiffbruch... nein, dergleichen wäre nicht zu befürchten. Der Atlantische Ozean werde gegen die Passagiere des »Alert« freundlich[284] sein, und aus den Schläuchen des Äolus würden keine Stürme hervorbrechen, sie zu überfallen. Frau Patterson brauche also das Testament nicht zu öffnen, das ihr Gatte vor der Abreise habe geglaubt aufsetzen zu sollen, noch von den übrigen vorsorglichen Bestimmungen Gebrauch zu machen, die für den Fall einer ewigen Trennung zwischen ihnen vereinbart worden wären. Welche das waren, wußte freilich nur das originelle Ehepaar allein.
Weiter erzählte Patterson von dem großen Ausfluge nach der Landenge von Martinique, von dem Auftauchen der Trigonocephale zwischen den Zweigen eines Baumes, von dem kräftigen Schlage, den er gegen das Ungeheuer geführt habe, gegen das monstrum horrendum, informe, ingens, cui er zwar nicht das Lebenslicht, aber das Leben ausgeblasen habe. Jetzt sei es ausgestopft, trotz seiner glühenden Augen, dem offenen Maule und der herausragenden zweispitzigen Schlangenzunge freilich nicht mehr gefährlich. Wie großartig würde sich das prächtige Reptil erst ausnehmen, wenn es in der Bibliothek der Antilian School an einem geeigneten Platze untergebracht wäre!
Hierzu sei in Parenthese bemerkt, daß das Geheimnis dieser Schlangengeschichte niemals gelüstet werden sollte. Selbst Tony Renault hatte sich dazu verpflichtet, obwohl ihn das Verlangen, alles auszuplaudern, mehr als einmal anwandelte. Doch nein: der Ruhm des furchtlosen Mentors, den er sich bei jenem denkwürdigen Vorfalle erworben hatte... dieser Ruhm sollte ungeschmälert bleiben. Patterson beschloß seinen langen Brief mit einem wohlberechtigten und tiefempfundenen Lobspruche auf den Kapitän und die Mannschaft des »Alert«. Des vortrefflichen Steward, der den Dienst in der Kajüte verrichte, könne er nur rühmend gedenken und er beabsichtige, den Mann für seine Aufmerksamkeit später noch reichlich zu belohnen. Den Kapitän Paxton betreffend, habe wohl noch kein Schiffsführer, weder in der Handels- noch in der Kriegsflotte, so wie er verdient, Dominus secundum Déum – der Zweite nach Gott – genannt zu werden. Schließlich unterzeichnete Patterson, nach der warmen Versicherung unentwegter Gattenliebe, den Brief mit seinem Namen und höchst kunstvollen Schnörkeln, die das hervorragende kalligraphische Talent des würdigen Mannes erkennen ließen.
Erst am folgenden Tage sollten die Touristen früh acht Uhr an Bord zurückkehren. Sie verbrachten also auch die letzte Nacht in der schönen Wohnung, wo Roger Hinsdale bis zum letzten Augenblick sich bemühte, ihnen den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen.[285]
Einige Freunde des Herrn Edward Falkes waren mit zum Abendessen geladen worden, wo jeder gewohnheitsmäßig, nach einem Toaste auf jeden Anwesenden, sein Glas noch auf das Wohlergehen der Mistreß Kathlen Seymour leerte. Nach wenigen Tagen sollten die Stipendiaten nun die Bekanntschaft dieser großen Dame gemacht haben. Barbados lag ja nicht mehr fern... Barbados, der letzte Ruhepunkt in den Antillen, dessen sich die Preisträger gewiß ihr Leben lang erinnern würden.
Am Nachmittage dieses letzten Tages ereignete sich aber ein so ernster Zwischenfall, daß die Mannschaft des Dreimasters befürchten mußte, ihr verbrecherisches Vorhaben kurz vor dessen Ausführung scheitern zu sehen.
Harry Markel ließ von seinen Leuten bekanntlich niemand ans Land gehen, außer wenn es sich um die Deckung der nötigsten Bedürfnisse handelte. Schon die einfachste Klugheit zwang ihn ja zu dieser Maßregel.
Gegen drei Uhr an diesem Tage mußte nun eine Lieferung frischen Fleisches und verschiedener Gemüse abgenommen werden, die Ranyah Cogh auf dem Markte in Castries gekauft hatte.
Harry Markel ließ also ein Boot klar machen, das den Koch nebst einem Matrosen namens Morden an den Kai bringen sollte.
Das Boot stieß ab, und wenige Minuten darauf legte es wieder am Hinterteil des »Alert« an.
Um vier Uhr, als der Bootsmann es wieder an den Kai geschickt hatte, waren schon vierzig Minuten vergangen.
Das beunruhigte John Carpenter und Corty nicht weniger als Harry Markel selbst. Was mochte geschehen sein?... Warum diese Verzögerung?... Sollten Mitteilungen aus Europa eingetroffen sein, die vielleicht einen Verdacht gegen den Kapitän und die Mannschaft des »Alert« erweckten?
Endlich, kurz vor fünf Uhr, sah man das Boot wieder auf das Schiff zusteuern. Doch bevor es noch angelegt hatte, rief Corty:
»Ranyah kommt allein zurück!... Morden ist nicht bei ihm!
– Wo könnte der stecken? fragte John Carpenter.
– Nun, doch in einer Schenke, wo er schwer betrunken liegen wird, meinte Corty.
– Ranyah hätte ihn aber auf jeden Fall mitbringen müssen, sagte Harry Markel. Dieser verwünschte Morden ist imstande, in seinem Brandy- oder Ginrausche mehr auszuplaudern, als für uns gut ist!«[286]
Das mochte wohl der Grund des Ausbleibens sein, und der wurde auch durch Ranyahs Aussage vollkommen bestätigt. Während dieser mit seinen Einkäufen auf dem Markte der Stadt beschäftigt war, hatte sich Morden ohne ein Wort zu sagen entfernt. Dabei war er, seiner Trunksucht, die er an Bord nicht befriedigen konnte, folgend, natürlich in der ersten besten Schenke gestrandet. Der Koch hatte sich dann bemüht, seinen Begleiter zu finden, doch vergeblich die Schankstätten des Hafenviertels abgesucht. Es war ihm eben unmöglich gewesen, des verwünschten Morden habhaft zu werden, den er andernfalls am Boden des Canots festgebunden hätte.
»Wir müssen ihn aber um jeden Preis wiederfinden, rief John Carpenter. – In Sankta-Lucia darf er unbedingt nicht zurückbleiben! Er würde schwätzen! In der Trunkenheit weiß er nicht mehr, was er sagt, und dann hätten wir gewiß bald einen Aviso hinter uns her!«
Diese Befürchtungen waren nur allzu gut begründet, und noch niemals war Harry Markel von so großer Gefahr bedroht gewesen.
Das erklärte also die Notwendigkeit, Morden wieder herbeizuschaffen. Der Kapitän hatte nicht nur das Recht, sondern sogar auch die Pflicht, ihn wieder aufs Schiff zu bringen. Er konnte doch keinen Mann von seinen Leuten an der Küste lassen, und auch die Polizei mußte ihn nach Feststellung seiner Persönlichkeit ausliefern... wenigstens wenn er nicht allzu verdächtiges Zeug geschwatzt hatte.
Harry Markel wollte sich schon ans Land begeben, um bei der Hafenpolizei nach dem entwichenen Matrosen zu forschen, als ein Boot auf den »Alert« zukam.
Im Carénage gab es zur Zeit ein Stationsschiff, dem die Handhabung der Hafenpolizei oblag.
Eines von dessen Booten war es, das sich, besetzt mit einem halben Dutzend Ruderern und einem Offizier, jetzt rasch näherte. Als es nur noch eine halbe Kabellänge entfernt war, rief Corty schon:
»Morden ist mit darin!«
Der Mann hatte recht gesehen. Nachdem er vom Koch fortgelaufen war, hatte er sich in einer Schenke letzter Klasse festgesetzt. Dort schwer betrunken aufgefunden, hatte man ihn mitgenommen, und ein Boot des Stationsschiffes brachte ihn nun nach dem »Alert«, auf dessen Deck man ihn mit einer Talje hissen mußte.
Der Offizier begab sich sofort auf das Schiff.
»Herr Kapitän Paxton? fragte er.
– Der bin ich, mein Herr, antwortete Harry Markel.
– Ist dieser Betrunkene einer von Ihren Matrosen?
– Ja freilich; ich wollte ihn schon reklamieren, da wir morgen weitersegeln.[287]
– Nun, Sie sehen, ich habe ihn Ihnen zurückgebracht... doch in welchem Zustande...
– Er wird seine Strafe erhalten, versicherte Harry Markel.
– Ja ja, schon gut. Doch eine Frage, Kapitän Paxton, fuhr der Offizier fort. In seiner Trunkenheit sind dem Manne verschiedene unzusammenhängende Worte entschlüpft. Er sprach von Fahrten auf dem Großen Ozean, von dem ›Halifax‹, dem Räuberschiffe, von dem in den letzten Monaten so viel die Rede war, ebenso wie von jenem Harry Markel, der es befehligte und von dessen Flucht aus dem Gefängnisse in Queenstown wir gehört haben.«
Man kann sich wohl vorstellen, welche Anstrengung es bei diesen Worten Harry Markel kostete, sich dem Offizier gegenüber auch nicht durch das Zucken[288] einer Muskelfaser zu verraten. John Carpenter und Corty, die sich weniger beherrschen konnten hatten gleich das Gesicht abgewendet und sich langsam entfernt. Glücklicherweise bemerkte der Offizier ihre Unruhe nicht, sondern begnügte sich zu fragen:
»Nun, sagen Sie mir, Kapitän Paxton, was hat das zu bedeuten?
– Ja, mir fehlt dafür jede Erklärung, Herr Leutnant, antwortete Harry Markel. Der Morden ist ein Trunkenbold, und wenn er des Guten etwas zu viel getan hat, weiß kein Mensch, was ihm durch den Kopf gehen mag.[289]
– Er ist also gar nicht an Bord des ›Halifax‹ gefahren?
– Nein, wenigstens ist er schon seit zehn Jahren bei mir gewesen und hat alle Meere mit mir befahren.
– Warum mag er dann aber von jenem Harry Markel gesprochen haben? fragte der Offizier weiter.
– O, die Geschichte mit dem ›Halifax‹ machte doch großes Aufsehen, Herr Leutnant. Man sprach auch gerade von dem Entweichen der Verbrecher, als wir Queenstown verließen. An Bord war häufig davon die Rede... das wird ihm im Gedächtnis haften geblieben sein, anders kann ich mir das törichte Geschwätz des Trunkenbolds wenigstens nicht erklären.«
Alles in allem konnte in dem Offizier nichts den Verdacht erwecken, daß er hier jenem Harry Markel gegenüberstände, ebensowenig, daß die Mannschaft nicht die des Kapitäns Paxton wäre. Er schloß das Gespräch also mit der Frage:
»Was werden Sie mit diesem Matrosen beginnen?
– Ich werde ihn acht Tage lang in den Frachtraum sperren, das wird ihn schon nüchtern machen. Und wenn ich nicht gerade etwas Mangel an Leuten hätte – einen Mann hab' ich in der Bai von Cork durch Ertrinken verloren – so würde ich Morden in Sankta-Lucia fortgejagt haben. Leider wär' es mir nur unmöglich gewesen, ihn zu ersetzen.
– Wann erwarten Sie denn Ihre Passagiere, Kapitän Paxton?
– Morgen früh, denn wir wollen mit der Flut in See gehen.
– Dann: Glückliche Reise!
– Ich danke Ihnen, Herr Leutnant.«
Der Offizier hatte im Boote wieder Platz genommen, und dieses entfernte sich in der Richtung nach dem Stationsschiffe.
Morden, der nichts hörte oder in seinem trunkenen Zustande doch nichts verstand, wurde mit rohen Fußtritten in den Frachtraum hinuntergestoßen; hatte er doch beinahe alles verraten, als er vom »Halifax« und von Harry Markel gefaselt hatte.
»Mir läuft noch der kalte Schweiß herunter, sagte Corty, indem er sich die Stirne abwischte.
– Harry, ließ John Carpenter sich vernehmen, wir sollten lieber noch heute Nacht abfahren, ohne die Passagiere zu erwarten. Hier in den vermaledeiten Antillen ist der Boden für uns zu heiß![290]
– Und wenn wir uns wegstehlen, wendete Harry Markel dagegen ein, da wird man ja verstehen lernen, was Morden geschwatzt hat. Dann wäre alles verloren, und das Stationsschiff würde sich sofort zu unserer Verfolgung aufmachen. Wenn's euch Spaß macht, gehängt zu werden... meinetwegen... mir nicht... ich bleibe hier!«
Am nächsten Morgen hatten sich die Passagiere um acht Uhr an Bord eingefunden. Es schien nutzlos, sie mit dem gestrigen Vorfall bekannt zu machen. Daß sich einer der Matrosen betrunken hatte, war ja ohne Bedeutung.
Bald lag der Anker an Deck, die Segel waren gehißt und der »Alert« glitt aus dem Hafen von Castries hinaus und schlug seinen Kurs nach Süden ein.
1 Ein nicht zu verdeutschendes Wortspiel nach dem ähnlichen Wortklange Bella matribus, da die Schwiegermutter französisch La belle-mère heißt.
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